An Bürger

Es tönten die ersten zerstreuten Klänge
Des göttlichsten der Liebesgesänge
Von deinem Munde mir in's Ohr
Da lauscht' ich, wie an Aganippen
Auf jeden Hauch von Phöbus Lippen
Der hohen Pierinnen Chor.
Nun aber sollen, ihr ewigen Götter!
All' diese Töne, wie die Blätter
Der hochbegeisterten Jungfrau, verwehn?
Nein! sammle deines Geistes Stärke,
Um über deiner Jugend Werke
Hellglänzend dieses zu erhöhn!
O könnt' ich schweben auf Adlersschwingen!
Ich wollte zum hohen Olympus dringen,
Und Nektar dort entwenden für dich;
Ich wollte dich mit Nektar tränken,
Und Kraft in deine Adern senken,
Bis diese matte Kälte wich.
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Doch mir ward nichts als diese Leier,
Und in der Brust ein unsterbliches Feuer,
Das heiß für alles Schöne glüht.
Die Leier hab' ich dir gespielet,
Und habe bald mich stolz gefühlet;
Denn dir gefiel mein schüchtern Lied.
Sag', kann ein Ton von mir dich freuen?
So will ich alle Gesänge dir weihen,
Die meiner Leier verliehen sind.
Ich will, gelagert unter Rosen,
Von holden Abenteuern kosen,
Und preisen Venus goldenes Kind.
Und sind mir dann alle die Weisen gelungen,
Und haben die Saiten dann ausgeklungen,
Und ist mein Köcher ganz geleert:
Dann mußt auch du mit Orpheus-Händen
Die Saiten schlagen, das vollenden,
Wornach mein Sinn und Herz begehrt.
Dann werd' ich sinnend, voll Entzücken,
Nach deiner Dichterstirne blicken,
Und jeden Nachhall in mich ziehn.
Zerschmettern werd' ich meine Leier:
Doch meines Busens starkes Feuer
Soll, weil ich lebe, nie verglühn!

Notes
Erstdruck in: Göttinger Musenalmanach 1789.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Schlegel, August Wilhelm. An Bürger. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-D1F8-3