[294] An Sophia Müller, Schauspielerin des k.k. Hoftheaters in Wien, während ihrer Anwesenheit in Berlin

im Sommer 1827.

1.
Als Julia

Dem Genius des großen Britten
War ich begeistert nachgeschritten,
Da lockt' ich auf die deutsche Flur
Ein Echo seiner Worte nur.
Du hast den Worten Seel' und Leben,
Der Seel' ein sichtbar Bild gegeben:
Des Dichters zarte Julia
Steht hingezaubert vor uns da.
Sittsame Würd' und edle Sitte
Begleiten dich bei jedem Tritte,
Und fordern stille Huldigung
Bei feuriger Begeisterung.
Was ist dir lieber? – Beifallswellen,
Die rauschend an die Bühne schwellen?
Wie? oder was die Brust nur hegt,
Und unvergeßlich in sich trägt?

[295] 2.
Als Gabriele, in dem Schauspiele Valérie von Scribe

Seelenvolle Gabriele!
Dir erlosch der Augen Licht,
Doch der Spiegel deiner Seele
In den holden Zügen nicht.
Willst du heiter gleich erscheinen,
Lächelt milde gleich dein Mund:
Andre müßen um dich weinen,
Andern wird die Wehmuth kund;
Wenn die irren Sterne schweben
In der Wimpern Schattenkranz,
Und empor sich schmachtend heben –
Ach umsonst! – zum Himmelsglanz.
Euch dem Zauber zu entwinden,
Schlößt ihr auch die Augen zu:
Vor dem Bilde dieser Blinden
Fände doch das Herz nicht Ruh.
Denn der Stimme Silberlaute
Drängen durch den nächt'gen Flor,
Und von ihren Lippen thaute
Wonn' und Schmerz in euer Ohr.
Nur den Blinden und den Tauben
Ward der Sicherheit Gewinn.
Wollt ihr meiner Warnung glauben:
Blicket nicht, noch horchet hin!

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TextGrid Repository (2012). Schlegel, August Wilhelm. An Sophia Müller. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-D530-3