Das Bahrrecht

»Nun geht, Graf Otto! Zum drittenmal
Erduldetet ihr die Folterqual
Und habt sie, wie keiner, bestanden.
Wohlan denn! Reinigt Euch ganz vom Verdacht,
Als hättet den Ohm Ihr umgebracht
Aus Gier nach Schätzen und Landen!
Drei Stunden harret mit festem Mut
Allein an der Bahre, darauf er ruht;
Entquillt den Wunden alsdann kein Blut,
So lösen wir Euch aus den Banden.«
Drauf Otto: »Ich scheue die Probe nicht;
Kommt, daß ich allen wie Sonnenlicht
So klar meine Unschuld mache!«
Er spricht's; ihn führen die Schöffen den Gang
Zur Totenkammer schweigend entlang;
Durch die Thür ein läßt ihn die Wache.
Davor wird wieder gewälzt der Stein,
Und der Graf bei flimmerndem Lampenschein
Bleibt mit des Herzogs Leiche allein
Im schwarzbehängten Gemache.
[296]
Da liegt der Greis, der einst ihn erzog
Und mild des verwaisten Knappen pflog,
Da liegt er vor ihm auf der Bahre;
Sein Antlitz, drauf einst Liebe wie Haß
So mächtig geflammt, nun welk und blaß,
Umflossen vom weißen Haare.
Graf Otto steht in Sinnen versenkt;
Nicht mehr, wie schwer ihn der Tote gekränkt,
Als er ihm die Tochter versagt, nun denkt
Er nur an die glücklichen Jahre;
Denkt, wie er zuerst mit Schwert und Schild
Zur Seite des Ohms aufs Schlachtgefild
Gesprengt durch das Waffengeblitze;
Und wie, als er selber im Kampfe verzagt,
Sein eigenes Leben der Herzog gewagt,
Damit er den Knappen beschütze.
Er denkt es; ihm deckt die Augen ein Flor;
Blut, glaubt er, quill' aus den Wunden hervor,
Das, Gottes Rache heischend, empor
Zur Wölbung der Kammer spritze.
Noch steht in stummem Starren der Graf;
Da ist ihm, als säh' er vom Todesschlaf
Den Greis sich langsam erheben,
Als schlag' er die Augenlider zurück
Und schau' ihn an mit dem alten Blick,
Nur finsterer als im Leben.
Graf Otto taumelt zurück mit Graun;
Er wankt, doch kann er hinweg nicht schaun;
Kalt auf die Stirne fühlt er es taun
Und den Boden unter sich beben.
An der Bahre liegt er dahingestreckt,
Als Stimmenruf aus dem Starren ihn weckt;
[297]
Schon sind verronnen die Stunden.
Die Richter treten in das Gemach
Und forschen nach Sitte des Bahrrechts nach,
Ob Blut entquollen den Wunden.
Sie rufen: »Glückauf! Kein Tropfen floß!
Glückauf, Graf Otto, besteigt Eur Roß;
In Frieden kehrt heim nach Windeckschloß!
Unschuldig seid Ihr befunden.«
Wohl hört der Verklagte der Richter Wort;
Stumm aber liegt er fort und fort
Zu des schweigenden Klägers Füßen;
Glückwünschend strömen die Diener herbei:
»Was zögert Ihr, Herr? Ihr seid nun frei!«
Doch achtet er nicht ihr Grüßen.
Auf springt er und ruft, aus dem Brüten erwacht:
»Ich habe den Oheim umgebracht
Und heische das eine: noch diese Nacht
Die Strafe des Mordes zu büßen.«

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TextGrid Repository (2012). Schack, Adolf Friedrich von. Gedichte. Gedichte. 3. Romanzen und Balladen. Das Bahrrecht. Das Bahrrecht. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-B740-F