14. Die zertanzten Schuhe.

Ein König hatte sechs Töchter, die verschwanden in jeder Nacht aus ihren Betten, ohne daß man wuste, wohin sie gingen, und immer, wenn sie zurückkamen, waren die Sohlen von den Schuhen. Der König gab sich alle erdenkliche Mühe die Sache herauszubringen, aber alles war umsonst. Da ließ er bekannt machen, wer ihm sage, wohin sich Nachts seine Töchter begäben, der solle sich eine von ihnen zur Gemahlin wählen. Das hörte auch ein Bauer und versank über den Gedanken, daß er eine der Prinzessinnen gewinnen könnte, in tiefes Nachdenken, so daß er mit der Zeit ganz schwermüthig geworden war. Als er nun einst ganz betrübt seines Weges ging, begegnete ihm ein Zwerg. [283] Dieser fragte ihn, warum er so betrübt sei. Der Bauer wollte zuerst gar nicht antworten und meinte, er könne ihm doch nicht helfen, aber der Zwerg antwortete, das könne man nicht wissen, er möge es ihm nur sagen. Da erzählte er denn, was der König habe bekannt machen lassen, und wie er darüber ganz unglücklich sei, daß er die Sache nicht herausbringen könne. Der Zwerg sagte darauf, er möge nur vor die Stadt auf eine Wiese gehn, die er ihm näher bezeichnete, da stehe ein Waschhaus und darin ein Bett. In dieses Bett solle er sich nur legen und so thun, als liege er im festen Schlafe; auch solle er eine Flasche mit Branntewein neben sich legen, so daß es schiene, als habe er sich betrunken; trinken dürfe er aber bei Leibe nicht, vielmehr müsse er sorgfältig auf alles achten, was die Königstöchter thäten und genau dasselbe thun. Der Bauer begab sich nach dem bezeichneten Hause und that genau so, wie ihm gesagt war. Nachts um elf Uhr erschienen auch die Königstöchter und rüttelten ihn tüchtig, um sich zu überzeugen, ob er schliefe. Als er sich nun nicht rührte und nicht regte, öffneten sie eine Fallthür, die er vorher gar nicht gesehen hatte, und stiegen durch diese hinab. Nun sprang auch der Bauer rasch auf und stieg ihnen nach. Sobald er die Treppe betrat, wurde er unsichtbar, so daß die vorangehenden Königstöchter ihn nicht bemerken konnten. Sie kamen bald in einen wunderschönen Baumgang. Als sie eine Strecke darin fortgegangen waren, stand da ein Birnbaum am Wege, der lauter goldene Birnen trug, von welchen der Bauer eine abpflückte. Sobald als das geschehen war, entstand ein lauter Knall. Die Königstöchter hörten das, wurden sehr ängstlich und fürchteten schon, daß der Bauer in dem Bette ihnen gefolgt sei; doch als sie nichts sahen, gingen sie weiter. Sie kamen dann an einen breiten Fluß, an dessen Ufer ein Kahn lag. In diesen setzten sich die sechs Königstöchter, und der Bauer stieg ungesehen mit ein. Auf der anderen Seite des Flusses stand ein prächtiges Schloß; in dieses traten sie ein und gelangten in einen großen Saal, dessen Fußboden aus goldenen Hechelnzacken bestand. In dem Saale erwarteten sechs verwünschte Prinzen die Prinzessinnen schon und fingen alsbald mit ihnen zu tanzen an. Während sie tanzten, brach der Bauer eine der goldenen Hechelnzacken aus, und wiederum entstand ein lauter Knall. Abermals wurden die Prinzessinnen ängstlich; doch als sie nichts sahen, beruhigten sie sich [284] wieder. Nachdem sie die Stunde von elf bis zwölf Uhr hindurch getanzt hatten, machten sie sich eilig auf den Rückweg, stiegen in den Kahn und fuhren über den Fluß zurück. Der Bauer der wieder mit eingestiegen war, eilte voran, legte sich wieder in das Bett und that, als wenn er fest schliefe. Auch die Königstöchter legten sich, als sie im Schlosse wieder angekommen waren, in ihre Betten und schliefen. Am anderen Tage begab sich der Bauer zum Könige und sagte, jetzt wolle er ihm mittheilen, wohin seine Töchter in jeder Nacht gingen, und erzählte ihm dann alles. Der König ließ nun seine Töchter einzeln vor sich kommen und fragte sie, ob das wahr sei, was der Bauer angegeben habe, erst die älteste, dann die anderen, so wie sie auf einander folgten. Die fünf ältesten leugneten hartnäckig, worauf der König einer nach der anderen das Haupt abschlagen ließ. Nur die jüngste sagte, sie wolle alles gestehen. Schon fünf Jahre hätten sie mit den verwünschten Prinzen jede Nacht getanzt; hätten sie auch noch das sechste Jahr hindurch mit ihnen getanzt, so wären sie erlöst worden; auch wären sie erlöst worden, wenn sie sich, eben so wie ihre Schwestern, den Kopf hätte abschlagen lassen. Der Bauer erhielt nun die jüngste Prinzessin zur Gemahlin.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Schambach, Georg. Märchen und Sagen. Niedersächsische Sagen und Märchen. B. Märchen. 14. Die zertanzten Schuhe. 14. Die zertanzten Schuhe. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-BBA2-2