10. Die grüne Gans.

Es war einmal ein Mann und eine Frau, die hatten zwölf Kinder und nichts zu leben. Eines Tages war der Vater mit der ältesten Tochter in den Wald gegangen, um Holz zu holen, da kam eine Kutsche, mit zwei Pferden bespannt, mit großer Schnelligkeit daher gefahren und hielt dicht bei den beiden still. In der Kutsche saß eine grüne Jungfrau, die fragte den Mann, weshalb er so betrübt sei. Als er ihr seine Noth geklagt hatte, sagte sie: »willst du mir deine älteste Tochter geben, so sollst du alles in Ueberfluß haben und dein Keller soll stets mit Speise und Trank gefüllt sein. Deine Tochter wird auch gut bei mir aufgehoben sein, und du kannst sie später wieder bekommen. Besinne dich darauf und wenn du damit zufrieden bist, so bringe das Mädchen zu dem Baumstumpfe, der dort steht.« Dann fuhr [274] die Jungfrau wieder fort. Der Mann besann sich einige Zeit, beschloß aber zuletzt seine Tochter hinzugeben. Er brachte sie also an die bezeichnete Stelle und ließ sie auf den Baumstumpf steigen. Sogleich erschien die Kutsche wieder und die grüne Jungfrau befahl dem Mädchen einzusteigen. Als sie das gethan hatte, ging der Wagen wie im Fluge dahin und war bald aus den Augen des Mannes verschwunden.

Als der Mann wieder zu Hause gekommen war, sagte er zu seiner Frau, sie möchte Brot, Butter und Käse aus dem Keller holen und eine Flasche Wein dazu. Diese wuste nicht, was sie dazu sagen sollte, weil er aber darauf bestand, so ging sie in den Keller und fand dort alles in großer Fülle. Sie brachte das Verlangte herauf und fragte nun ihren Mann, wie das zuginge. Er erzählte ihr darauf, was ihm im Walde begegnet war. Von nun an hatten die beiden alles was sie nöthig hatten, in Menge und führten ein frohes Leben.

Das Mädchen aber fuhr mit der grünen Jungfrau mitten in den Wald hinein, bis sie an ein großes, prächtiges Schloß kamen, vor welchem die Kutsche still hielt. Sie stiegen aus und gingen hinein. In dem Schlosse waren viele, viele Zimmer, zu welchen die grüne Jungfrau dem Mädchen die Schlüssel gab und sagte: »diese Zimmer hast du jeden Tag auszukehren und die Betten, die darin sind, zu machen; aber ein Zimmer, zu dem ich dir auch den Schlüssel gebe, darfst du in den sieben Jahren, welche du bei mir bleiben must, nicht öffnen.« Darauf ging die grüne Jungfrau fort. Das Mädchen blieb nun in dem Schlosse allein, kehrte alle Morgen die Zimmer und machte die darin befindlichen Betten, ohne das verbotene Zimmer zu öffnen. So waren schon sechs Jahre verstrichen, als ihr eines Tages in den Sinn kam, doch auch einmal zu sehen, was in dem ihr verbotenen Zimmer wäre. Sie öffnete die Thür und sah nun in dem Zimmer einen großen Teich; auf dem Teiche schwamm eine grüne Gans, welche die grüne Jungfrau war. Als diese sich bemerkt sah, that sie einen lauten Schrei und verschwand. Das Mädchen verließ sogleich das Zimmer und bereute ihre Neugierde sehr. Darauf kam die grüne Jungfrau zu ihr, machte ihr über ihren Ungehorsam bittere Vorwürfe und sagte: nur noch ein Jahr hätte sie ihr Gebot treu befolgen müssen, dann wäre sie erlöst gewesen; nun aber könne erst in hundert Jahren wieder einer geboren werden, der [275] im Stande sei sie zu erlösen. Darauf stieg sie mit dem Mädchen in die Kutsche und brachte sie wieder zu dem Baumstumpfe, wo ihre Eltern sie zufällig bei einem Spaziergange fanden. Diese hatten aber von nun an wieder ihre frühere Noth.

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TextGrid Repository (2012). Schambach, Georg. Märchen und Sagen. Niedersächsische Sagen und Märchen. B. Märchen. 10. Die grüne Gans. 10. Die grüne Gans. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-BCE3-A