Friedrich Schlegel
Gespräch über die Poesie

[284] Alle Gemüter, die sie lieben, befreundet und bindet Poesie mit unauflöslichen Banden. Mögen sie sonst im eignen Leben das Verschiedenste suchen, einer gänzlich verachten, was der andre am heiligsten hält, sich verkennen, nicht vernehmen, ewig fremd bleiben; in dieser Region sind sie dennoch durch höhere Zauberkraft einig und in Frieden. Jede Muse sucht und findet die andre, und alle Ströme der Poesie fließen zusammen in das allgemeine große Meer.

Die Vernunft ist nur eine und in allen dieselbe: wie aber jeder Mensch seine eigne Natur hat und seine eigne Liebe, so trägt auch jeder seine eigne Poesie in sich. Die muß ihm bleiben und soll ihm bleiben, so gewiß er der ist, der er ist, so gewiß nur irgend etwas Ursprüngliches in ihm war; und keine Kritik kann und darf ihm sein eigenstes Wesen, seine innerste Kraft rauben, um ihn zu einem allgemeinen Bilde ohne Geist und ohne Sinn zu läutern und zu reinigen, wie die Toren sich bemühen, die nicht wissen was sie wollen. Aber lehren soll ihn die hohe Wissenschaft echter Kritik, wie er sich selbst bilden muß in sich selbst, und vor allem soll sie ihn lehren, auch jede andre selbständige Gestalt der Poesie in ihrer klassischen Kraft und Fülle zu fassen, daß die Blüte und der Kern fremder Geister Nahrung und Same werde für seine eigne Fantasie.

Nie wird der Geist, welcher die Orgien der wahren Muse kennt, auf dieser Bahn bis ans Ende dringen, oder wähnen, daß er es erreicht: denn nie kann er eine Sehnsucht stillen, die aus der Fülle der Befriedigungen [284] selbst sich ewig von neuem erzeugt. Unermeßlich und unerschöpflich ist die Welt der Poesie wie der Reichtum der belebenden Natur an Gewächsen, Tieren und Bildungen jeglicher Art, Gestalt und Farbe. Selbst die künstlichen Werke oder natürlichen Erzeugnisse, welche die Form und den Namen von Gedichten tragen, wird nicht leicht auch der umfassendste alle umfassen. Und was sind sie gegen die formlose und bewußtlose Poesie, die sich in der Pflanze regt, im Lichte strahlt, im Kinde lächelt, in der Blüte der Jugend schimmert, in der liebenden Brust der Frauen glüht? – Diese aber ist die erste, ursprüngliche, ohne die es gewiß keine Poesie der Worte geben würde. Ja wir alle, die wir Menschen sind, haben immer und ewig keinen andern Gegenstand und keinen andern Stoff aller Tätigkeit und aller Freude, als das eine Gedicht der Gottheit, dessen Teil und Blüte auch wir sind – die Erde. Die Musik des unendlichen Spielwerks zu vernehmen, die Schönheit des Gedichts zu verstehen, sind wir fähig, weil auch ein Teil des Dichters, ein Funke seines schaffenden Geistes in uns lebt und tief unter der Asche der selbstgemachten Unvernunft mit heimlicher Gewalt zu glühen niemals aufhört.

Es ist nicht nötig, daß irgend jemand sich bestrebe, etwa durch vernünftige Reden und Lehren die Poesie zu erhalten und fortzupflanzen, oder gar sie erst hervorzubringen, zu erfinden, aufzustellen und ihr strafende Gesetze zu geben, wie es die Theorie der Dichtkunst so gern möchte. Wie der Kern der Erde sich von selbst mit Gebilden und Gewächsen bekleidete, wie das Leben von selbst aus der Tiefe hervorsprang, und alles voll ward von Wesen die sich fröhlich vermehrten; so blüht auch Poesie von selbst aus der unsichtbaren Urkraft der Menschheit hervor, wenn der erwärmende Strahl der göttlichen Sonne sie trifft und befruchtet. Nur Gestalt und Farbe können es nachbildend ausdrücken, wie der Mensch gebildet ist; und so läßt sich auch eigentlich nicht reden von der Poesie als nur in Poesie.

Die Ansicht eines jeden von ihr ist wahr und gut, insofern sie selbst Poesie ist. Da nun aber seine Poesie, eben weil es die seine ist, beschränkt sein muß, so kann auch seine Ansicht der Poesie nicht anders als beschränkt sein. Dieses kann der Geist nicht ertragen, ohne Zweifel weil [285] er, ohne es zu wissen, es dennoch weiß, daß kein Mensch schlechthin nur ein Mensch ist, sondern zugleich auch die ganze Menschheit wirklich und in Wahrheit sein kann und soll. Darum geht der Mensch, sicher sich selbst immer wieder zu finden, immer von neuem aus sich heraus, um die Ergänzung seines innersten Wesens in der Tiefe eines fremden zu suchen und zu finden. Das Spiel der Mitteilung und der Annäherung ist das Geschäft und die Kraft des Lebens, absolute Vollendung ist nur im Tode.

Darum darf es auch dem Dichter nicht genügen, den Ausdruck seiner eigentümlichen Poesie, wie sie ihm angeboren und angebildet wurde, in bleibenden Werken zu hinterlassen. Er muß streben, seine Poesie und seine Ansicht der Poesie ewig zu erweitern, und sie der höchsten zu nähern die überhaupt auf der Erde möglich ist; dadurch daß er seinen Teil an das große Ganze auf die bestimmteste Weise anzuschließen strebt: denn die tötende Verallgemeinerung wirkt gerade das Gegenteil.

Er kann es, wenn er den Mittelpunkt gefunden hat, durch Mitteilung mit denen, die ihn gleichfalls von einer andern Seite auf eine andre Weise gefunden haben. Die Liebe bedarf der Gegenliebe. Ja für den wahren Dichter kann selbst das Verkehr mit denen, die nur auf der bunten Oberfläche spielen, heilsam und lehrreich sein. Er ist ein geselliges Wesen.

Für mich hatte es von jeher einen großen Reiz mit Dichtern und dichterisch Gesinnten über die Poesie zu reden. Viele Gespräche der Art habe ich nie vergessen, von andern weiß ich nicht genau, was der Fantasie und was der Erinnerung angehört; vieles ist wirklich darin, andres ersonnen. So das gegenwärtige, welches ganz verschiedene Ansichten gegeneinander stellen soll, deren jede aus ihrem Standpunkte den unendlichen Geist der Poesie in einem neuen Lichte zeigen kann, und die alle mehr oder minder bald von dieser bald von jener Seite in den eigentlichen Kern zu dringen streben. Das Interesse an dieser Vielseitigkeit erzeugte den Entschluß, was ich in einem Kreise von Freunden bemerkt und anfänglich nur in Beziehung auf sie gedacht hatte, allen denen mitzuteilen, die eigne Liebe im Busen spüren und gesonnen sind, in die [286] heiligen Mysterien der Natur und der Poesie kraft ihrer innern Lebensfülle sich selbst einzuweihen.


Amalia und Camilla gerieten soeben über ein neues Schauspiel in ein Gespräch, das immer lebhafter wurde, als zwei von den erwarteten Freunden, die wir Marcus und Antonio nennen wollen, mit einem lauten Gelächter in die Gesellschaft traten. Nachdem jene beiden hinzugekommen, war diese nun so vollständig als sie sich gewöhnlich bei Amalien zu versammeln pflegte, um sich frei und froh mit ihrer gemeinschaftlichen Liebhaberei zu beschäftigen. Ohne Verabredung oder Gesetz fügte es sich meistens von selbst, daß Poesie der Gegenstand, die Veranlassung, der Mittelpunkt ihres Beisammenseins war. Bisher hatte bald dieser bald jener unter ihnen ein dramatisches Werk oder auch ein andres vorgelesen, worüber dann viel hin und her geredet, und manches Gute und Schöne gesagt ward. Doch fühlten bald alle mehr oder minder einen gewissen Mangel bei dieser Art der Unterhaltung. Amalia bemerke den Umstand zuerst und wie ihm zu helfen sein möchte. Sie meinte, die Freunde wüßten nicht klar genug um die Verschiedenheit ihrer Ansichten. Dadurch werde die Mitteilung verworren, und schwiege mancher gar, der sonst wohl reden würde. Jeder, oder zunächst nur wer eben am meisten Lust habe, solle einmal seine Gedanken über Poesie, oder über einen Teil, eine Seite derselben von Grund des Herzens aussprechen, oder lieber ausschreiben, damit mans schwarz auf weiß besitze, wies jeder meine. Camilla stimmte ihrer Freundin lebhaft bei, damit wenigstens einmal etwas Neues geschähe, zur Abwechslung von dem ewigen Lesen. Der Streit, sagte sie, würde dann erst recht arg werden; und das müsse er auch, denn eher sei keine Hoffnung zum ewigen Frieden.

Die Freunde ließen sich den Vorschlag gefallen und legten sogleich Hand ans Werk, ihn auszuführen. Selbst Lothario, der sonst am wenigsten sagte und stritt, ja oft stundenlang bei allem was die andern sagen und streiten mochten, stumm blieb und sich in seiner würdigen Ruhe nicht stören ließ, schien den lebhaftesten Anteil zu nehmen, und gab selbst Versprechungen, etwas vorzulesen. Das Interesse wuchs mit dem Werk und mit den Vorbereitungen dazu, die Frauen machten sich ein Fest daraus, und es wurde endlich ein Tag festgesetzt, an dem jeder vorlesen sollte, was er bringen würde. Durch alle diese Umstände war die [287] Aufmerksamkeit gespannter, als gewöhnlich; der Ton des Gesprächs indessen blieb ganz so zwanglos und leicht wie er sonst unter ihnen zu sein pflegte.

Camilla hatte mit vielem Feuer ein Schauspiel beschrieben und gerühmt, was am Tage zuvor gegeben war. Amalia hingegen tadelte es, und behauptete, es sei von Kunst ja von Verstand durchaus keine Ahndung darin. Ihre Freundin gab dies sogleich zu; aber, sagte sie, es ist doch wild und lebendig genug, oder wenigstens können es gute Schauspieler, wenn sie guter Laune sind, dazu machen. – Wenn sie wirklich gute Schauspieler sind, sagte Andrea, indem er auf seine Rolle und nach der Türe sah, ob die Fehlenden nicht bald kommen würden; wenn sie wirklich gute Schauspieler sind, so müssen sie eigentlich alle gute Laune verlieren, daß sie die der Dichter erst machen sollen. – Ihre gute Laune, Freund, erwiderte Amalia, macht Sie selbst zum Dichter; denn daß man dergleichen Schauspielschreiber Dichter heißt, ist doch nur ein Gedicht, und eigentlich viel ärger als wenn die Komödianten sich Künstler nennen oder nennen lassen. – Gönnt uns aber doch unsre Weise, sagte Antonio, indem er sichtbar Camillens Partei nahm; wenn sich einmal durch glücklichen Zufall ein Funken von Leben, von Freude und Geist in der gemeinen Masse entwickelt, so wollen wirs lieber erkennen, als uns immer wiederholen, wie gemein nun eben die gemeine Masse ist. – Darüber ist ja grade der Streit, sagte Amalia; gewiß es hat sich in dem Stück von dem wir reden, gar nichts weiter entwickelt, als was sich fast alle Tage da entwickelt; eine gute Portion Albernheit. Sie fing hierauf an, Beispiele anzuführen, worin sie aber bald gebeten wurde nicht länger fortzufahren, und in der Tat bewiesen sie nur zu sehr was sie beweisen sollten.

Camilla erwiderte dagegen, dieses treffe sie gar nicht, denn sie habe auf die Reden und Redensarten der Personen im Stück nicht sonderlich acht gegeben. – Man fragte sie, worauf sie denn geachtet habe, da es doch keine Operette sei? – Auf die äußre Erscheinung, sagte sie, die ich mir wie eine leichte Musik habe vorspielen lassen. Sie lobte dann eine der geistreichsten Schauspielerinnen, schilderte ihre Manieren, ihre schöne Kleidung, und äußerte ihre Verwunderung, daß man ein Wesen wie unser Theater so schwer nehmen könne. Gemein sei da in der Regel freilich fast alles; aber selbst im Leben, wo es einem doch näher träte, mache ja [288] oft das Gemeine eine sehr romantische und angenehme Erscheinung. – Gemein in der Regel fast alles, sagte Lothario. Dieses ist sehr richtig. Wahrlich, wir sollten nicht mehr so häufig an einen Ort gehen, wo der von Glück zu sagen hat, der nicht vom Gedränge, von üblem Geruch oder von unangenehmen Nachbaren leidet. Man foderte einmal von einem Gelehrten eine Inschrift für das Schauspielhaus. Ich würde vorschlagen, daß man darüber setzte: Komm Wandrer und sieh das Platteste; welches dann in den meisten Fällen eintreffen würde.

Hier wurde das Gespräch durch die eintretenden Freunde unterbrochen, und wären sie zugegen gewesen, so dürfte der Streit wohl eine andre Richtung und Verwicklung gewonnen haben, denn Marcus dachte nicht so über das Theater, und konnte die Hoffnung nicht aufgeben, daß etwas Rechtes daraus werden müsse.

Sie traten, wie gesagt, mit einem unmäßigen Gelächter in die Gesellschaft, und aus den letzten Worten, die man hören konnte, ließ sich schließen, daß ihre Unterhaltung sich auf die sogenannten klassischen Dichter der Engländer bezog. Man sagte noch einiges über denselben Gegenstand, und Antonio, der sich gern bei Gelegenheit mit dergleichen polemischen Einfällen dem Gespräch einmischte, das er selten selbst führte, behauptete, die Grundsätze ihrer Kritik und ihres Enthusiasmus wären im Smith über den Nationalreichtum zu suchen. Sie wären nur froh, wenn sie wieder einen Klassiker in die öffentliche Schatzkammer tragen könnten. Wie jedes Buch auf dieser Insel ein Essay, so werde da auch jeder Schriftsteller, wenn er nur seine gehörige Zeit gelegen habe, zum Klassiker. Sie wären aus gleichem Grund und in gleicher Weise auf die Verfertigung der besten Scheren stolz wie auf die der besten Poesie. So ein Engländer lese den Shakespeare eigentlich nicht anders wie den Pope, den Dryden, oder wer sonst noch Klassiker sei; bei dem einen denke er eben nicht mehr als bei dem andern. – Marcus meinte, das goldne Zeitalter sei nun einmal eine moderne Krankheit, durch die jede[289] Nation hindurch müsse, wie die Kinder durch die Pocken. – So müßte man den Versuch machen können, die Kraft der Krankheit durch Inokulation zu schwächen, sagte Antonio. Ludoviko, der mit seiner revolutionären Philosophie das Vernichten gern im Großen trieb, fing an von einem System der falschen Poesie zu sprechen, was er darstellen wolle, die in diesem Zeitalter besonders bei Engländern und Franzosen grassiert habe und zum Teil noch grassiere; der tiefe gründliche Zusammenhang aller dieser falschen Tendenzen, die so schön übereinstimmen, eine die andre ergänzen und sich freundschaftlich auf halbem Wege entgegenkommen, sei ebenso merkwürdig und lehrreich als unterhaltend und grotesk. Er wünschte sich nur Verse machen zu können, denn in einem komischen Gedicht müßte sich, was er meine, eigentlich erst recht machen. Er wollte noch mehr davon sagen, aber die Frauen unterbrachen ihn und foderten den Andrea auf, daß er anfangen möchte; sonst wäre des Vorredens kein Ende. Nachher könnten sie ja desto mehr reden und streiten. Andrea schlug die Rolle auf und las.

Epochen der Dichtkunst

Wo irgend lebendiger Geist in einem gebildeten Buchstaben gebunden erscheint, da ist Kunst, da ist Absonderung, Stoff zu überwinden, Werkzeuge zu gebrauchen, ein Entwurf und Gesetze der Behandlung. Darum sehn wir die Meister der Poesie sich mächtig bestreben, sie auf das vielseitigste zu bilden. Sie ist eine Kunst, und wo sie es noch nicht war, soll sie es werden, und wenn sie es wurde, erregt sie gewiß in denen die sie wahrhaft lieben, eine starke Sehnsucht, sie zu erkennen, die Absicht des Meisters zu verstehen, die Natur des Werks zu begreifen, den Ursprung der Schule, den Gang der Ausbildung zu erfahren. Die Kunst ruht auf dem Wissen, und die Wissenschaft der Kunst ist ihre Geschichte.

Es ist aller Kunst wesentlich eigen, sich an das Gebildete anzuschließen, und darum steigt die Geschichte von Geschlecht zu Geschlecht, von Stufe zu Stufe immer höher ins Altertum zurück, bis zur ersten ursprünglichen Quelle.

Für uns Neuere, für Europa liegt diese Quelle in Hellas, und für die Hellenen und ihre Poesie war es Homeros und die alte Schule der Homeriden. Eine unversiegbare Quelle allbildsamer Dichtung war es, ein[290] mächtiger Strom der Darstellung wo eine Woge des Lebens auf die andre rauscht, ein ruhiges Meer, wo sich die Fülle der Erde und der Glanz des Himmels freundlich spiegeln. Wie die Weisen den Anfang der Natur im Wasser suchen, so zeigt sich die älteste Poesie in flüssiger Gestalt.

Um zwei verschiedene Mittelpunkte vereinigte sich die Masse der Sage und des Gesanges. Hier ein großes gemeinsames Unternehmen, ein Gedränge von Kraft und Zwiespalt, der Ruhm des Tapfersten; dort die Fülle des Sinnlichen, Neuen, Fremden, Reizenden, das Glück einer Familie, ein Bild der gewandtesten Klugheit, wie ihr endlich die erschwerte Heimkehr dennoch gelingt. Durch diese ursprüngliche Absonderung ward das vorbereitet und gebildet, was wir »Ilias« und »Odyssee« nennen, und was in ihr eben einen festen Anhalt fand, um vor andern Gesängen der gleichen Zeit für die Nachwelt zu bleiben.

In dem Gewächs der Homerischen sehen wir gleichsam das Entstehen aller Poesie; aber die Wurzeln entziehn sich dem Blick, und die Blüten und Zweige der Pflanze treten unbegreiflich schön aus der Nacht des Altertums hervor. Dieses reizend gebildete Chaos ist der Keim, aus welchem die Welt der alten Poesie sich organisierte.

Die epische Form verdarb schnell. Statt dessen erhob sich, auch bei den Joniern, die Kunst der Jamben, die im Stoff und in der Behandlung der grade Gegensatz der mythischen Poesie, und eben darum der zweite Mittelpunkt der hellenischen Poesie war, und an und mit ihr die Elegie, welche sich fast ebenso mannichfach verwandelte und umgestaltete wie das Epos.

Was Archilochus war, muß uns außer den Bruchstücken, Nachrichten und Nachbildungen des Horatius in den Epoden, die Verwandtschaft der Komödie des Aristophanes und selbst die entferntere der römischen Satire vermuten lassen. Mehr haben wir nicht, die größte Lücke in der Kunstgeschichte auszufüllen. Doch leuchtet es jedem der nachdenken will, ein, wie es ewig im Wesen der höchsten Poesie liege, auch in heiligen Zorn auszubrechen, und ihre volle Kraft an dem fremdesten Stoff, der gemeinen Gegenwart zu äußern.

[291] Dieses sind die Quellen der hellenischen Poesie, Grundlage und Anfang. Die schönste Blüte umfaßt die melischen, chorischen, tragischen und komischen Werke der Dorer, Äolier und Athener von Alkman und Sappho bis zum Aristophanes. Was uns aus dieser wahrhaft goldenen Zeit in den höchsten Gattungen der Poesie übrig geblieben ist, trägt mehr oder minder einen schönen oder großen Styl, die Lebenskraft der Begeisterung und die Ausbildung der Kunst in göttlicher Harmonie.

Das Ganze ruht auf dem festen Boden der alten Dichtung, eins und unteilbar durch das festliche Leben freier Menschen und durch die heilige Kraft der alten Götter.

Die melische Poesie schloß sich mit ihrer Musik aller schönen Gefühle zunächst an die jambische, in welcher der Drang der Leidenschaft, und die elegische, in welcher der Wechsel der Stimmung im Spiel des Lebens so lebendig erscheinen, daß sie für den Haß und die Liebe gelten können, durch welche das ruhige Chaos der Homerischen Dichtung bewegt ward zu neuen Bildungen und Gestaltungen. Die chorischen Gesänge hingegen neigten sich mehr zum heroischen Geist des Epos, und trennten sich ebenso einfach nach dem Übergewicht von gesetzlichem Ernst oder heiliger Freiheit in der Verfassung und Stimmung des Volks. Was Eros der Sappho eingab, atmete Musik; und wie die Würde des Pindaros gemildert wird durch den fröhlichen Reiz gymnastischer Spiele, so ahmten die Dithyramben in ihrer Ausgelassenheit auch wohl die kühnsten Schönheiten der Orchestik nach.

Stoff und Urbilder fanden die Stifter der tragischen Kunst im Epos, und wie dieses aus sich selbst die Parodie entwickelte, so spielten dieselben Meister, welche die Tragödie erfanden, in Erfindung satyrischer Dramen.

Zugleich mit der Plastik entstand die neue Gattung, ihr ähnlich in der Kraft der Bildung und im Gesetz des Gliederbaus.

Aus der Verbindung der Parodie mit den alten Jamben und als Gegensatz der Tragödie entsprang die Komödie, voll der höchsten Mimik die nur in Worten möglich ist.

[292] Wie dort Handlungen und Begebenheiten, Eigentümlichkeit und Leidenschaft, aus der gegebnen Sage zu einem schönen System harmonisch geordnet und gebildet wurden, so ward hier eine verschwenderische Fülle von Erfindung als Rhapsodie kühn hingeworfen, mit tiefem Verstand im scheinbaren Unzusammenhang.

Beide Arten des attischen Drama griffen aufs wirksamste ins Leben ein, durch ihre Beziehung auf das Ideal der beiden großen Formen, in denen das höchste und einzige Leben, das Leben des Menschen unter Menschen erscheint. Den Enthusiasmus für die Republik finden wir beim Äschylos und Aristophanes, ein hohes Urbild schöner Familie in den heroischen Verhältnissen der alten Zeit liegt dem Sophokles zum Grunde.

Wie Äschylos ein ewiges Urbild der harten Größe und des nicht ausgebildeten Enthusiasmus, Sophokles aber der harmonischen Vollendung ist: so zeigt schon Euripides jene unergründliche Weichlichkeit, die nur dem versunkenen Künstler möglich ist, und seine Poesie ist oft nur die sinnreichste Deklamation.

Diese erste Masse hellenischer Dichtkunst, das alte Epos, die Jamben die Elegie, die festlichen Gesänge und Schauspiele; das ist die Poesie selbst. Alles, was noch folgt, bis auf unsre Zeiten, ist Überbleibsel Nachhall, einzelne Ahndung, Annäherung, Rückkehr zu jenem höchsten Olymp der Poesie.

Die Vollständigkeit nötigt mich zu erwähnen, daß auch die ersten Quellen und Urbilder des didaskalischen Gedichts, die wechselseitigen Übergänge der Poesie und der Philosophie in dieser Blütezeit der alten Bildung zu suchen sind: in den naturbegeisterten Hymnen der Mysterien in den sinnreichen Lehren der gesellig sittlichen Gnome, in den allumfassenden Gedichten des Empedokles und andrer Forscher, und etwa in den Symposien, wo das philosophische Gespräch und die Darstellung desselben ganz in Dichtung übergeht.

[293] Solche einzig große Geister wie Sappho, Pindaros, Äschylos, Sophokles, Aristophanes kamen nicht wieder; aber noch gabs genialische Virtuosen wie Philoxenos, die den Zustand der Auflösung und Gärung bezeichnen, welcher den Übergang von der großen idealischen zur zierlichen gelehrten Poesie der Hellenen bildet. Ein Mittelpunkt für diese war Alexandrien. Doch nicht hier allein blühte ein klassisches Siebengestirn tragischer Dichter; auch auf der attischen Bühne glänzte eine Schar von Virtuosen, und wenn gleich die Dichtkünstler in allen Gattungen Versuche in Menge machten, jede alte Form nachzubilden oder umzugestalten, so war es doch die dramatische Gattung vor allen, in welcher sich die noch übrige Erfindungskraft dieses Zeitalters durch eine reiche Fülle der sinnreichsten und oft seltsamen neuen Verbindungen und Zusammensetzungen zeigte, teils im Ernst, teils zur Parodie. Doch blieb es auch wohl in dieser Gattung beim Zierlichen, Geistvollen, Künstlichen, wie in den andern, unter denen wir nur das Idyllion, als eine eigentümliche Form dieses Zeitalters erwähnen; eine Form, deren Eigentümliches aber fast nur im Formlosen besteht. Im Rhythmus und manchen Wendungen der Sprache und Darstellungsart folgt es einigermaßen dem epischen Styl; in der Handlung und im Gespräch den dorischen Mimen von einzelnen Szenen aus dem geselligen Leben in der lokalsten Farbe; im Wechselgesange den kunstlosen Liedern der Hirten; im erotischen Geist gleicht es der Elegie und dem Epigramm dieser Zeit, wo dieser Geist selbst in epische Werke einfloß, deren viele jedoch fast nur Form waren, wo der Künstler in der didaskalischen Gattung zu zeigen suchte, daß seine Darstellung auch den schwierigsten trockensten Stoff besiegen könne; in der mythischen hingegen, daß man auch den seltensten kenne, und auch den ältesten ausgebildetsten neu zu verjüngen und feiner umzubilden wisse; oder in zierlichen Parodien mit einem nur scheinbaren Objekt spielte. Überhaupt ging die Poesie dieser Zeit entweder auf die Künstlichkeit der Form, oder auf den sinnlichen Reiz des Stoffs, der selbst in der neuen attischen Komödie herrschte; aber das Wollüstigste ist verloren.

[294] Nachdem auch die Nachahmung erschöpft war, begnügte man sich neue ranze aus den alten Blumen zu flechten, und Anthologien sind es welche die hellenische Poesie beschließen.

Die Römer hatten nur einen kurzen Anfall von Poesie, während dessen sie mit großer Kraft kämpften und strebten, sich die Kunst ihrer Vorbilder anzueignen. Sie erhielten dieselben zunächst aus den Händen er Alexandriner; daher herrscht das Erotische und Gelehrte in ihren Werken, und muß auch, was die Kunst betrifft, der Gesichtspunkt bleiben, sie zu würdigen. Denn der Verständige läßt jedes Gebildete in seiner Sphäre, und beurteilt es nur nach seinem eignen Ideale Zwar erscheint Horatius in jeder Form interessant, und einen Menschen von dem Wert dieses Römers würden wir vergeblich unter den spätern Hellenen suchen, aber dieses allgemeine Interesse an ihm selbst ist mehr ein romantisches als ein Kunsturteil, welches ihn nur in der Satire hoch stellen kann. Eine herrliche Erscheinung ists wenn die römische Kraft mit der hellenischen Kunst bis zur Verschmelzung eins wird. So bildete Properitus eine große Natur durch die gelehrteste Kunst; der Strom inniger Liebe quoll mächtig aus seiner treuen Brust. Er darf uns über den Verlust hellenischer Elegiker trösten, wie Lukretius über den des Empedokles.

Während einiger Menschenalter wollte alles dichten in Rom und jeder glaubte, er müsse die Musen begünstigen und ihnen wieder aufhelfen; und das nannten sie ihre goldne Zeit der Poesie. Gleichsam die taube Blute in der Bildung dieser Nation. Die Modernen sind ihnen darin gefolgt; was unter Augustus und Mäcenas geschah, war eine Vorbedeutung auf die Cinquecentisten Italiens. Ludwig der Vierzehnte versuchte denselben Frühling des Geistes in Frankreich zu erzwingen, auch die Engländer kamen überein, den Geschmack unter der Königin Anna für den besten zu halten, und keine Nation wollte fernerhin ohne ihr goldnes Zeitalter bleiben; jedes folgende war leerer und schlechter noch als das vorhergehende, und was sich die Deutschen als golden eingebildet haben, verbietet die Würde dieser Darstellung näher zu bezeichnen.

Ich kehre zurück zu den Römern. Sie hatten, wie gesagt, nur einen Anfall von Poesie, die ihnen eigentlich stets widernatürlich blieb. Einheimisch [295] war bei ihnen nur die Poesie der Urbanität, und mit der einzigen Satire haben sie das Gebiet der Kunst bereichert. Es nahm dieselbe unter jedem Meister eine neue Gestalt an, indem sich der große alte Styl der römischen Geselligkeit und des römischen Witzes bald die klassische Kühnheit des Archilochos und der alten Komödie aneignete, bald aus der sorglosen Leichtigkeit eines Improvisatore zur saubersten Eleganz eines korrekten Hellenen bildete, bald mit stoischem Sinn und im gediegensten Styl zur großen alten Weise der Nation zurückkehrte, bald sich der Begeisterung des Hasses überließ. Durch die Satire erscheint in neuem Glanz, was noch von der Urbanität der ewigen Roma im Catullus lebt, im Martialis, oder sonst einzeln und zerstreut. Die Satire gibt uns einen römischen Standpunkt für die Produkte des römischen Geistes.

Nachdem die Kraft der Poesie so schnell erloschen als zuvor gewachsen war, nahm der Geist der Menschen eine andre Richtung, die Kunst verschwand im Gedränge der alten und der neuen Welt, und über ein Jahrtausend verstrich, ehe wieder ein großer Dichter im Okzident aufstand. Wer Talent zum Reden hatte, widmete sich bei den Römern gerichtlichen Geschäften, und wenn er ein Hellene war, hielt er populäre Vorlesungen über allerlei Philosophie. Man begnügte sich, die alten Schätze jeder Art zu erhalten, zu sammeln, zu mischen, abzukürzen und zu verderben; und wie in andern Zweigen der Bildung, so zeigt sich auch in der Poesie nur selten eine Spur von Originalität, einzeln und ohne Nachdruck; nirgends ein Künstler, kein klassisches Werk in so langer Zeit. Dagegen war die Erfindung und Begeisterung in der Religion um so reger; in der Ausbildung der neuen, in den Versuchen zur Umbildung der alten, in der mystischen Philosophie müssen wir die Kraft jener Zeit suchen, die in dieser Rücksicht groß war, eine Zwischenwelt der Bildung, ein fruchtbares Chaos zu einer neuen Ordnung der Dinge, das wahre Mittelalter.

Mit den Germaniern strömte ein unverdorbener Felsenquell von neuem Heldengesang über Europa, und als die wilde Kraft der gotischen Dichtung durch Einwirkung der Araber mit einem Nachhall von den[296] reizenden Wundermärchen des Orients zusammentraf, blühte an der südlichen Küste gegen das Mittelmeer ein fröhliches Gewerbe von Erfindern lieblicher Gesänge und seltsamer Geschichten, und bald in dieser bald in jener Gestalt verbreitete sich mit der heiligen lateinischen Legende auch die weltliche Romanze, von Liebe und von Waffen singend.

Die katholische Hierarchie war unterdessen ausgewachsen; die Jurisprudenz und die Theologie zeigte manchen Rückweg zum Altertum. Diesen betrat, Religion und Poesie verbindend, der große Dante, der heilige Stifter und Vater der modernen Poesie. Von den Altvordern der Nation lernte er das Eigenste und Sonderbarste, das Heiligste und das Süßeste der neuen gemeinen Mundart zu klassischer Würde und Kraft zusammenzudrängen, und so die provenzalische Kunst der Reime zu veredeln; und da ihm nicht bis zur Quelle zu steigen vergönnt war, konnten ihm auch Römer den allgemeinen Gedanken eines großen Werkes von geordnetem Gliederbau mittelbar anregen. Mächtig faßte er ihn, in Einen Mittelpunkt drängte sich die Kraft seines erfindsamen Geistes zusammen, in Einem ungeheuren Gedicht umfaßte er mit starken Armen seine Nation und sein Zeitalter, die Kirche und das Kaisertum, die Weisheit und die Offenbarung, die Natur und das Reich Gottes. Eine Auswahl des Edelsten und des Schändlichsten was er gesehn, des Größten und des Seltsamsten, was er ersinnen konnte; die offenherzigste Darstellung seiner selbst und seiner Freunde, die herrlichste Verherrlichung der Geliebten; alles treu und wahrhaftig im Sichtbaren und voll geheimer Bedeutung und Beziehung aufs Unsichtbare.

Petrarca gab der Kanzone und dem Sonett Vollendung und Schönheit. Seine Gesänge sind der Geist seines Lebens, und Ein Hauch beseelt und bildet sie zu Einem unteilbaren Werk; die ewige Roma auf Erden und Madonna im Himmel als Wiederschein der einzigen Laura in seinem Herzen versinnlichen und halten in schöner Freiheit die geistige Einheit des ganzen Gedichts. Sein Gefühl hat die Sprache der Liebe gleichsam erfunden, und gilt nach Jahrhunderten noch bei allen Edlen, wie Boccaccios Verstand eine unversiegbare Quelle merkwürdiger meistens wahrer und sehr gründlich ausgearbeiteter Geschichten für die Dichter jeder Nation stiftete, und durch kraftvollen Ausdruck und großen Periodenbau die Erzählungs-Sprache der Konversation zu einer soliden Grundlage [297] für die Prosa des Romans erhob. So streng in der Liebe Petrarcas Reinheit, so materiell ist Boccaccios Kraft, der es lieber wählte, alle reizende Frauen zu trösten, als eine zu vergöttern. In der Kanzone durch fröhliche Anmut und geselligen Scherz nach dem Meister neu zu sein, gelang ihm glücklicher als diesem, in der Vision und Terzine dem großen Dante ähnlich zu werden.

Diese drei sind die Häupter vom alten Styl der modernen Kunst; ihren Wert soll der Kenner verstehn, dem Gefühl des Liebhabers bleibt grade das Beste und Eigenste in ihnen hart oder doch fremd.

Aus solchen Quellen entsprungen, konnte bei der vorgezogenen Nation der Italiäner der Strom der Poesie nicht wieder versiegen. Jene Erfinder zwar ließen keine Schule sondern nur Nachahmer zurück: dagegen entstand schon früh ein neues Gewächs. Man wandte die Form und Bildung der nun wieder zur Kunst gewordnen Poesie auf den abenteuerlichen Stoff der Ritterbücher an, und so entstand das Romanzo der Italiäner, ursprünglich schon zu geselligen Vorlesungen bestimmt, und die altertümlichen Wundergeschichten durch einen Anhauch von geselligem Witz und geistiger Würze zur Groteske laut oder leise verwandelnd. Doch ist dieses Groteske selbt im Ariosto, der das Romanzo wie Boiardo mit Novellen, und nach dem Geist seiner Zeit mit schönen Blüten aus den Alten schmückte, und in der Stanze eine hohe Anmut erreichte, nur einzeln, nicht im Ganzen, das kaum diesen Namen verdient. Durch diesen Vorzug und durch seinen hellen Verstand steht er über seinem Vorgänger; die Fülle klarer Bilder und die glückliche Mischung von Scherz und Ernst macht ihn zum Meister und Urbilde in leichter Erzählung und sinnlichen Fantasien. Der Versuch, das Romanzo durch einen würdigen Gegenstand und durch klassische Sprache zur antiken Würde der Epopöe zu erheben, das man sich als ein großes Kunstwerk aller Kunstwerke für die Nation, und nach seinem allegorischen Sinn noch besonders für die Gelehrten dachte, blieb, so oft er auch wiederholt wurde, nur ein Versuch, der den rechten Punkt nicht treffen konnte. Auf einem andern ganz neuen, aber nur einmal anwendbaren Wege gelang es dem Guarini, im »Pastor Fido«, dem größten ja einzigen Kunstwerke der Italiäner nach jenen Großen, den romantischen Geist und die [298] klassische Bildung zur schönsten Harmonie zu verschmelzen, wodurch er auch dem Sonett neue Kraft und neuen Reiz gab.

Die Kunstgeschichte der Spanier, die mit der Poesie der Italiäner aufs innigste vertraut waren, und die der Engländer, deren Sinn damals für das Romantische, was etwa durch die dritte vierte Hand zu ihnen gelangte, sehr empfänglich war, drängt sich zusammen in die von der Kunst zweier Männer, des Cervantes und Shakespeare, die so groß waren daß alles übrige gegen sie nur vorbereitende, erklärende, ergänzende Umgebung scheint. Die Fülle ihrer Werke und der Stufengang ihres unermeßlichen Geistes wäre allein Stoff für eine eigne Geschichte. Wir wollen nur den Faden derselben andeuten, in welche bestimmte Massen das Ganze zerfällt, oder wo man wenigstens einige feste Punkte und die Richtung sieht.

Da Cervantes zuerst die Feder statt des Degens ergriff, den er nicht mehr führen konnte, dichtete er die »Galatea«, eine wunderbar große Komposition von ewiger Musik der Fantasie und der Liebe, den zartesten und lieblichsten aller Romane; außerdem viele Werke, so die Bühne beherrschten, und wie die göttliche »Numancia« des alten Kothurns würdig waren. Dieses war die erste große Zeit seiner Poesie; ihr Charakter war hohe Schönheit, ernst aber lieblich.

Das Hauptwerk seiner zweiten Manier ist der erste Teil des »Don Quixote«, in welchem der fantastische Witz und eine verschwenderische Fülle kühner Erfindung herrschen. Im gleichen Geist und wahrscheinlich auch um dieselbe Zeit dichtete er auch viele seiner Novellen, besonders die komischen. In den letzten Jahren seines Lebens gab er dem herrschen den Geschmack im Drama nach, und nahm es aus diesem Grunde zu nachlässig; auch im zweiten Teil des »Don Quixote« nahm er Rücksicht auf Urteile; es blieb ihm ja doch frei, sich selbst zu genügen, und diese an die erste überall angebildete Masse des einzig in zwei getrennten und aus zweien verbundenen Werks, das hier gleichsam in sich selbst zurückkehrt mit unergründlichem Verstand in die tiefste Tiefe auszuarbeiten. Den großen »Persiles« dichtete er mit sinnreicher Künstlichkeit in einer ernsten, dunkeln Manier nach seiner Idee vom Roman des Heliodor; was er noch dichten wollte, vermutlich in der Gattung des Ritterbuchs und des dramatisierten Romans, so wie den zweiten Teil der »Galatea« zu vollenden, verhinderte ihn der Tod.

[299] Vor Cervantes war die Prosa der Spanier im Ritterbuch auf eine schöne Art altertümlich, im Schäferroman blühend, und ahmte im romantischen Drama das unmittelbare Leben in der Sprache des Umgangs scharf und genau nach. Die lieblichste Form für zarte Lieder, voll Musik oder sinnreicher Tändelei, und die Romanze, gemacht um mit Adel und Einfalt edle und rührende alte Geschichten ernst und treu zu erzählen, waren von altersher in diesem Lande einheimisch. Weniger war dem Shakespeare vorgearbeitet; fast nur durch die bunte Mannichfaltigkeit der engländischen Bühne, für die bald Gelehrte, bald Schauspieler, Vornehme und Hofnarren arbeiteten, wo Mysterien aus der Kindheit des Schauspiels oder altenglische Possen mit fremden Novellen, mit vaterländischen Historien und andern Gegenständen wechselten: in jeder Manier und in jeder Form, aber nichts was wir Kunst nennen dürften. Doch war es für den Effekt und selbst für die Gründlichkeit ein glücklicher Umstand, daß früh schon Schauspieler für die Bühne arbeiteten, die doch durchaus nicht auf den Glanz der äußern Erscheinung berechnet war, und daß im historischen Schauspiel die Einerleiheit des Stoffs, den Geist des Dichters und des Zuschauers auf die Form lenken mußte.

Shakespeares frühste Werke 1 müssen mit dem Auge betrachtet werden, mit welchem der Kenner die Altertümer der italiänischen Malerkunst verehrt. Sie sind ohne Perspektive und andre Vollendung, aber gründlich, groß und voll Verstand, und in ihrer Gattung nur durch die Werke aus der schönsten Manier desselben Meisters übertroffen. Wir rechnen dahin den »Locrinus«, wo der höchste Kothurn in gotischer Mundart mit der derben altenglischen Lustigkeit grell verbunden ist, den göttlichen »Perikles«, und andre Kunstwerke des einzigen Meisters, die der Aberwitz seichter Schriftgelehrten ihm gegen alle Geschichte abgesprochen, oder die Dummheit derselben nicht anerkannt hat. Wir [300] setzen, daß diese Produkte früher sind als der »Adonis« und die »Sonette«, weil keine Spur darin ist von der süßen lieblichen Bildung, von dem schönen Geist, der mehr oder minder in allen spätern Dramen des Dichters atmet, am meisten in denen der höchsten Blüte. Liebe, Freundschaft und edle Gesellschaft wirkten nach seiner Selbstdarstellung eine schöne Revolution in seinem Geiste; die Bekanntschaft mit den zärtlichen Gedichten des bei den Vornehmen beliebten Spenser gab seinem neuen romantischen Schwunge Nahrung, und dieser mochte ihn zur Lektüre der Novellen führen, die er mehr als zuvor geschehn war, für die Bühne mit dem tiefsten Verstande umbildete, neu konstruierte und fantastisch reizend dramatisierte. Diese Ausbildung floß nun auch auf die historischen Stücke zurück, gab ihnen mehr Fülle, Anmut und Witz, und hauchte allen seinen Dramen den romantischen Geist ein, der sie in Verbindung mit der tiefen Gründlichkeit am eigensten charakterisiert, und sie zu einer romantischen Grundlage des modernen Drama konstituiert, die dauerhaft genug ist für ewige Zeiten.

Von den zuerst dramatisierten Novellen erwähnen wir nur den »Romeo« und »Love's Labour's Lost«, als die lichtesten Punkte seiner jugendlichen Fantasie, die am nächsten an »Adonis« und die »Sonette« grenzen. In drei Stücken von »Heinrich dem Sechsten« und »Richard dem Dritten« sehn wir einen stetigen Übergang aus der ältern noch nicht romantisierten Manier in die große. An diese Masse adstruierte er die von »Richard dem Zweiten« bis »Heinrich dem Fünften«; und dieses Werk ist der Gipfel seiner Kraft. Im »Macbeth« und »Lear« sehn wir die Grenzzeichen der männlichen Reife und der »Hamlet« schwebt unauflöslich im Übergang von der Novelle zu dem was diese Tragödien sind. Für die letzte Epoche erwähnen wir den »Sturm«, »Othello« und die römischen Stücke; es ist unermeßlich viel Verstand darin, aber schon etwas von der Kälte des Alters.

[301] Nach dem Tode dieser Großen erlosch die schöne Fantasie in ihren Ländern. Merkwürdig genug bildete sich nun sogleich die bis dahin roh gebliebene Philosophie zur Kunst, erregte den Enthusiasmus herrlicher Männer und zog ihn wieder ganz an sich. In der Poesie dagegen gab es zwar vom Lope de Vega bis zum Gozzi manche schätzbare Virtuosen, aber doch keine Poeten, und auch jene nur für die Bühne. Übrigens wuchs die Fülle der falschen Tendenzen in allen gelehrten und populären Gattungen und Formen immer mehr. Aus oberflächlichen Abstraktionen und Räsonnements, aus dem mißverstandenen Altertum und dem mittelmäßigen Talent entstand in Frankreich ein umfassendes und zusammenhängendes System von falscher Poesie, welches auf einer gleich falschen Theorie der Dichtkunst ruhete; und von hier aus verbreitete sich diese schwächliche Geisteskrankheit des sogenannten guten Geschmackes fast über alle Länder Europas. Die Franzosen und die Engländer konstituierten sich nun ihre verschiedenen goldenen Zeitalter, und wählten sorgfältig als würdige Repräsentanten der Nation im Pantheon des Ruhms ihre Zahl von Klassikern aus Schriftstellern, die sämtlich in einer Geschichte der Kunst keine Erwähnung finden können.

Indessen erhielt sich doch auch hier wenigstens eine Tradition, man müsse zu den Alten und zur Natur zurückkehren, und dieser Funken zündete bei den Deutschen, nachdem sie sich durch ihre Vorbilder allmählig durchgearbeitet hatten. Winckelmann lehrte das Altertum als ein Ganzes betrachten, und gab das erste Beispiel, wie man eine Kunst durch die Geschichte ihrer Bildung begründen solle. Goethes Universalität gab einen milden Widerschein von der Poesie fast aller Nationen und Zeitalter; eine unerschöpflich lehrreiche Suite von Werken, Studien, Skizzen, Fragmenten, Versuchen in jeder Gattung und in den verschiedensten Formen. Die Philosophie gelangte in wenigen kühnen Schritten [302] dahin, sich selbst und den Geist des Menschen zu verstehen, in dessen Tiefe sie den Urquell der Fantasie und das Ideal der Schönheit entdecken, und so die Poesie deutlich anerkennen mußte, deren Wesen und Dasein sie bisher auch nicht geahndet hatte. Philosophie und Poesie, die höchsten Kräfte des Menschen, die selbst zu Athen jede für sich in der höchsten Blüte doch nur einzeln wirkten, greifen nun ineinander, um sich in ewiger Wechselwirkung gegenseitig zu beleben und zu bilden. Das Übersetzen der Dichter und das Nachbilden ihrer Rhythmen ist zur Kunst und die Kritik zur Wissenschaft geworden, die alte Irrtümer vernichtet und neue Aussichten in die Kenntnis des Altertums eröffnet, in deren Hintergrunde sich eine vollendete Geschichte der Poesie zeigt.

Es fehlt nichts, als daß die Deutschen diese Mittel ferner brauchen, daß sie dem Vorbilde folgen, was Goethe aufgestellt hat, die Formen der Kunst überall bis auf den Ursprung erforschen, um sie neu beleben oder verbinden zu können, und daß sie auf die Quellen ihrer eignen Sprache und Dichtung zurückgehn, und die alte Kraft, den hohen Geist wieder frei machen, der noch in den Urkunden der vaterländischen Vorzeit vom Liede der »Nibelungen« bis zum Flemming und Weckherlin bis jetzt verkannt schlummert: so wird die Poesie, die bei keiner modernen Nation so ursprünglich ausgearbeitet und vortrefflich erst eine Sage der Helden, dann ein Spiel der Ritter, und endlich ein Handwerk der Bürger war, nun auch bei eben derselben eine gründliche Wissenschaft wahrer Gelehrten und eine tüchtige Kunst erfindsamer Dichter sein und bleiben.


Camilla. Sie haben die Franzosen ja fast gar nicht erwähnt.

Andrea. Es ist ohne besondre Absicht geschehn; ich fand eben keine Veranlassung.

Antonio. Er hätte an dem Beispiel der großen Nation wenigstens zeigen können, wie man eine sein kann, ohne alle Poesie.

[303] Camilla. Und darstellen wie man ohne Poesie lebt.

Ludoviko. Er hat mir durch diese Tücke auf eine indirekte Art mein polemisches Werk über die Theorie der falschen Poesie vorwegnehmen wollen.

Andrea. Es wird nur auf Sie ankommen, so habe ich, was Sie tun wollen nur leise angekündigt.

Lothario. Da Sie bei Erwähnung der Übergänge aus Poesie in Philosophie und aus Philosophie in Poesie, des Plato als Dichter erwähnten, wofür die Muse Ihnen lohne, horchte ich nachher auch auf den Namen des Tacitus. Diese durchgebildete Vollendung des Styls, diese gediegene und helle Darstellung, die wir in den großen Historien des Altertums finden, sollte dem Dichter ein Urbild sein. Ich bin überzeugt, dieses große Mittel ließe sich noch gebrauchen.

Marcus. Und vielleicht ganz neu anwenden.

Amalia. Wenn das so fortgeht, wird sich uns, ehe wirs uns versehen, eins nach dem andern in Poesie verwandeln. Ist denn alles Poesie?

Lothario. Jede Kunst und jede Wissenschaft die durch die Rede wirkt, wenn sie als Kunst um ihrer selbst willen geübt wird, und wenn sie den höchsten Gipfel erreicht, erscheint als Poesie.

Ludoviko. Und jede, die auch nicht in den Worten der Sprache ihr Wesen treibt, hat einen unsichtbaren Geist, und der ist Poesie.

Marcus. Ich stimme in vielen ja fast in den meisten Punkten mit Ihnen überein. Nur wünschte ich, Sie hätten noch mehr Rücksicht auf die Dichtarten genommen; oder um mich besser auszudrücken, ich wünschte, daß eine bestimmtere Theorie derselben aus Ihrer Darstellung hervorginge.

Andrea. Ich habe mich in diesem Stück ganz in den Grenzen der Geschichte halten wollen.

[304]

Ludoviko. Sie könnten sich immerhin auch auf die Philosophie berufen. Wenigstens habe ich noch in keiner Einteilung den ursprünglichen Gegensatz der Poesie so wiedergefunden, als in Ihrer Gegeneinanderstellung der epischen und der jambischen Dichtungsart.

Andrea. Die doch nur historisch ist.

Lothario. Es ist natürlich, daß wenn die Poesie auf eine so große Weise entsteht, wie in jenem glücklichen Lande, sie sich auf zwiefache Art äußert. Sie bildet entweder eine Welt aus sich heraus, oder sie schließt sich an die äußre, welches im Anfang nicht durch Idealisieren sondern auf eine feindliche und harte Art geschehen wird. So erkläre ich mir die epische und die jambische Gattung.

Amalia. Mich schauderts immer, wenn ich ein Buch aufschlage, wo die Fantasie und ihre Werke rubrikenweise klassifiziert werden.

Marcus. Solche verabscheuungswürdige Bücher wird Ihnen niemand zumuten zu lesen. Und doch ist eine Theorie der Dichtarten grade das, was uns fehlt. Und was kann sie anders sein als eine Klassifikation, die zugleich Geschichte und Theorie der Dichtkunst wäre?

Ludoviko. Sie würde uns darstellen wie und auf welche Weise die Fantasie eines – erdichteten Dichters, der, als Urbild, der Dichter aller Dichter wäre, sich kraft ihrer Tätigkeit durch diese selbst notwendig beschränken und teilen muß.

Amalia. Wie kann aber dieses künstliche Wesen zur Poesie dienen?

Lothario. Sie haben bis jetzt eigentlich wenig Ursache, Amalia, über dergleichen künstliches Wesen bei Ihren Freunden zu klagen. Es muß noch ganz anders kommen, wenn die Poesie wirklich ein künstliches Wesen werden soll.

Marcus. Ohne Absonderung findet keine Bildung statt, und Bildung ist das Wesen der Kunst. Also werden Sie jene Einteilungen wenigstens als Mittel gelten lassen.

[305] Amalia. Diese Mittel werfen sich oft zum Zweck auf, und immer bleibt es ein gefährlicher Umweg, der gar zu oft den Sinn für das Höchste tötet, ehe das Ziel erreicht ist.

Ludoviko. Der rechte Sinn läßt sich nicht töten.

Amalia. Und welche Mittel zu welchem Zweck? Es ist ein Zweck, den man nur gleich oder nie erreichen kann. Jeder freie Geist sollte unmittelbar das Ideal ergreifen und sich der Harmonie hingeben, die er in seinem Innern finden muß, sobald er sie da suchen will.

Ludoviko. Die innere Vorstellung kann nur durch die Darstellung nach außen, sich selbst klarer und ganz lebendig werden.

Marcus. Und Darstellung ist Sache der Kunst, man stelle sich wie man auch wolle.

Antonio. Nun so sollte man die Poesie auch als Kunst behandeln. Es kann wenig fruchten, sie in einer kritischen Geschichte so zu betrachten, wenn die Dichter nicht selbst Künstler und Meister sind, mit sichern Werkzeugen zu bestimmten Zwecken auf beliebige Weise zu verfahren.

Marcus. Und warum sollten sie das nicht? Freilich müssen sie es und werden es auch. Das Wesentlichste sind die bestimmten Zwecke, die Absonderung wodurch allein das Kunstwerk Umriß erhält und in sich selbst vollendet wird. Die Fantasie des Dichters soll sich nicht in eine chaotische Überhauptpoesie ergießen, sondern jedes Werk soll der Form und der Gattung nach einen durchaus bestimmten Charakter haben.

Antonio. Sie zielen schon wieder auf Ihre Theorie der Dichtarten. Wären Sie nur erst damit im reinen.

Lothario. Es ist nicht zu tadeln, wenn unser Freund auch noch so oft darauf zurückkommt. Die Theorie der Dichtungsarten würde die eigentümliche Kunstlehre der Poesie sein. Ich habe oft im einzelnen bestätigt gefunden, was ich im allgemeinen schon wußte: daß die Prinzipien des Rhythmus und selbst der gereimten Sylbenmaße musikalisch sind; was in der Darstellung von Charakteren, Situationen, Leidenschaften das Wesentliche, Innere ist, der Geist, dürfte in den bildenden und zeichnenden Künsten einheimisch sein. Die Diktion selbst, obgleich sie[306] schon unmittelbarer mit dem eigentümlichen Wesen der Poesie zusammenhängt, ist ihr mit der Rhetorik gemein. Die Dichtungsarten sind eigentlich die Poesie selbst.

Marcus. Auch mit einer bündigen Theorie derselben bliebe noch vieles zu tun übrig, oder eigentlich alles. Es fehlt nicht an Lehren und Theorien, daß und wie die Poesie eine Kunst sein und werden solle. Wird sie es aber dadurch wirklich? – Dies könnte nur auf dem praktischen Wege geschehn, wenn mehre Dichter sich vereinigten eine Schule der Poesie zu stiften, wo der Meister den Lehrling wie in andern Künsten tüchtig angriffe und wacker plagte, aber auch im Schweiß seines Angesichts ihm eine solide Grundlage als Erbschaft hinterließe, auf die der Nachfolger dadurch von Anfang an im Vorteil nun immer größer und kühner fortbauen dürfte, um sich endlich auf der stolzesten Höhe frei und mit Leichtigkeit zu bewegen.

Andrea. Das Reich der Poesie ist unsichtbar. Wenn ihr nur nicht auf die äußre Form seht, so könnt ihr eine Schule der Poesie in ihrer Geschichte finden, größer als in irgendeiner andern Kunst. Die Meister aller Zeiten und Nationen haben uns vorgearbeitet, uns ein ungeheures Kapital hinterlassen. Dies in der Kürze zu zeigen, war der Zweck meiner Vorlesung.

Antonio. Auch unter uns und ganz in der Nähe fehlt es nicht an Beispielen, daß ein Meister, vielleicht ohne es zu wissen und zu wollen, [307] den Nachfolgern gewaltig vorarbeitet. Wenn Voßens eigne Gedichte längst aus der Reihe der Dinge verschwunden sind, wird sein Verdienst als Übersetzer und Sprachkünstler, der eine neue Gegend mit unsäglicher Kraft und Ausdauer urbar gemacht, um so heller glänzen, je mehr seine vorläufigen Arbeiten durch nachfolgende, bessere übertroffen werden, weil man dann einsehn wird, daß diese nur durch jene möglich gemacht worden waren.

[308] Marcus. Bei den Alten gab es auch im eigentlichsten Sinne Schulen der Poesie. Und ich will es nicht leugnen, ich hege die Hoffnung, daß dies noch möglich sei. Was ist wohl ausführbarer, und was zugleich wünschenswürdiger, als ein gründlicher Unterricht in der metrischen Kunst? Aus dem Theater kann gewiß nicht eher etwas Rechtes werden, bis ein Dichter das Ganze dirigiert, und viele in einem Geiste dafür arbeiten. Ich deute nur auf einige Wege zur Möglichkeit, meine Idee auszuführen. Es könnte in der Tat das Ziel meines Ehrgeizes sein, eine solche Schule zu vereinigen, und so wenigstens einige Arten und einige Mittel der Poesie in einen gründlichen Zustand zu bringen.

[309] Amalia. Warum wieder nur Arten und Mittel? – Warum nicht die ganze eine und unteilbare Poesie? – Unser Freund kann gar nicht von seiner alten Unart lassen; er muß immer sondern und teilen, wo doch nur das Ganze in ungeteilter Kraft wirken und befriedigen kann. Und ich hoffe, Sie werden doch Ihre Schule nicht so ganz allein stiften wollen?

Camilla. Sonst mag er auch sein eigner Schüler bleiben, wenn er allein der Meister sein will. Wir wenigstens werden uns auf die Art nicht in die Lehre geben.

Antonio. Nein gewiß, Sie sollen nicht von einem einzelnen allein despotisiert werden, liebe Freundin; wir müssen Sie alle nach Gelegenheit belehren dürfen. Wir wollen alle Meister und Schüler zugleich sein, bald dieses bald jenes wie es sich trifft. Und mich wird wohl das letzte am häufigsten treffen. Doch wäre ich gleich dabei, ein Schutz- und Trutzbündnis von und für die Poesie einzugehn, wenn ich nur die Möglichkeit einer solchen Kunstschule derselben einsehn könnte.

Ludoviko. Die Wirklichkeit würde das am besten entscheiden.

Antonio. Es müßte zuvor untersucht und ins reine gebracht werden, ob sich Poesie überhaupt lehren und lernen läßt.

Lothario. Wenigstens wird es ebenso begreiflich sein, als daß sie überhaupt durch Menschenwitz und Menschenkunst aus der Tiefe ans Licht gelockt werden kann. Ein Wunder bleibt es doch; ihr mögt euch stellen wie ihr wollt.

Ludoviko. So ist es. Sie ist der edelste Zweig der Magie, und zur Magie kann der isolierte Mensch sich nicht erheben; aber wo irgend Menschentrieb durch Menschengeist verbunden zusammenwirkt, da regt sich magische Kraft. Auf diese Kraft habe ich gerechnet; ich fühle den geistigen Hauch wehen in der Mitte der Freunde; ich lebe nicht in Hoffnung [310] sondern in Zuversicht der neuen Morgenröte der neuen Poesie. Das übrige hier auf diesen Blättern, wenn es jetzt Zeit ist.

Antonio. Lassen Sie uns hören. Ich hoffe, wir finden in dem was Sie uns geben wollen, einen Gegensatz für Andreas Epochen der Dichtkunst. So können wir dann eine Ansicht und eine Kraft als Hebel für die andre gebrauchen, und über beide desto freier und eingreifender disputieren, und wieder auf die große Frage zurückkommen, ob sich Poesie lehren und lernen läßt.

Camilla. Es ist gut, daß Ihr endlich ein Ende macht. Ihr wollt eben alles in die Schule nehmen und seid nicht einmal Meister über die Redensarten, die Ihr führt; so daß ich nicht übel Lust hätte, mich zur Präsidentin zu konstituieren und Ordnung im Gespräch zu schaffen.

Antonio. Nachher wollen wir Ordnung halten, und im Notfalle an Sie appellieren. Jetzt lassen Sie uns hören.

Ludoviko. Was ich Euch zu geben habe und was mir sehr an der Zeit schien, zur Sprache zu bringen, ist eine

Rede über die Mythologie

Bei dem Ernst, mit dem Ihr die Kunst verehrt, meine Freunde, will ich Euch auffordern, Euch selbst zu fragen: Soll die Kraft der Begeisterung auch in der Poesie sich immerfort einzeln versplittern und wenn [311] sie sich müde gekämpft hat gegen das widrige Element, endlich einsam verstummen? Soll das höchste Heilige immer namenlos und formlos bleiben, im Dunkel dem Zufall überlassen ? Ist die Liebe wirklich unüberwindlich, und gibt es wohl eine Kunst, die den Namen verdiente, wenn diese nicht die Gewalt hat, den Geist der Liebe durch ihr Zauberwort zu fesseln, daß er ihr folge und auf ihr Geheiß und nach ihrer notwendigen Willkür die schönen Bildungen beseelen muß ? –

Ihr vor allen müßt wissen, was ich meine. Ihr habt selbst gedichtet, und Ihr müßt es oft im Dichten gefühlt haben, daß es Euch an einem festen Halt für Euer Wirken gebrach, an einem mütterlichen Boden, einem Himmel, einer lebendigen Luft.

Aus dem Innern herausarbeiten das alles muß der moderne Dichter, und viele haben es herrlich getan, aber bis jetzt nur jeder allein, jedes Werk wie eine neue Schöpfung von vorn an aus Nichts.

Ich gehe gleich zum Ziel. Es fehlt, behaupte ich, unsrer Poesie an einem Mittelpunkt, wie es die Mythologie für die der Alten war, und alles Wesentliche, worin die moderne Dichtkunst der antiken nachsteht, läßt sich in die Worte zusammenfassen: Wir haben keine Mythologie. Aber setze ich hinzu, wir sind nahe daran eine zu erhalten, oder vielmehr es wird Zeit, daß wir ernsthaft dazu mitwirken sollen, eine hervorzubringen.

Denn auf dem ganz entgegengesetzten Wege wird sie uns kommen, wie die alte ehemalige, überall die erste Blüte der jugendlichen Fantasie, sich unmittelbar anschließend und anbildend an das Nächste, Lebendigste der sinnlichen Welt. Die neue Mythologie muß im Gegenteil aus der tiefsten Tiefe des Geistes herausgebildet werden; es muß das künstlichste aller Kunstwerke sein, denn es soll alle andern umfassen, ein neues Bette und Gefäß für den alten ewigen Urquell der Poesie und selbst das unendliche Gedicht, welches die Keime aller andern Gedichte verhüllt.

[312] Ihr mögt wohl lächeln über dieses mystische Gedicht und über die Unordnung, die etwa aus dem Gedränge und der Fülle von Dichtungen entstehn dürfte. Aber die höchste Schönheit, ja die höchste Ordnung ist denn doch nur die des Chaos, nämlich eines solchen, welches nur auf die Berührung der Liebe wartet, um sich zu einer harmonischen Welt zu entfalten, eines solchen wie es auch die alte Mythologie und Poesie war. Denn Mythologie und Poesie, beide sind eins und unzertrennlich. Alle Gedichte des Alterums schließen sich eines an das andre, bis sich aus immer größern Massen und Gliedern das Ganze bildet; alles greift in einander, und überall ist ein und derselbe Geist nur anders ausgedrückt. Und so ist es wahrlich kein leeres Bild, zu sagen: die alte Poesie sei ein einziges, unteilbares, vollendetes Gedicht. Warum sollte nicht wieder von neuem werden, was schon gewesen ist ? Auf eine andre Weise versteht sich. Und warum nicht auf eine schönere, größere ? –

Ich bitte Euch, nur dem Unglauben an die Möglichkeit einer neuen Mythologie nicht Raum zu geben. Die Zweifel von allen Seiten und nach allen Richtungen sollen mir willkommen sein, damit die Untersuchung desto freier und reicher werde. Und nun schenkt meinen Vermutungen ein aufmerksames Gehör! Mehr als Vermutungen kann ich Euch nach der Lage der Sache nicht geben wollen. Aber ich hoffe, diese Vermutungen sollen durch euch selbst zu Wahrheiten werden. Denn es sind, wenn Ihr sie dazu machen wollt, gewissermaßen Vorschläge zu Versuchen.

Kann eine neue Mythologie sich nur aus der innersten Tiefe des Geistes wie durch sich selbst herausarbeiten, so finden wir einen sehr bedeutenden Wink und eine merkwürdige Bestätigung für das was wir suchen in dem großen Phänomen des Zeitalters, im Idealismus! Dieser [313] ist auf eben die Weise gleichsam wie aus Nichts entstanden, und es ist nun auch in der Geisterwelt ein fester Punkt konstituiert, von wo aus die Kraft des Menschen sich nach allen Seiten mit steigender Entwicklung ausbreiten kann, sicher sich selbst und die Rückkehr nie zu verlieren. Alle Wissenschaften und alle Künste wird die große Revolution ergreifen. Schon seht Ihr sie in der Physik wirken, in welcher der Idealismus eigentlich schon früher für sich ausbrach, ehe sie noch vom Zauberstabe der Philosophie berührt war. Und dieses wunderbare große Faktum kann Euch zugleich ein Wink sein über den geheimen Zusammenhang und die innre Einheit des Zeitalters. Der Idealismus, in praktischer Ansicht nichts anders als der Geist jener Revolution, die großen Maximen derselben, die wir aus eigner Kraft und Freiheit ausüben und ausbreiten sollen, ist in theoretischer Ansicht, so groß er sich auch hier zeigt, doch nur ein Teil, ein Zweig, eine Äußerungsart von dem Phänomene aller Phänomene, daß die Menschheit aus allen Kräften ringt, ihr Zentrum zu finden. Sie muß wie die Sachen stehn, untergehn oder sich verjüngen. Was ist wahrscheinlicher, und was läßt sich nicht von einem solchen Zeitalter der Verjüngung hoffen? – Das graue Altertum wird wieder lebendig werden, und die fernste Zukunft der Bildung sich schon in Vorbedeutungen melden. Doch das ist nicht das, worauf es mir zunächst hier ankommt: denn ich möchte gern nichts überspringen und Euch Schritt vor Schritt bis zur Gewißheit der allerheiligsten Mysterien führen. Wie es das Wesen des Geistes ist, sich selbst zu bestimmen und im ewigen Wechsel aus sich heraus zu gehn und in sich zurückzukehren; wie jeder Gedanke nichts anders ist, als das Resultat einer solchen Tätigkeit: so ist derselbe Prozeß auch im ganzen und großen jeder Form des Idealismus sichtbar, der ja selbst nur die Anerkennung jenes Selbstgesetzes ist, und das neue durch die Anerkennung verdoppelte Leben, [314] welches die geheime Kraft desselben durch die unbeschränkte Fülle neuer Erfindung, durch die allgemeine Mitteilbarkeit und durch die lebendige Wirksamkeit aufs herrlichste offenbart. Natürlich nimmt das Phänomen in jedem Individuum eine andre Gestalt an, wo denn oft der Erfolg hinter unsrer Erwartung zurückbleiben muß. Aber was notwendige Gesetze für den Gang des Ganzen erwarten lassen, darin kann unsre Erwartung nicht getäuscht werden. Der Idealismus in jeder Form muß auf ein oder die andre Art aus sich herausgehn, um in sich zurückkehren zu können, und zu bleiben was er ist. Deswegen muß und wird sich aus seinem Schoß ein neuer ebenso grenzenloser Realismus erheben; und der Idealismus also nicht bloß in seiner Entstehungsart ein Beispiel für die neue Mythologie, sondern selbst auf indirekte Art Quelle derselben werden. Die Spuren einer ähnlichen Tendenz könnt ihr schon jetzt fast überall wahrnehmen; besonders in der Physik, der es an nichts mehr zu fehlen scheint, als an einer mythologischen Ansicht der Natur.

Auch ich trage schon lange das Ideal eines solchen Realismus in mir, und wenn es bisher nicht zur Mitteilung gekommen ist, so war es nur, weil ich das Organ dazu noch suche. Doch weiß ich, daß ichs nur in der Poesie finden kann, denn in Gestalt der Philosophie oder gar eines Systems wird der Realismus nie wieder auftreten können. Und selbst nach einer allgemeinen Tradition ist es zu erwarten, daß dieser neue Realismus, weil er doch idealischen Ursprungs sein, und gleichsam auf idealischem Grund und Boden schweben muß, als Poesie erscheinen wird, die ja auf der Harmonie des Ideellen und Reellen beruhen soll.

[315] Spinosa, scheint mirs, hat ein gleiches Schicksal, wie der gute alte Saturn der Fabel. Die neuen Götter haben den Herrlichen vom hohen Thron der Wissenschaft herabgestürzt. In das heilige Dunkel der Fantasie ist er zurückgewichen, da lebt und haust er nun mit den andern Titanen in ehrwürdiger Verbannung. Haltet ihn hier! Im Gesang der Musen verschmelze seine Erinnrung an die alte Herrschaft in eine leise Sehnsucht. [316] Er entkleide sich vom kriegerischen Schmuck des Systems, und teile dann die Wohnung im Tempel der neuen Poesie mit Homer und Dante und geselle sich zu den Laren und Hausfreunden jedes gottbegeisterten Dichters.

In der Tat, ich begreife kaum, wie man ein Dichter sein kann, ohne den Spinosa zu verehren, zu lieben und ganz der seinige zu werden. In Erfindung des Einzelnen ist Eure eigne Fantasie reich genug; sie anzuregen, zur Tätigkeit zu reizen und ihr Nahrung zu geben, nichts geschickter als die Dichtungen andrer Künstler. Im Spinosa aber findet Ihr den Anfang und das Ende aller Fantasie, den allgemeinen Grund und Boden, auf dem Euer Einzelnes ruht und eben diese Absonderung des Ursprünglichen, Ewigen der Fantasie von allem Einzelnen und Besondern muß Euch sehr willkommen sein. Ergreift die Gelegenheit und schaut hin! Es wird Euch ein tiefer Blick in die innerste Werkstätte der Poesie gegönnt. Von der Art wie die Fantasie des Spinosa, so ist auch sein Gefühl. Nicht Reizbarkeit für dieses und jenes, nicht Leidenschaft die schwillt und wieder sinket; aber ein klarer Duft schwebt unsichtbar sichtbar über dem Ganzen, überall findet die ewige Sehnsucht einen Anklang aus den Tiefen des einfachen Werks, welches in stiller Größe den Geist der ursprünglichen Liebe atmet.

[317] Und ist nicht dieser milde Widerschein der Gottheit im Menschen die eigentliche Seele, der zündende Funken aller Poesie? – Das bloße Darstellen von Menschen, von Leidenschaften und Handlungen macht es wahrlich nicht aus, so wenig wie die künstlichen Formen; und wenn Ihr den alten Kram auch millionenmal durcheinander würfelt und übereinander wälzt. Das ist nur der sichtbare äußere Leib, und wenn die Seele erloschen ist, gar nur der tote Leichnam der Poesie. Wenn aber jener Funken des Enthusiasmus in Werke ausbricht, so steht eine neue Erscheinung vor uns, lebendig und in schöner Glorie von Licht und Liebe.

Und was ist jede schöne Mythologie anders als ein hieroglyphischer Ausdruck der umgebenden Natur in dieser Verklärung von Fantasie und Liebe?

Einen großen Vorzug hat die Mythologie. Was sonst das Bewußtsein ewig flieht, ist hier dennoch sinnlich geistig zu schauen, und festgehalten, wie die Seele in dem umgebenden Leibe, durch den sie in unser Auge schimmert, zu unserm Ohre spricht.

Das ist der, daß wir uns wegen des Höchsten nicht so ganz allein auf unser Gemüt verlassen. Freilich, wem es da trocken ist, dem wird es nirgends quillen; und das ist eine bekannte Wahrheit, gegen die ich am wenigsten gesonnen bin mich aufzulehnen. Aber wir sollen uns überall an das Gebildete anschließen und auch das Höchste durch die Berührung des Gleichartigen, Ähnlichen, oder bei gleicher Würde Feindlichen entwickeln, entzünden, nähren, mit einem Worte bilden. Ist das Höchste aber wirklich keiner absichtlichen Bildung fähig; so laßt uns nur gleich jeden Anspruch auf irgendeine freie Ideenkunst aufgeben, die alsdann ein leerer Name sein würde.

Die Mythologie ist ein solches Kunstwerk der Natur. In ihrem Gewebe ist das Höchste wirklich gebildet; alles ist Beziehung und Verwandlung, angebildet und umgebildet, und dieses Anbilden und Umbilden eben ihr eigentümliches Verfahren, ihr innres Leben, ihre Methode, wenn ich so sagen darf.

Da finde ich nun eine große Ähnlichkeit mit jenem großen Witz der romantischen Poesie, der nicht in einzelnen Einfällen, sondern in der Konstruktion des Ganzen sich zeigt, und den unser Freund uns schon so oft an den Werken des Cervantes und des Shakespeare entwickelt hat. Ja diese künstlich geordnete Verwirrung, diese reizende Symmetrie von [318] Widersprüchen, dieser wunderbare ewige Wechsel von Enthusiasmus und Ironie, der selbst in den kleinsten Gliedern des Ganzen lebt, scheinen mir schon selbst eine indirekte Mythologie zu sein. Die Organisation ist dieselbe und gewiß ist die Arabeske die älteste und ursprüngliche Form der menschlichen Fantasie. Weder dieser Witz noch eine Mythologie können bestehn ohne ein erstes Ursprüngliches und Unnachahmliches, was schlechthin unauflöslich ist, was nach allen Umbildungen noch die alte Natur und Kraft durchschimmern läßt, wo der naive Tiefsinn den Schein des Verkehrten und Verrückten, oder des Einfältigen und Dummen durchschimmern läßt. Denn das ist der Anfang aller Poesie, den Gang und die Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft aufzuheben und uns wieder in die schöne Verwirrung der Fantasie, in das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur zu versetzen, für das ich kein schöneres Symbol bis jetzt kenne, als das bunte Gewimmel der alten Götter.

Warum wollt Ihr Euch nicht erheben, diese herrlichen Gestalten des großen Altertums neu zu beleben? – Versucht es nur einmal die alte Mythologie voll vom Spinosa und von jenen Ansichten, welche die jetzige Physik in jedem Nachdenkenden erregen muß, zu betrachten, wie Euch alles in neuem Glanz und Leben erscheinen wird.

Aber auch die andern Mythologien müssen wieder erweckt werden nach dem Maß ihres Tiefsinns, ihrer Schönheit und ihrer Bildung, um die Entstehung der neuen Mythologie zu beschleunigen. Wären uns nur die Schätze des Orients so zugänglich wie die des Altertums! Welche neue Quelle von Poesie könnte uns aus Indien fließen, wenn einige deutsche Künstler mit der Universalität und Tiefe des Sinns, mit dem Genie der Übersetzung, das ihnen eigen ist, die Gelegenheit besäßen, welche eine Nation, die immer stumpfer und brutaler wird, wenig zu brauchen versteht. [319] Im Orient müssen wir das höchste Romantische suchen, und wenn wir erst aus der Quelle schöpfen können, so wird uns vielleicht der Anschein von südlicher Glut, der uns jetzt in der spanischen Poesie so reizend ist, wieder nur abendländisch und sparsam erscheinen.

Überhaupt muß man auf mehr als einem Wege zum Ziel dringen können. Jeder gehe ganz den seinigen, mit froher Zuversicht, auf die individuellste Weise, denn nirgends gelten die Rechte der Individualität – wenn sie nur das ist, was das Wort bezeichnet, unteilbare Einheit, innrer lebendiger Zusammenhang – mehr als hier, wo vom Höchsten die Rede ist; ein Standpunkt, auf welchem ich nicht anstehen würde zu sagen, der eigentliche Wert ja die Tugend des Menschen sei seine Originalität. –

[320] Und wenn ich einen so großen Akzent auf den Spinosa lege, so geschieht es wahrlich nicht aus einer subjektiven Vorliebe (deren Gegenstände ich vielmehr ausdrücklich entfernt gehalten habe) oder um ihn als Meister einer neuen Alleinherrschaft zu erheben; sondern weil ich an diesem Beispiel am auffallendsten und einleuchtendsten meine Gedanken vom Wert und der Würde der Mystik und ihrem Verhältnis zur Poesie zeigen konnte. Ich wählte ihn wegen seiner Objektivität in dieser Rücksicht als Repräsentanten aller übrigen. Ich denke darüber so. Wie die Wissenschaftslehre nach der Ansicht derer, welche die Unendlichkeit und die unvergängliche Fülle des Idealismus nicht bemerkt haben, wenigstens eine vollendete Form bleibt, ein allgemeines Schema für alle Wissenschaft: so ist auch Spinosa auf ähnliche Weise der allgemeine Grund und Halt für jede individuelle Art von Mystizismus; und dieses denke ich werden auch die bereitwillig anerkennen, die weder vom Mystizismus noch vom Spinosa sonderlich viel verstehn.

Ich kann nicht schließen, ohne noch einmal zum Studium der Physik [321] aufzufodern, aus deren dynamischen Paradoxien jetzt die heiligsten Offenbarungen der Natur von allen Seiten ausbrechen.

Und so laßt uns denn, beim Licht und Leben! nicht länger zögern, sondern jeder nach seinem Sinn die große Entwickelung beschleunigen, zu der wir berufen sind. Seid der Größe des Zeitalters würdig, und der Nebel wird von Euren Augen sinken; es wird helle vor Euch werden. Alles Denken ist ein Divinieren, aber der Mensch fängt erst eben an, sich seiner divinatorischen Kraft bewußt zu werden. Welche unermeßliche Erweiterungen wird sie noch erfahren; und eben jetzt. Mich däucht wer das Zeitalter, das heißt jenen großen Prozeß allgemeiner Verjüngung, jene Prinzipien der ewigen Revolution verstünde, dem müßte es gelingen können, die Pole der Menschheit zu ergreifen und das Tun der ersten Menschen, wie den Charakter der goldnen Zeit die noch kommen wird, zu erkennen und zu wissen. Dann würde das Geschwätz aufhören, und der Mensch inne werden, was er ist, und würde die Erde verstehn und die Sonne.

Dieses ist es, was ich mit der neuen Mythologie meine.


Antonio. Ich erinnerte mich während Ihrer Vorlesung an zwei Bemerkungen, die ich oft habe hören müssen, und die mir nun weit klarer geworden sind als zuvor. Die Idealisten versicherten mich aller Orten, Spinosa sei wohl gut, nur sei er durch und durch unverständlich. In den kritischen Schriften fand ich dagegen, jedes Werk des Genies sei zwar dem Auge klar, dem Verstande aber ewig geheim. Nach Ihrer Ansicht gehören diese Aussprüche zusammen, und ich ergötze mich aufrichtig an ihrer absichtslosen Symmetrie.

[322] Lothario. Ich möchte unsern Freund darüber zur Rede stellen, daß er die Physik so einzig zu nennen schien, da er sich doch stillschweigends überall auf die Historie gründete, die wohl der eigentliche Quell seiner Mythologie sein dürfte, ebensosehr als die Physik; wenn es anders erlaubt ist, einen alten Namen für etwas zu brauchen, was eben auch noch nicht existiert. Ihre Ansicht des Zeitalters indessen scheint mir so etwas, was den Namen einer historischen Ansicht in meinem Sinne verdient.

Ludoviko. Man knüpft da zunächst an, wo man die ersten Spuren des Lebens wahrnimmt. Das ist jetzt in der Physik.

Marcus. Ihr Gang war etwas rasch. Im einzelnen würde ich Sie oft bitten müssen, mir mit Erläuterungen Stand zu halten. Im ganzen aber hat Ihre Theorie mir eine neue Aussicht über die didaktische, oder wie unser Philologe sie nennt, über die didaskalische Gattung gegeben. Ich sehe nun ein, wie dieses Kreuz aller bisherigen Einteilungen notwendig zur Poesie gehört. Denn unstreitig ist das Wesen der Poesie eben diese höhere idealische Ansicht der Dinge, sowohl des Menschen als der äußern Natur. Es ist begreiflich, daß es vorteilhaft sein kann, auch diesen wesentlichen Teil des Ganzen in der Ausbildung zu isolieren.

Antonio. Ich kann die didaktische Poesie nicht für eine eigentliche Gattung gelten lassen, so wenig wie die romantische. Jedes Gedicht soll eigentlich romantisch und jedes soll didaktisch sein in jenem weitern Sinne des Wortes, wo es die Tendenz nach einem tiefen unendlichen Sinn bezeichnet. Auch machen wir diese Foderung überall, ohne eben den Namen zu gebrauchen. Selbst in ganz populären Arten wie z.B. im Schauspiel, fodern wir Ironie; wir fodern, daß die Begebenheiten, die Menschen, kurz das ganze Spiel des Lebens wirklich auch als Spiel genommen und dargestellt sei. Dieses scheint uns das Wesentlichste, und was liegt nicht alles darin? – Wir halten uns also nur an die Bedeutung des Ganzen; was den Sinn, das Herz, den Verstand, die Einbildung einzeln reizt, rührt, beschäftigt und ergötzt, scheint uns nur Zeichen, Mittel zur Anschauung des Ganzen, in dem Augenblick, wo wir uns zu diesem erheben.

[323] Lothario. Alle heiligen Spiele der Kunst sind nur ferne Nachbildungen von dem unendlichen Spiele der Welt, dem ewig sich selbst bildenden Kunstwerk.

Ludoviko. Mit andern Worten: alle Schönheit ist Allegorie. Das Höchste kann man eben weil es unaussprechlich ist, nur allegorisch sagen.

Lothario. Darum sind die innersten Mysterien aller Künste und Wissenschaften ein Eigentum der Poesie. Von da ist alles ausgegangen, und dahin muß alles zurückfließen. In einem idealischen Zustande der Menschheit würde es nur Poesie geben; nämlich die Künste und Wissenschaften sind alsdann noch eins. In unserm Zustande würde nur der wahre Dichter ein idealischer Mensch sein und ein universeller Künstler.

Antonio. Oder die Mitteilung und Darstellung aller Künste und aller Wissenschaften kann nicht ohne einen poetischen Bestandteil sein.

Ludoviko. Ich bin Lotharios Meinung, daß die Kraft aller Künste und Wissenschaften sich in einem Zentralpunkt begegnet, und hoffe zu den Göttern, Euch sogar aus der Mathematik Nahrung für Euren Enthusiasmus zu schaffen, und Euren Geist durch ihre Wunder zu entflammen. Ich zog die Physik aber auch darum vor, weil hier die Berührung am sichtbarsten ist. Die Physik kann kein Experiment machen ohne Hypothese, jede Hypothese auch die beschränkteste, wenn sie mit Konsequenz gedacht wird, führt zu Hypothesen über das Ganze, ruht eigentlich auf solchen, wenngleich ohne Bewußtsein dessen der sie gebraucht. – Es ist in der Tat wunderbar, wie die Physik, sobald es ihr [324] nicht um technische Zwecke, sondern um allgemeine Resultate zu tun ist, ohne es zu wissen, in Kosmogonie gerät, in Astrologie, Theosophie oder wie Ihrs sonst nennen wollt, kurz in eine mystische Wissenschaft vom Ganzen.

Marcus. Und sollte Plato von dieser nicht ebensoviel gewußt haben als Spinosa, der mir wegen seiner barbarischen Form nun einmal nicht genießbar ist.

Antonio. Gesetzt, Plato wäre auch was er doch nicht ist, ebenso objektiv in dieser Hinsicht als Spinosa: so war es doch besser, daß unser Freund den letzten wählte, um uns den Urquell der Poesie in den Mysterien des Realismus zu zeigen, grade weil bei ihm an keine Poesie der Form zu denken ist. Dem Plato hingegen ist die Darstellung und ihre Vollkommenheit und Schönheit nicht Mittel, sondern Zweck an sich. Darum ist schon seine Form, streng genommen, durchaus poetisch.

Ludoviko. Ich habe in der Rede selbst gesagt, daß ich den Spinosa nur als Repräsentanten anführe. Hätte ich weitläuftiger sein wollen, so würde ich auch vom großen Jakob Böhme geredet haben.

Antonio. An dem Sie zugleich hätten zeigen können, ob sich die Ideen über das Universum in christlicher Gestalt schlechter ausnehmen, als die alten, die Sie wieder einführen wollen.

[325] Andrea. Ich bitte die alten Götter in Ehren zu halten.

Lothario. Und ich bitte sich an die Eleusinischen Mysterien zu erinnern. Ich wünschte, ich hätte meine Gedanken darüber zu Papiere gebracht, um sie Euch in der Ordnung und Ausführlichkeit vorlegen zu können, welche die Würde und Wichtigkeit des Gegenstandes erfodert. Nur durch die Spuren von den Mysterien habe ich den Sinn der alten Götter verstehn lernen. Ich vermute, daß die Ansicht der Natur die da herrschte, den jetzigen Forschern, wenn sie schon reif dazu sind, ein großes Licht anzünden würde. Die kühnste und kräftigste, ja ich möchte fast sagen die wildeste und wütendste Darstellung des Realismus ist die beste. – Erinnern Sie mich wenigstens daran, Ludoviko, daß ich Ihnen bei Gelegenheit das orphische Fragment bekannt mache, welches von dem doppelten Geschlecht des Zeus anfängt.

Marcus. Ich erinnre mich einer Andeutung im Winckelmann, aus der ich vermuten möchte, daß er dieses Fragment ebenso hoch geachtet wie Sie.

[326] Camilla. Wäre es nicht möglich, daß Sie, Ludoviko, den Geist des Spinosa in einer schönen Form darstellen könnten; oder besser noch Ihre eigne Ansicht, das was Sie Realismus nennen?

Marcus. Das letzte würde ich vorziehn.

Ludoviko. Wer etwa dergleichen im Sinne hätte, würde es nur auf die Art können und sein wollen wie Dante. Er müßte, wie er, nur Ein Gedicht im Geist und im Herzen haben, und würde oft verzweifeln müssen ob sichs überhaupt darstellen läßt. Gelänge es aber, so hätte er genug getan.

Andrea. Sie haben ein würdiges Vorbild aufgestellt! Gewiß ist Dante der einzige, der unter einigen begünstigenden und unsäglich vielen erschwerenden Umständen durch eigne Riesenkraft, er selbst ganz allein, eine Art von Mythologie, wie sie damals möglich war, erfunden und gebildet hat.

Lothario. Eigentlich soll jedes Werk eine neue Offenbarung der Natur sein. Nur dadurch, daß es Eins und Alles ist, wird ein Werk zum Werk. Nur da durch unterscheidet sichs von Studium.

[327] Antonio. Ich wollte Ihnen doch Studien nennen, die dann in Ihrem Sinne zugleich Werke sind.

Marcus. Und unterscheiden sich nicht Gedichte, die darauf berechnet sind, nach außen zu wirken, wie z.B. vortreffliche Schauspiele, ohne so mystisch und allumfassend zu sein, schon durch ihre Objektivität von Studien, die zunächst nur auf die innere Ausbildung des Künstlers gehn, und sein letztes Ziel, jene objektive Wirkung nach außen erst vorbereiten?

Lothario. Sind es bloß gute Schauspiele, so sind es nur Mittel zum Zweck; es fehlt ihnen das Selbständige, Insichvollendete, wofür ich nun eben kein ander Wort finde als das von Werken, und es darum gern für diesen Gebrauch behalten möchte. Das Drama ist im Vergleich mit dem was Ludoviko im Sinne hat, nur eine angewandte Poesie. Doch kann, was in meinem Sinne ein Werk heißt, in einem einzelnen Fall sehr wohl auch objektiv und dramatisch in Ihrem Sinne sein.

Andrea. Auf die Weise würde unter den alten Gattungen nur in der epischen ein Werk in Ihrem großen Sinne möglich sein.

Lothario. Eine Bemerkung, die insofern richtig ist, daß im Epischen das eine Werk auch das einzige zu sein pflegt. Die tragischen und komischen Werke der Alten hingegen, sind nur Variationen, verschiedene Ausdrücke, eines und desselben Ideals. Für den systematischen Gliederbau, die Konstruktion und Organisation bleiben sie die höchsten Muster, und sind, wenn ich so sagen darf, die Werke unter den Werken.

Antonio. Was ich zum Gastmahl beitragen kann, ist eine etwas leichtere Speise. Amalia hat mir schon verziehn und erlaubt, daß ich meine besondern Belehrungen an sie allgemein machen darf.

[328]

Brief über den Roman

Ich muß, was ich gestern zu Ihrer Verteidigung zu sagen schien, zurücknehmen, liebe Freundin! und Ihnen so gut als völlig unrecht geben. Sie selbst geben es sich am Ende des Streites darin, daß Sie sich so tief eingelassen, weil es gegen die weibliche Würde sei, aus dem angebornen Element von heiterm Scherz und ewiger Poesie zu dem gründlichen oder schwerfälligen Ernst der Männer sich, wie Sie es richtig nannten, herabzustimmen. Ich stimme Ihnen gegen Sie selbst bei, daß Sie unrecht haben. Ja ich behaupte noch außerdem, daß es nicht genug sei, Unrecht anzuerkennen; man muß es auch büßen, und die wie mirs scheint, ganz zweckmäßige Buße dafür, daß Sie sich mit der Kritik gemein gemacht haben, soll nun sein, daß Sie sich die Geduld abnötigen, diese kritische Epistel über den Gegenstand des gestrigen Gesprächs zu lesen.

Ich hätte es gleich gestern sagen können, was ich sagen will; oder vielmehr ich konnte es nicht, meiner Stimmung und der Umstände wegen. Mit welchem Gegner hatten Sie zu tun, Amalia? Freilich versteht er das, wovon die Rede war, recht wohl und wie sichs für einen tüchtigen Virtuosen nicht anders gebührt. Er würde also darüber sprechen können so gut wie irgend einer, wenn er nur überhaupt sprechen könnte. Dieses haben ihm die Götter versagt; er ist, wie ich schon sagte, ein Virtuose und damit gut; die Grazien sind leider ausgeblieben. Da er nun so gar nicht ahnden konnte, was Sie im innersten Sinne meinten, und das äußerliche Recht so ganz auf seiner Seite war, so hatte ich nichts Angelegeners, als mit ganzer Stärke für Sie zu streiten, damit nur das gesellige Gleichgewicht nicht völlig zerstört würde. Und überdem ists mir natürlicher, wenn es ja sein muß, schriftliche Belehrungen zu geben als mündliche, die nach meinem Gefühl die Heiligkeit des Gesprächs entweihen.

Das unsrige fing damit an, daß Sie behaupteten, Friedrich Richters Romane seien keine Romane, sondern ein buntes Allerlei von kränklichem Witz. Die wenige Geschichte sei zu schlecht dargestellt um für Geschichte zu gelten, man müsse sie nur erraten. Wenn man aber auch alle zusammennehmen und sie rein erzählen wolle, würde das doch höchstens Bekenntnisse geben. Die Individualität des Menschen sei viel zu sichtbar, und noch dazu eine solche!

[329] Das letzte übergehe ich, weil es doch wieder nur Sache der Individualität ist. Das bunte Allerlei von kränklichem Witz gebe ich zu, aber ich nehme es in Schutz und behaupte dreist, daß solche Grotesken und Bekenntnisse noch die einzigen romantischen Erzeugnisse unsers unromantischen Zeitalters sind.

Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit ausschütten, was ich lange auf dem Herzen habe!

Mit Erstaunen und mit innerm Grimm habe ich oft den Diener die Haufen zu Ihnen hereintragen sehn. Wie mögen Sie nur mit Ihren Händen die schmutzigen Bände berühren? – Und wie können Sie den verworrnen, ungebildeten Redensarten den Eingang durch Ihr Auge in das Heiligtum der Seele verstatten? – Stundenlang Ihre Fantasie an Menschen hingeben, mit denen von Angesicht zu Angesicht nur wenige Worte zu wechseln Sie sich schämen würden? – Es frommt wahrlich zu nichts, als nur die Zeit zu töten und die Imagination zu verderben! Fast alle schlechten Bücher haben Sie gelesen von Fielding bis zu Lafontaine. Fragen Sie sich selbst was Sie davon gehabt haben. Ihr Gedächtnis selbst verschmäht das unedle Zeug, was eine fatale Jugendgewohnheit Ihnen zum Bedürfnis macht, und was so emsig herbeigeschafft werden muß, wird sogleich rein vergessen.

Dagegen erinnern Sie sich noch vielleicht, daß es eine Zeit gab, wo Sie den Sterne liebten, sich oft ergötzten, seine Manier anzunehmen, halb nachzuahmen, halb zu verspotten. Ich habe noch einige scherzhafte Briefchen der Art von Ihnen, die ich sorgsam bewahren werde. – Sternes Humor hatte Ihnen also doch einen bestimmten Eindruck gegeben; wenngleich eben keine idealisch schöne, so war es doch eine Form, eine geistreiche Form, die Ihre Fantasie dadurch gewann, und ein Eindruck, der uns so bestimmt bleibt, den wir so zu Scherz und Ernst gebrauchen und gestalten können, ist nicht verloren; und was kann einen gründlichern Wert haben als dasjenige, was das Spiel unsrer innern Bildung auf irgend eine Weise reizt oder nährt.

Sie fühlen es selbst, daß Ihr Ergötzen an Sternes Humor rein war, und von ganz andrer Natur, als die Spannung der Neugier, die uns oft ein durchaus schlechtes Buch, in demselben Augenblick, wo wir es so finden, abnötigen kann. Fragen Sie sich nun selbst, ob Ihr Genuß nicht verwandt mit demjenigen war, den wir oft bei Betrachtung der witzigen [330] Spielgemälde empfanden, die man Arabesken nennt. – Auf den Fall, daß Sie sich selbst nicht von allem Anteil an Sternes Empfindsamkeit freisprechen können, schicke ich Ihnen hier ein Buch, von dem ich Ihnen aber, damit Sie gegen Fremde vorsichtig sind, voraussagen muß, daß es das Unglück oder das Glück hat, ein wenig verschrien zu sein. Es ist Diderots »Fataliste«. Ich denke, es wird Ihnen gefallen, und Sie werden die Fülle des Witzes hier ganz rein finden von sentimentalen Beimischungen. Es ist mit Verstand angelegt, und mit sichrer Hand ausgeführt. Ich darf es ohne Übertreibung ein Kunstwerk nennen. Freilich ist es keine hohe Dichtung, sondern nur eine – Arabeske. Aber eben darum hat es in meinen Augen keine geringen Ansprüche; denn ich halte die Arabeske für eine ganz bestimmte und wesentliche Form oder Äußerungsart der Poesie.

Ich denke mir die Sache so. Die Poesie ist so tief in dem Menschen gewurzelt, daß sie auch unter den ungünstigsten Umständen immer noch zu Zeiten wild wächst. Wie wir nun fast bei jedem Volk Lieder, Geschichten im Umlauf, irgendeine Art wenngleich rohe Schauspiele im Gebrauch finden: so haben selbst in unserm unfantastischen Zeitalter, in den eigentlichen Ständen der Prosa, ich meine die sogenannten Gelehrten und gebildeten Leute, einige einzelne eine seltne Originalität der Fantasie in sich gespürt und geäußert, obgleich sie darum von der eigentlichen Kunst noch sehr entfernt waren. Der Humor eines Swift, eines Sterne, meine ich, sei die Naturpoesie der höhern Stände unsers Zeitalters.

Ich bin weit entfernt, sie neben jene Großen zu stellen; aber Sie werden mir zugeben, daß wer für diese, für den Diderot Sinn hat, schon besser auf dem Wege ist, den göttlichen Witz, die Fantasie eines Ariost, Cervantes, Shakespeare verstehn zu lernen, als ein andrer, der auch noch nicht einmal bis dahin sich erhoben hat. Wir dürfen nun einmal die Foderungen in diesem Stück an die Menschen der jetzigen Zeit nicht zu hoch spannen, und was in so kränklichen Verhält nissen aufgewachsen ist, kann selbst natürlicherweise nicht anders als kränklich sein. Dies halte ich aber, so lange die Arabeske kein Kunstwerk sondern nur ein Naturprodukt ist, eher für einen Vorzug, und stelle Richtern also auch darum über Sterne, weil seine Fantasie weit kränklicher, also weit wunderlicher und fantastischer ist. Lesen Sie nur überhaupt den Sterne einmal wieder. Es ist lange her, daß Sie ihn nicht gelesen haben, und ich denke er wird Ihnen etwas anders vorkommen wie damals. Vergleichen Sie dann immer [331] unsern Deutschen mit ihm. Er hat wirklich mehr Witz, wenigstens für den, der ihn witzig nimmt: denn er selbst könnte sich darin leicht Unrecht tun. Und durch diesen Vorzug erhebt sich selbst seine Sentimentalität in der Erscheinung über die Sphäre der engländischen Empfindsamkeit.

Wir haben noch einen äußern Grund diesen Sinn für das Groteske in uns zu bilden, und uns in dieser Stimmung zu erhalten. Es ist unmöglich, in diesem Zeitalter der Bücher nicht auch viele, sehr viele schlechte Bücher durchblättern, ja sogar lesen zu müssen. Einige unter diesen sind, darauf darf man mit einiger Zuversicht rechnen, glücklicherweise immer von der albernen Art, und da kommt es wirklich nur auf uns an, sie unterhaltend zu finden, indem wir sie nämlich als witzige Naturprodukte betrachten. Laputa ist nirgends oder überall, liebe Freundin; es kommt nur auf einen Akt unsrer Willkür und unsrer Fantasie an, so sind wir mitten darin. Wenn die Dummheit eine gewisse Höhe erreicht, zu der wir sie jetzt, wo sich alles schärfer sondert, meistens gelangen sehn, so gleicht sie auch in der äußern Erscheinung der Narrheit. Und die Narrheit, werden Sie mir zugeben, ist das Lieblichste, was der Mensch imaginieren kann, und das eigentliche letzte Prinzip alles Amüsanten. In dieser Stimmung kann ich oft ganz allein für mich über Bücher, die keinesweges dazu bestimmt scheinen, in ein Gelächter verfallen, was kaum wieder aufhören will. Und es ist billig, daß die Natur mir diesen Ersatz gibt, da ich über so manches, was jetzt Witz und Satire heißt, durchaus nicht mitlachen kann. Dagegen werden mir nun gelehrte Zeitungen z.B. zu Farcen, und diejenige welche sich die allgemeine nennt, halte ich mir ganz ausdrücklich, wie die Wiener den Kasperle. Sie ist aus meinem Standpunkte angesehen, nicht nur die mannigfaltigste von allen, sondern auch in jeder Rücksicht die unvergleichlichste: denn nachdem sie aus der Nullität in eine gewisse Plattheit gesunken, und aus dieser ferner in eine Art von Stumpfheit übergegangen war, ist sie zuletzt auf dem Wege der Stumpfheit endlich in jene närrische Dummheit verfallen.

[332] Dieses ist im ganzen für Sie schon ein zu gelehrter Genuß. Wollen Sie aber, was Sie leider nicht mehr lassen können, in einem neuen Sinn tun, so will ich nicht mehr über den Bedienten schelten, wenn er die Haufen aus der Leihbibliothek bringt. Ja ich erbiete mich selbst für dieses Bedürfnis Ihr Geschäftsträger zu sein, und verspreche Ihnen eine Unzahl der schönsten Komödien aus allen Fächern der Literatur zu senden.

Ich nehme den Faden wieder auf: denn ich bin gesonnen Ihnen nichts zu schenken, sondern Ihren Behauptungen Schritt vor Schritt zu folgen.

Sie tadelten Jean Paul auch, mit einer fast wegwerfenden Art, daß er sentimental sei.

Wollten die Götter, er wäre es in dem Sinne wie ich das Wort nehme, und es seinem Ursprunge und seiner Natur nach glaube nehmen zu müssen. Denn nach meiner Ansicht und nach meinem Sprachgebrauch ist eben das romantisch, was uns einen sentimentalen Stoff in einer fantastischen Form darstellt.

Vergessen Sie auf einen Augenblick die gewöhnliche übel berüchtigte Bedeutung des Sentimentalen, wo man fast alles unter dieser Benennung versteht, was auf eine platte Weise rührend und tränenreich ist, und voll von jenen familiären Edelmutsgefühlen, in deren Bewußtsein Menschen ohne Charakter sich so unaussprechlich glücklich und groß fühlen.

Denken Sie dabei lieber an Petrarca oder an Tasso, dessen Gedicht gegen das mehr fantastische Romanzo des Ariost, wohl das sentimentale heißen könnte; und ich erinnre mich nicht gleich eines Beispiels, wo der Gegensatz so klar und das Übergewicht so entschieden wäre wie hier.

Tasso ist mehr musikalisch und das Pittoreske im Ariost ist gewiß nicht das schlechteste. Die Malerei ist nicht mehr so fantastisch, wie sie es bei vielen Meistern der venezianischen Schule, wenn ich meinem Gefühl trauen darf, auch im Correggio und vielleicht nicht bloß in den Arabesken des Raffael, ehedem in ihrer großen Zeit war. Die moderne Musik hingegen ist, was die in ihr herrschende Kraft des Menschen betrifft, ihrem Charakter im ganzen so treu geblieben, daß ichs ohne Scheu wagen möchte, sie eine sentimentale Kunst zu nennen.

Was ist denn nun dieses Sentimentale? Das was uns anspricht, wo das Gefühl herrscht, und zwar nicht ein sinnliches, sondern das geistige. Die Quelle und Seele aller dieser Regungen ist die Liebe, und der Geist der Liebe muß in der romantischen Poesie überall unsichtbar sichtbar [333] schweben; das soll jene Definition sagen. Die galanten Passionen, denen man in den Dichtungen der Modernen, wie Diderot im »Fatalisten« so lustig klagt, von dem Epigramm bis zur Tragödie nirgends entgehn kann, sind dabei grade das wenigste, oder vielmehr sie sind nicht einmal der äußre Buchstabe jenes Geistes, nach Gelegenheit auch wohl gar nichts oder etwas sehr Unliebliches und Liebloses. Nein, es ist der heilige Hauch, der uns in den Tönen der Musik berührt. Er läßt sich nicht gewaltsam fassen und mechanisch greifen, aber er läßt sich freundlich locken von sterblicher Schönheit und in sie verhüllen; und auch die Zauberworte der Poesie können von seiner Kraft durchdrungen und beseelt werden. Aber in dem Gedicht, wo er nicht überall ist, oder überall sein könnte, ist er gewiß gar nicht. Er ist ein unendliches Wesen und mitnichten haftet und klebt sein Interesse nur an den Personen, den Begebenheiten und Situationen und den individuellen Neigungen: für den wahren Dichter ist alles dieses, so innig es auch seine Seele umschließen mag, nur Hindeutung auf das Höhere, Unendliche, Hieroglyphe der Einen ewigen Liebe und der heiligen Lebensfülle der bildenden Natur.

Nur die Fantasie kann das Rätsel dieser Liebe fassen und als Rätsel darstellen; und dieses Rätselhafte ist die Quelle von dem Fantastischen in der Form aller poetischen Darstellung. Die Fantasie strebt aus allen Kräften sich zu äußern, aber das Göttliche kann sich in der Sphäre der Natur nur indirekt mitteilen und äußern. Daher bleibt von dem, was ursprünglich Fantasie war, in der Welt der Erscheinungen nur das zurück was wir Witz nennen.

Noch eines liegt in der Bedeutung des Sentimentalen, was grade das Eigentümliche der Tendenz der romantischen Poesie im Gegensatz der antiken betrifft. Es ist darin gar keine Rücksicht genommen auf den Unterschied von Schein und Wahrheit, von Spiel und Ernst. Darin liegt der große Unterschied. Die alte Poesie schließt sich durchgängig an die Mythologie an, und vermeidet sogar den eigentlich historischen Stoff. Die alte Tragödie sogar ist ein Spiel, und der Dichter, der eine wahre Begebenheit, die das ganze Volk ernstlich anging, darstellte, ward bestraft. Die romantische Poesie hingegen ruht ganz auf historischem Grunde, weit mehr als man es weiß und glaubt. Das erste beste Schauspiel, das Sie sehn, irgend eine Erzählung die Sie lesen; wenn eine geistreiche Intrigue darin ist, können Sie fast mit Gewißheit darauf rechnen, daß wahre Geschichte zum Grunde liegt, wenngleich vielfach umgebildet.

[334] Boccaz ist fast durchaus wahre Geschichte, ebenso andre Quellen, aus denen alle romantische Erfindung hergeleitet ist.

Ich habe ein bestimmtes Merkmal des Gegensatzes zwischen dem Antiken und dem Romantischen aufgestellt. Indessen bitte ich Sie doch, nun nicht sogleich anzunehmen, daß mir das Romantische und das Moderne völlig gleich gelte. Ich denke es ist etwa ebenso verschieden, wie die Gemälde des Raffael und Correggio von den Kupferstichen die jetzt Mode sind. Wollen Sie sich den Unterschied völlig klar machen, so lesen Sie gefälligst etwa die »Emilia Galotti« die so unaussprechlich modern und doch im geringsten nicht romantisch ist, und erinnern sich dann an Shakespeare, in den ich das eigentliche Zentrum, den Kern der romantischen Fantasie setzen möchte. Da suche und finde ich das Romantische, bei den ältern Modernen, bei Shakespeare, Cervantes, in der italiänischen Poesie, in jenem Zeitalter der Ritter, der Liebe und der Märchen, aus welchem die Sache und das Wort selbst herstammt. Dieses ist bis jetzt das einzige, was einen Gegensatz zu den klassischen Dichtungen des Altertums abgeben kann; nur diese ewig frischen Blüten der Fantasie sind würdig die alten Götterbilder zu umkränzen. Und gewiß ist es, daß alles Vorzüglichste der modernen Poesie dem Geist und selbst der Art nach dahinneigt; es müßte denn eine Rückkehr zum Antiken sein sollen. Wie unsre Dichtkunst mit dem Roman, so fing die der Griechen mit dem Epos an und löste sich wieder darin auf.

Nur mit dem Unterschiede, daß das Romantische nicht sowohl eine Gattung ist als ein Element der Poesie, das mehr oder minder herrschen und zurücktreten, aber nie ganz fehlen darf. Es muß Ihnen nach meiner Ansicht einleuchtend sein, daß und warum ich fodre, alle Poesie solle romantisch sein; den Roman aber, insofern er eine besondre Gattung sein will, verabscheue.

Sie verlangten gestern, da der Streit eben am lebhaftesten wurde, eine Definition, was ein Roman sei; mit einer Art, als wüßten Sie schon, Sie würden keine befriedigende Antwort bekommen. Ich halte dieses Problem eben nicht für unauflöslich. Ein Roman ist ein romantisches Buch. – Sie werden das für eine nichtssagende Tautologie ausgeben. Aber ich will Sie zuerst nur darauf aufmerksam machen, daß man sich bei einem Buche schon ein Werk, ein für sich bestehendes Ganze denkt. Alsdann liegt ein sehr wichtiger Gegensatz gegen das Schauspiel darin, welches bestimmt ist angeschaut zu werden: der Roman hingegen war es von den [335] ältesten Zeiten für die Lektüre, und daraus lassen sich fast alle Verschiedenheiten in der Manier der Darstellung beider Formen herleiten. Das Schauspiel soll auch romantisch sein, wie alle Dichtkunst; aber ein Roman ists nur unter gewissen Einschränkungen, ein angewandter Roman. Der dramatische Zusammenhang der Geschichte macht den Roman im Gegenteil noch keineswegs zum Ganzen, zum Werk, wenn er es nicht durch die Beziehung der ganzen Komposition auf eine höhere Einheit, als jene Einheit des Buchstabens, über die er sich oft wegsetzt und wegsetzen darf, durch das Band der Ideen, durch einen geistigen Zentralpunkt wird.

Dies abgerechnet, findet sonst so wenig ein Gegensatz zwischen dem Drama und dem Roman statt, daß vielmehr das Drama so gründlich und historisch wie es Shakespeare z.B. nimmt und behandelt, die wahre Grundlage des Romans ist. Sie behaupteten zwar, der Roman habe am meisten Verwandtschaft mit der erzählenden ja mit der epischen Gattung. Dagegen erinnre ich nun erstlich, daß ein Lied ebenso gut romantisch sein kann als eine Geschichte. Ja ich kann mir einen Roman kaum anders denken, als gemischt aus Erzählung, Gesang und andern Formen. Anders hat Cervantes nie gedichtet, und selbst der sonst so prosaische Boccaccio schmückt seine Sammlung mit einer Einfassung von Liedern. Gibt es einen Roman, in dem dies nicht stattfindet und nicht stattfinden kann, so liegt es nur in der Individualität des Werks, nicht im Charakter der Gattung; sondern es ist schon eine Ausnahme von diesem. Doch das ist nur vorläufig. Mein eigentlicher Einwurf ist folgender. Es ist dem epischen Stil nichts entgegengesetzter als wenn die Einflüsse der eignen Stimmung im geringsten sichtbar werden; geschweige denn, daß er sich seinem Humor so überlassen, so mit ihm spielen dürfte, wie es in den vortrefflichsten Romanen geschieht.

Nachher vergaßen Sie Ihren Satz wieder oder gaben ihn auf und wollten behaupten: alle diese Einteilungen führten zu nichts; es gebe nur Eine Poesie, und es komme nur darauf an, ob etwas schön sei; nach der Rubrik könne nur ein Pedant fragen. – Sie wissen, was ich von den Klassifikationen, die so im Umlauf sind, halte. Aber doch sehe ich ein, daß es für jeden Virtuosen durchaus notwendig ist, sich selbst auf einen durchaus bestimmten Zweck zu beschränken; und in der historischen [336] Nachforschung komme ich auf mehre ursprüngliche Formen, die sich nicht mehr ineinander auflösen lassen. So scheinen mir im Umkreise der romantischen Poesie selbst Novellen und Märchen z.B., wenn ich so sagen darf, unendlich entgegengesetzt. Und ich wünsche nichts mehr, als daß ein Künstler jede dieser Arten verjüngen möge, indem er sie auf ihren ursprünglichen Charakter zurückführt.

Wenn solche Beispiele ans Licht träten, dann würde ich Mut bekommen zu einer Theorie des Romans, die im ursprünglichen Sinne des Wortes eine Theorie wäre: eine geistige Anschauung des Gegenstandes mit ruhigem, heitern ganzen Gemüt, wie es sich ziemt, das bedeutende Spiel göttlicher Bilder in festlicher Freude zu schauen. Eine solche Theorie des Romans würde selbst ein Roman sein müssen, der jeden ewigen Ton der Fantasie fantastisch wiedergäbe, und das Chaos der Ritterwelt noch einmal verwirrte. Da würden die alten Wesen in neuen Gestalten leben; da würde der heilige Schatten des Dante sich aus seiner Unterwelt erheben, Laura himmlisch vor uns wandeln, und Shakespeare mit Cervantes trauliche Gespräche wechseln; – und da würde Sancho von neuem mit dem Don Quixote scherzen.

Das wären wahre Arabesken und diese nebst Bekenntnissen, seien, behauptete ich im Eingang meines Briefs, die einzigen romantischen Naturprodukte unsers Zeitalters.

Daß ich auch die Bekenntnisse dazu rechnete, wird Ihnen nicht mehr befremdend sein, wenn Sie zugegeben haben, daß wahre Geschichte das Fundament aller romantischen Dichtung sei; und Sie werden sich – wenn Sie darüber reflektieren wollen, leicht erinnern und überzeugen, daß das Beste in den besten Romanen nichts anders ist als ein mehr oder minder verhülltes Selbstbekenntnis des Verfassers, der Ertrag seiner Erfahrung, die Quintessenz seiner Eigentümlichkeit.

Alle sogenannten Romane, auf die meine Idee von romantischer Form freilich gar nicht anwendbar ist, schätze ich dennoch ganz genau nach der Masse von eigner Anschauung und dargestelltem Leben, die sie enthalten; und in dieser Hinsicht mögen denn selbst die Nachfolger des Richardson, so sehr sie auf der falschen Bahn wandeln, willkommen sein. Wir lernen aus einer »Cecilia Beverley« wenigstens, wie man zu der Zeit, [337] da das eben Mode war, sich in London ennuyierte, auch wie eine britische Dame vor Delikatesse endlich zu Boden stürzt und sich blutrünstig fällt; das Fluchen, die Squires und dergleichen sind im Fielding wie aus dem Leben gestohlen, und der »Wakefield« gibt uns einen tiefen Blick in die Weltansicht eines Landpredigers; ja dieser Roman wäre vielleicht, wenn Olivia ihre verlorne Unschuld am Ende wieder fände, der beste unter allen engländischen Romanen.

Aber wie sparsam und tropfenweise wird einem in allen diesen Büchern das wenige Reelle zugezählt! Und welche Reisebeschreibung, welche Briefsammlung, welche Selbstgeschichte wäre nicht für den, der sie in einem romantischen Sinne liest, ein besserer Roman als der beste von jenen? –

Besonders die Confessions geraten meistens auf dem Wege des Naiven von selbst in die Arabeske, wozu sich jene Romane höchstens am Schluß erheben, wenn die bankerotten Kaufleute wieder Geld und Kredit, alle armen Schlucker zu essen bekommen, die liebenswürdigen Spitzbuben ehrlich und die gefallnen Mädchen wieder tugendhaft werden.

Die »Confessions« von Rousseau sind in meinen Augen ein höchst vortrefflicher Roman; die »Heloise« nur ein sehr mittelmäßiger.

Ich schicke Ihnen hier die Selbstgeschichte eines berühmten Mannes, die Sie, so viel ich weiß, noch nicht kennen: die Memoirs von Gibbon. Es ist ein un endlich gebildetes und ein unendlich drolliges Buch. Es wird Ihnen auf halbem Wege entgegenkommen, und wirklich ist der komische Roman, der darin liegt, fast ganz fertig. Sie werden den Engländer, den Gentleman, den Virtuosen, den Gelehrten, den Hagestolzen, den Elegant vom guten Ton in seiner ganzen zierlichen Lächerlichkeit durch die Würde dieser historischen Perioden so klar vor Augen sehn, wie Sie nur immer wünschen können. Gewiß man kann viel schlechte Bücher und viele unbedeutende Menschen durchsehn, ehe man so viel Lachstoff auf einem Haufen beisammen findet.

Nachdem Antonio diese Epistel vorgelesen hatte, fing Camilla an die Güte und Nachsicht der Frauen zu rühmen: daß Amalia ein solches Maß [338] von Belehrung anzunehmen nicht für zu gering geachtet; und überhaupt wären sie ein Muster von Bescheidenheit, indem sie bei dem Ernst der Männer immer geduldig, und, was noch mehr sagen wolle, ernsthaft blieben, ja sogar einen gewissen Glauben an ihr Kunstwesen hätten. – Wenn Sie unter der Bescheidenheit diesen Glauben verstehn, setzte Lothario hinzu, diese Voraussetzung einer Vortrefflichkeit, die wir noch nicht selbst besitzen, deren Dasein und Würde wir aber zu vermuten anfangen: so dürfte sie wohl die sicherste Grundlage aller edlen Bildung für vorzügliche Frauen sein. – Camilla fragte, ob es für die Männer etwa der Stolz und die Selbstzufriedenheit sei; indem sich jeder meistens um so mehr für einzig hielte, je unfähiger er sei zu verstehen, was der andre wolle. – Antonio unterbrach sie mit der Bemerkung, er hoffe zum Besten der Menschheit, jener Glaube sei nicht so notwendig als Lothario meine; denn er sei wohl sehr selten. Meistens halten die Frauen, sagte er, so viel ich habe bemerken können, die Kunst, das Altertum, die Philosophie und dergleichen für ungegründete Traditionen, für Vorurteile, die sich die Männer untereinander weismachen, um sich die Zeit zu vertreiben.

Marcus kündigte einige Bemerkungen Über Goethe an. »Also schon wieder Charakteristik eines lebenden Dichters?« fragte Antonio. Sie werden die Antwort auf Ihren Tadel in dem Aufsatze selbst finden, erwiderte Marcus, und fing an zu lesen.

Versuch über den [...] Styl in Goethes [...] Werken

Versuch über den verschiedenen Styl in Goethes früheren und späteren Werken

Goethes Universalität ist mir oft von neuem einleuchtend geworden, wenn ich die mannichfaltige Art bemerkte, wie seine Werke auf Dichter und Freunde der Dichtkunst wirken. Der eine strebt dem Idealischen[339] der »Iphigenia« oder des »Tasso« nach, der andre macht sich die leichte und doch einzige Manier der kunstlosen Lieder und reizenden Dramolets zu eigen; dieser ergötzt sich an der schönen und naiven Form des »Hermann«, jener wird ganz entzündet von der Begeistrung des »Faust«. Mir selbst bleibt der »Meister« der faßlichste Inbegriff, um den ganzen Umfang seiner Vielseitigkeit, wie in einem Mittelpunkte vereinigt, einigermaßen zu überschauen.

Der Dichter mag seinem eigentümlichen Geschmacke folgen, und selbst für den Liebhaber kann das eine Zeitlang hingehn: der Kenner aber, und wer zur Erkenntnis gelangen will, muß das Bestreben fühlen, den Dichter selbst zu verstehen, d.h. die Geschichte seines Geistes, so weit dies möglich ist, zu ergründen. Es kann dieses freilich nur ein Versuch bleiben, weil in der Kunstgeschichte nur eine Masse die andre mehr erklärt und aufhellt. Es ist nicht möglich, einen Teil für sich zu verstehen; d.h. es ist unverständig, ihn nur im einzelnen betrachten zu wollen. Das Ganze aber ist noch nicht abgeschlossen; und also bleibt alle Kenntnis dieser Art nur Annäherung und Stückwerk. Aber ganz aufgeben dürfen und können wir das Bestreben nach ihr dennoch nicht, wenn diese Annäherung, dieses Stückwerk ein wesentlicher Bestandteil zur Ausbildung des Künstlers ist.

Es muß diese notwendige Unvollständigkeit umso mehr eintreten bei der Betrachtung eines Dichters, dessen Laufbahn noch nicht geendigt ist. Doch ist das keineswegs ein Grund gegen das ganze Unternehmen. Wir sollen auch den mitlebenden Künstler als Künstler zu verstehen streben, und dies kann nur auf jene Weise geschehn; und wenn wir es wollen, so müssen wir ihn ebenso beurteilen, als ob er ein Alter wäre; ja er muß es für uns im Augenblick der Beurteilung gewissermaßen werden. Unwürdig aber wäre es, den Ertrag unsers redlichen Forschens etwa deswegen nicht mitteilen zu wollen, weil wir wissen, daß der Unverstand des Pöbels diese Mitteilung nach seiner alten Art auf mannichfache Weise mißdeuten wird. Wir sollen vielmehr voraussetzen, daß es mehre einzelne gibt, die mit dem gleichen Ernst wie wir nach gründlicher Erkenntnis dessen streben, von dem sie wissen, daß es das Rechte sei.

[340] Ihr werdet nicht leicht einen andern Autor finden, dessen früheste und spätere Werke so auffallend verschieden wären, wie es hier der Fall ist. Es ist der ganze Ungestüm der jugendlichen Begeisterung und die Reife der vollendeten Ausbildung im schärfsten Gegensatze. Diese Verschiedenheit zeigt sich aber nicht bloß in den Ansichten und Gesinnungen, sondern auch in der Art der Darstellung und in den Formen, und hat durch diesen künstlerischen Charakter eine Ähnlichkeit teils mit dem was man in der Malerei unter den verschiedenen Manieren eines Meisters versteht, teils mit dem Stufengang der durch Umbildungen und Verwandlungen fortschreitenden Entwicklung, welchen wir in der Geschichte der alten Kunst und Poesie wahrnehmen.

Wer mit den Werken des Dichters einigermaßen vertraut ist, und sie mit Aufmerksamkeit auf jene beiden auffallenden Extreme überdenkt, wird leicht noch eine mittlere Periode zwischen jenen beiden bemerken können. Statt diese drei Epochen im allgemeinen zu charakterisieren, welches doch nur ein unbestimmtes Bild geben würde, will ich lieber die Werke nennen, die mir nach reiflichem Überlegen diejenigen zu sein scheinen, deren jedes den Charakter seiner Periode am besten repräsentiert.

Für die erste Periode nenne ich den »Götz von Berlichingen«; »Tasso« ist es für die zweite und für die dritte »Hermann und Dorothea«. Alles dreies Werke im vollsten Sinne des Worts, mehr und mit einem höhern Maß von Objektivität, als viele andre aus derselben Epoche.

Ich werde sie mit Rücksicht auf den verschiedenen Styl des Künstlers kurz durchgehn, und einige Erläuterungen aus den übrigen Werken für denselben Zweck hinzufügen.

Im »Werther« verkündigt die reine Absonderung von allem Zufälligen in der Darstellung, die gerade und sicher auf ihr Ziel und auf das Wesentliche geht, den künftigen Künstler. Er hat bewundernswürdige Details; aber das Ganze scheint mir tief unter der Kraft, mit der im »Götz« die wackern Ritter der altdeutschen Zeit uns vor Augen gerückt, und mit der auch die Formlosigkeit, die denn doch zum Teil eben dadurch wieder Form wird, bis zum Übermut durchgesetzt ist. Dadurch bekommt selbst das Manierierte in der Darstellung einen gewissen Reiz, und das Ganze ist [341] ungleich weniger veraltet als der »Werther«. Doch eines ist ewig jung auch in diesem, und ragt einzeln aus seiner Umgebung hervor. Dieses ist die große Ansicht der Natur, nicht bloß in den ruhigen sondern in den leidenschaftlichen Stellen. Es sind Andeutungen auf den »Faust«, und es hätte möglich sein müssen, aus diesen Ergießungen des Dichters den Ernst des Naturforschers vorauszusagen.

Es war nicht meine Absicht, alle Produkte des Dichters zu klassifizieren, sondern nur die bedeutendsten Momente im Stufengange seiner Kunst anzugeben. Ich überlasse es daher Eurem eignen Urteil, ob Ihr etwa den »Faust« wegen der altdeutschen Form, welche der naiven Kraft und dem nachdrücklichen Witz einer männlichen Poesie so günstig ist, wegen des Hanges zum Tragischen, und wegen andrer Spuren und Verwandtschaften zu jener ersten Manier zählen wollt. Gewiß aber ist es, daß dieses große Bruchstück nicht bloß wie die benannten drei Werke den Charakter einer Stufe repräsentiert, sondern den ganzen Geist des Dichters offenbart, wie seitdem nicht wieder; außer auf andre Weise im »Meister«, dessen Gegensatz in dieser Hinsicht der »Faust« ist, von dem hier nichts weiter gesagt werden kann, als daß er zu dem Größten gehört, was die Kraft des Menschen je gedichtet hat.

An »Clavigo« und andern minder wichtigen Produkten der ersten Manier ist mir das am merkwürdigsten, daß der Dichter so früh schon einem bestimmten Zwecke, einem einmal gewählten Gegenstande zu Gefallen, sich genau und eng zu beschränken wußte.

Die »Iphigenia« möchte ich mir als Übergang von der ersten Manier zur zweiten denken.

Das Charakteristische im »Tasso« ist der Geist der Reflexion und der Harmonie; nämlich daß alles auf ein Ideal von harmonischem Leben und harmonischer Bildung bezogen und selbst die Disharmonie in harmonischem Ton gehalten wird. Die tiefe Weichlichkeit einer durchaus musikalischen Natur ist noch nie im Modernen mit dieser sinnreichen Gründlichkeit dargestellt. Alles ist hier Antithese und Musik, und das zarteste Lächeln der feinsten Geselligkeit schwebt über dem stillen [342] Gemälde, das sich am Anfange und Ende in seiner eignen Schönheit zu spiegeln scheint. Es mußten und sollten Unarten eines verzärtelten Virtuosen zum Vorschein kommen: aber sie zeigten sich im schönsten Blumenschmuck der Poesie beinah liebenswürdig. Das Ganze schwebt in der Atmosphäre künstlicher Verhältnisse und Mißverhältnisse vornehmer Stände, und das Rätselhafte der Auflösung ist nur auf den Standpunkt berechnet, wo Verstand und Willkür allein herrschen, und das Gefühl beinah schweigt. In allen diesen Eigenschaften finde ich den »Egmont« jenem Werk ähnlich oder auf eine so symmetrische Art unähnlich, daß er auch dadurch ein Pendant desselben wird. Auch Egmonts Geist ist ein Spiegel des Weltalls; die andern nur ein Widerschein dieses Lichts. Auch hier unterliegt eine schöne Natur der ewigen Macht des Verstandes. Nur ist der Verstand im »Egmont« mehr ins Gehässige nüanciert, der Egoismus des Helden hingegen ist weit edler und liebenswürdiger als der des Tasso. Das Mißverhältnis liegt schon ursprünglich in diesem selbst, in seiner Empfindungsweise; die andern sind mit sich selbst eins und werden nur durch den Fremdling aus höhern Sphären gestört. Im »Egmont« hingegen wird alles, was Mißlaut ist, in die Nebenpersonen gelegt. Klärchens Schicksal zerreißt uns, und von Brackenburgs Jammer – dem matten Nachhall einer Dissonanz – möchte man sich beinah wegwenden. Er vergeht wenigstens, Klärchen lebt im Egmont, die andern repräsentieren nur. Egmont allein lebt ein höheres Leben in sich selbst, und in seiner Seele ist alles harmonisch. Selbst der Schmerz verschmilzt in Musik, und die tragische Katastrophe gibt einen milden Eindruck.

Aus den leichtesten, frischesten Blumengestalten hervor atmet derselbe schöne Geist jener beiden Stücke in »Claudine von Villabella«. Durch die merkwürdigste Umbildung ist darin der sinnliche Reiz des »Rugantino«, in dem der Dichter schon früh das romantische Leben eines lustigen Vagabunden mit Liebe dargestellt hatte, in die geistigste [343] Anmut verklärt, und aus der gröberen Atmosphäre in den reinsten Äther emporgehoben.

In diese Epoche fallen die meisten der Skizzen und Studien für die Bühne. Eine lehrreiche Folge von dramaturgischen Experimenten, wo die Methode und die Maxime des künstlerischen Verfahrens oft wichtiger ist, als das einzelne Resultat. Auch der »Egmont« ist nach des Dichters Ideen von Shakespeares römischen Stücken gebildet. Und selbst beim »Tasso« konnte er vielleicht zuerst an das einzige deutsche Drama gedacht haben, welches durchaus ein Werk des Verstandes ist (obgleich eben nicht des dramatischen), an Lessings »Nathan«. Es wäre dies nicht wunderbarer als daß der »Meister«, an dem alle Künstler ewig zu studieren haben werden, in gewissem Sinne, der materiellen Entstehung nach ein Studium nach Romanen ist, die wohl vor einer strengen Prüfung weder einzeln als Werke, noch zusammen als eine Gattung gelten dürften.

Dies ist der Charakter der wahren Nachbildung, ohne die ein Werk kaum ein Kunstwerk sein kann! Das Vorbild ist dem Künstler nur Reiz und Mittel, den Gedanken von dem was er bilden will, individueller zu gestalten. So wie Goethe dichtet, das heißt nach Ideen dichten; in demselben Sinne, wie Plato fodert, daß man nach Ideen leben soll.

Auch der »Triumph der Empfindsamkeit« geht sehr weit ab vom Gozzi, und in Rücksicht der Ironie weit über ihn hinaus.

Wohin Ihr »Meisters Lehrjahre« stellen wollt, überlasse ich Euch. Bei der künstlichen Geselligkeit, bei der Ausbildung des Verstandes, die in der zweiten Manier den Ton angibt, fehlt es nicht an Reminiszenzen aus der ersten, und im Hintergrunde regt sich überall der klassische Geist, der die dritte Periode charakterisiert.

Dieser klassische Geist liegt nicht bloß im Äußerlichen: denn wo ich nicht irre, so ist sogar im »Reineke Fuchs« das Eigentümliche des Tons, was der Künstler an das Alte angebildet hat, von derselben Tendenz wie die Form.

[344] Metrum, Sprache, Form, Ähnlichkeit der Wendungen und Gleichheit der Ansichten, ferner das meistens südliche Kolorit und Kostüm, der ruhige weiche Ton, der antike Styl, die Ironie der Reflexion, bilden die Elegien, Epigramme, Episteln, Idyllen zu einem Kreise, gleichsam zu einer Familie von Gedichten. Man würde wohl tun, sie als ein Ganzes und in gewissem Sinne wie ein Werk zu nehmen und zu betrachten.

Vieles von dem Zauber und Reiz dieser Gedichte liegt in der schönen Individualität, die sich darin äußert und zur Mitteilung gleichsam gehn läßt. Sie wird durch die klassische Form nur noch pikanter.

In den Erzeugnissen der ersten Manier ist das Subjektive und das Objektive durchaus vermischt. In den Werken der zweiten Epoche ist die Ausführung im höchsten Grade objektiv. Aber das eigentlich Interessante derselben, der Geist der Harmonie und der Reflexion verrät seine Beziehung auf eine bestimmte Individualität. In der dritten Epoche ist beides rein geschieden, und »Hermann und Dorothea« durchaus objektiv. Durch das Wahre, Innige könnte es eine Rückkehr zur geistigen Jugend scheinen, eine Wiedervereinigung der letzten Stufe mit der Kraft und Wärme der ersten. Aber die Natürlichkeit ist hier nicht selbst eine natürliche Ergießung, sondern absichtliche Popularität für die Wirkung nach Außen. In diesem Gedicht finde ich ganz die idealische Haltung, die andre nur in der »Iphigenia« suchen.

Es konnte nicht meine Absicht sein, in einem Schema seines Stufenganges alle Werke des Künstlers zu ordnen. Um dies durch ein Beispiel anschaulicher zu machen, erwähne ich nur, daß Prometheus z.B. und die Zueignung mir würdig scheinen, neben den größten Werken desselben Meisters zu stehn. In den vermischten Gedichten überhaupt [345] liebt jeder leicht das Interessante. Aber für die würdigen Gesinnungen die hier ausgesprochen sind, lassen sich kaum glücklichere Formen wünschen, und der wahre Kenner müßte im Stande sein, allein aus einem solchen Stück die Höhe auf der alle stehn, zu erraten.

Nur vom »Meister« muß ich noch einige Worte sagen. Drei Eigenschaften scheinen mir daran die wunderbarsten und die größten. Erstlich, daß die Individualität, welche darin erscheint, in verschiedne Strahlen gebrochen, unter mehrere Personen verteilt ist. Dann der antike Geist, den man bei näherer Bekanntschaft unter der modernen Hülle überall wiedererkennt. Diese große Kombination eröffnet eine ganz neue endlose Aussicht auf das, was die höchste Aufgabe aller Dichtkunst zu sein scheint, die Harmonie des Klassischen und des Romantischen. Das dritte ist, daß das eine unteilbare Werk in gewissem Sinn doch zugleich ein zwiefaches, doppeltes ist. Ich drücke vielleicht, was ich meine, am deutlichsten aus, wenn ich sage: das Werk ist zweimal gemacht, in zwei schöpferischen Momenten, aus zwei Ideen. Die erste war bloß die eines Künstlerromans; nun aber ward das Werk, überrascht von der Tendenz seiner Gattung, plötzlich viel größer als seine erste Absicht, und es kam die Bildungslehre der Lebenskunst hinzu, und ward der Genius des Ganzen. Eine ebenso auffallende Duplizität ist sichtbar in den beiden künstlichsten und verstandvollsten Kunstwerken im ganzen Gebiet der romantischen Kunst, im »Hamlet« und im »Don Quixote«. Aber Cervantes und Shakespeare hatten jeder ihren Gipfel, von dem sie zuletzt in der Tat ein wenig sanken. Dadurch zwar, daß jedes ihrer Werke ein neues Individuum ist, eine Gattung für sich bildet, sind sie die einzigen, mit denen Goethes Universalität eine Vergleichung zuläßt. Die Art, wie Shakespeare den Stoff umbildet, ist dem Verfahren nicht unähnlich, wie Goethe das Ideal einer Form behandelt. Cervantes nahm auch individuelle [346] Formen zum Vorbilde. Nur ist Goethes Kunst durchaus progressiv, und wenn auch sonst ihr Zeitalter jenen günstiger, und es ihrer Größe nicht nachteilig war, daß sie von niemanden er kannt, allein blieb: so ist doch das jetzige wenigstens in dieser Hinsicht nicht ohne Mittel und Grundlagen.

Goethe hat sich in seiner langen Laufbahn von solchen Ergießungen des ersten Feuers, wie sie in einer teils noch rohen teils schon verbildeten Zeit, überall von Prosa und von falschen Tendenzen umgeben, nur immer möglich waren, zu einer Höhe der Kunst heraufgearbeitet, welche zum erstenmal die ganze Poesie der Alten und der Modernen umfaßt, und den Keim eines ewigen Fortschreitens enthält.

Der Geist, der jetzt rege ist, muß auch diese Richtung nehmen, und so wird es, dürfen wir hoffen, nicht an Naturen fehlen, die fähig sein werden zu dichten, nach Ideen zu dichten. Wenn sie nach Goethes Vorbilde in Versuchen und Werken jeder Art unermüdet nach dem Bessern trachten; wenn sie sich die universelle Tendenz, die progressiven Maximen dieses Künstlers zu eigen machen, die noch der mannichfaltigsten Anwendung fähig sind; wenn sie wie er das Sichre des Verstandes dem Schimmer des Geistreichen vorziehn: so wird jener Keim nicht verloren gehn, so wird Goethe nicht das Schicksal des Cervantes und des Shakespeare haben können; sondern der Stifter und das Haupt einer neuen Poesie sein, für uns und die Nachwelt, was Dante auf andre Weise im Mittelalter.


[347]

Andrea. Es freut mich, daß in dem mitgeteilten Versuch endlich das zur Sprache gekommen ist, was mir gerade die höchste aller Fragen über die Kunst der Poesie zu sein scheint. Nämlich die von der Vereinigung des Antiken und des Modernen; unter welchen Bedingungen sie möglich, inwiefern sie ratsam sei. Laßt uns versuchen, diesem Problem auf den Grund zu kommen!

Ludoviko. Ich würde gegen die Einschränkungen protestieren, und für die unbedingte Vereinigung stimmen. Der Geist der Poesie ist nur einer und überall derselbe.

Lothario. Allerdings der Geist! Ich möchte hier die Einteilung in Geist und Buchstaben anwenden. Was Sie in Ihrer Rede über die Mythologie dargestellt oder doch angedeutet haben, ist, wenn Sie wollen, der Geist der Poesie. Und Sie werden gewiß nichts dagegen haben können, wenn ich Metrum und dergleichen ja sogar Charaktere, Handlung, und was dem anhängt, nur für den Buchstaben halte. Im Geist mag Ihre unbedingte Verbindung des Antiken und Modernen stattfinden; und nur auf eine solche machte unser Freund uns aufmerksam. Nicht so im Buchstaben der Poesie. Der alte Rhythmus z.B. und die gereimten Sylbenmaße bleiben ewig entgegengesetzt. Ein drittes Mittleres zwischen beiden gibts nicht.

Andrea. So habe ich oft wahrgenommen, daß die Behandlung der Charaktere und Leidenschaften bei den Alten und den Modernen schlechthin verschieden ist. Bei jenen sind sie idealisch gedacht, und plastisch ausgeführt. Bei diesen ist der Charakter entweder wirklich historisch, oder doch so konstruiert als ob er es wäre; die Ausführung hingegen mehr pittoresk und nach Art des Porträts.

Antonio. So müßt Ihr die Diktion, die doch eigentlich wohl das Zentrum alles Buchstabens sein sollte, wunderlich genug zum Geist der Poesie rechnen. Denn obwohl auch hier in den Extremen jener allgemeine Dualismus sich offenbart, und im ganzen der Charakter der alten sinnlichen Sprache und unsrer abstrakten entschieden entgegengesetzt ist: so finden sich doch gar viele Übergänge aus einem Gebiete in das andre; und ich sehe nicht ein, warum es deren nicht weit mehr geben könnte, wenn gleich keine völlige Vereinigung möglich wäre.

Ludoviko. Und ich sehe nicht ein, warum wir uns nur an das Wort, nur an den Buchstaben des Buchstabens halten, und ihm zu Gefallen nicht anerkennen sollten, daß die Sprache dem Geist der Poesie näher steht, als andre Mittel derselben. Die Sprache, die, ursprünglich gedacht, identisch mit der Allegorie ist, das erste unmittelbare Werkzeug der Magie.

[348]

Lothario. Man wird beim Dante, bei Shakespeare und andern Großen Stellen, Ausdrücke finden, die an sich betrachtet schon das ganze Gepräge der höchsten Einzigkeit an sich tragen; sie sind dem Geist des Urhebers näher als andre Organe der Poesie es je sein können.

Antonio. Ich habe nur das an dem Versuch über Goethe auszusetzen, daß die Urteile darin etwas zu imperatorisch ausgedrückt sind. Es könnte doch sein, daß noch Leute hinter dem Berge wohnten, die von einem und dem andern eine durchaus andre Ansicht hätten.

Marcus. Ich bekenne es gern, daß ich nur gesagt habe, wie es mir vorkommt. Nämlich wie es mir vorkommt, nachdem ich aufs redlichste geforscht habe, mit Hinsicht auf jene Maximen der Kunst und der Bildung, über die wir im ganzen einig sind.

Antonio. Diese Einigkeit mag wohl nur sehr relativ sein.

Marcus. Es sei damit wie es sei. Ein wahres Kunsturteil, werden Sie mir eingestehen, eine ausgebildete, durchaus fertige Ansicht eines Werks ist immer ein kritisches Faktum, wenn ich so sagen darf. Aber auch nur ein Faktum, und eben darum ists leere Arbeit, es motivieren zu wollen, es müßte denn das Motiv selbst ein neues Faktum oder eine nähere Bestimmung des ersten enthalten. Oder auch für die Wirkung nach außen, wo eben nichts übrig bleibt, als zu zeigen, daß wir die Wissenschaft besitzen, ohne welche das Kunsturteil nicht möglich wäre, die es aber so wenig schon selbst ist, daß wir sie nur gar zu oft mit dem absoluten Gegenteil aller Kunst und alles Urteils aufs vortrefflichste zusammen bestehn sehn. Unter Freunden bleibt die Probezeigung der Geschicklichkeit besser weg, und es kann doch am Ende in jeder auch noch so künstlich zubereiteten Mitteilung eines Kunsturteils kein anderer Anspruch liegen, als die Einladung, daß jeder seinen eignen Eindruck ebenso rein zu fassen und streng zu bestimmen suche, und dann den mitgeteilten der Mühe wert achte, darüber zu reflektieren, ob er damit übereinstimmen könne, um ihn in diesem Falle frei- und bereitwillig anzuerkennen.

Antonio. Und wenn wir nun nicht übereinstimmen, so heißt es am Ende: Ich liebe das Süße. Nein, sagt der andre, ganz im Gegenteil, mir schmeckt das Bittre besser.

Lothario. Es darf über manches einzelne so heißen und dennoch bleibt ein Wissen in Dingen der Kunst sehr möglich. Und ich denke, wenn jene historische Ansicht vollendeter ausgeführt würde, und wenn es gelänge, die Prinzipien der Poesie auf dem Wege, den unser philosophischer Freund versucht hat, aufzustellen: so würde die Dichtkunst ein Fundament haben, dem es weder an Festigkeit noch an Umfang fehlte.

[349] Marcus. Vergessen Sie nicht das Vorbild, welches so wesentlich ist, uns in der Gegenwart zu orientieren, und uns zugleich beständig erinnert uns zur Vergangenheit zu erheben, und der bessern Zukunft entgegen zu arbeiten. Laßt wenigstens uns an jener Grundlage halten und dem Vorbilde treu bleiben.

Lothario. Ein würdiger Entschluß, gegen den sich nichts einwenden läßt. Und gewiß werden wir auf diesem Wege immer mehr lernen, uns über das Wesentliche einander zu verstehn.

Antonio. Wir dürfen also nun nichts mehr wünschen, als daß wir Ideen zu Gedichten in uns finden mögen, und dann das gerühmte Vermögen, nach Ideen zu dichten.

Ludoviko. Halten Sie es etwa für unmöglich, zukünftige Gedichte a priori zu konstruieren?

Antonio. Geben Sie mir Ideen zu Gedichten, und ich getraue mir, Ihnen jenes Vermögen zu geben.

Lothario. Sie mögen in Ihrem Sinne recht haben, das für unmöglich zu halten, was Sie meinen. – Doch weiß ich selbst aus eigner Erfahrung das Gegenteil. Ich darf sagen, daß einigemal der Erfolg meinen Erwartungen von einem bestimmten Gedicht entsprochen hat, was auf diesem oder jenem Felde der Kunst nun eben zunächst notwendig oder doch möglich sein möchte.

Andrea. Wenn Sie dieses Talent besitzen, so werden Sie mir also auch sagen können, ob wir hoffen dürfen, jemals wieder antike Tragödien zu bekommen.

Lothario. Es ist mir im Scherz und auch im Ernst willkommen, daß Sie diese Aufforderung an mich richten, damit ich doch nicht bloß über die Meinung der andern meine, sondern wenigstens eins aus eigner Ansicht zum Gastmahl beitrage. – Wenn erst die Mysterien und die Mythologie durch den Geist der Physik verjüngt sein werden, so kann es möglich sein, Tragödien zu dichten, in denen alles antik, und die dennoch gewiß wären durch die Bedeutung den Sinn des Zeitalters zu fesseln. Es wäre dabei ein größerer Umfang und eine größere Mannichfaltigkeit der äußern Formen erlaubt ja sogar ratsam, ungefähr so wie sie in manchen Nebenarten und Abarten der alten Tragödie wirklich stattgefunden hat.

Marcus. Trimeter lassen sich in unsrer Sprache so vortrefflich bilden wie Hexameter. Aber die chorischen Sylbenmaße sind, fürchte ich, eine unauflösliche Schwierigkeit.

Camilla. Warum sollte der Inhalt durchaus mythologisch und nicht auch historisch sein?

[350] Lothario. Weil wir bei einem historischen Süjet nun einmal die moderne Behandlungsart der Charaktere verlangen, welche dem Geist des Altertums schlechthin widerspricht. Der Künstler würde da auf eine oder die andre Art gegen die antike Tragödie oder gegen die romantische den kürzern ziehen müssen.

Camilla. So hoffe ich, daß Sie die Niobe zu den mythologischen Süjets rechnen werden.

Marcus. Ich möchte noch lieber um einen Prometheus bitten.

Antonio. Und ich würde unmaßgeblich die alte Fabel vom Apollo und Marsyas vorschlagen. Sie scheint mir sehr an der Zeit zu sein. Oder eigentlicher zu reden ist sie wohl immer an der Zeit in jeder wohl verfaßten Literatur.

Fußnote

Note:

1 Über die sogenannten unechten Stücke von Shakespeare und die Beweise ihrer Echtheit dürfen wir den Freunden des Dichters eine ausführliche Untersuchung von Tieck versprechen, dessen gelehrte Kenntnis und originelle Ansicht derselben die Aufmerksamkeit des Verfassers zuerst auf jene interessante kritische Frage lenkte.

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TextGrid Repository (2012). Schlegel, Friedrich. Ästhetische und politische Schriften. Gespräch über die Poesie. Gespräch über die Poesie. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-D788-D