[175] Arthur Schnitzler
Die kleine Komödie

Alfred von Wilmers an Theodor Dieling in Neapel

Mein lieber Theodor!

Besten Dank für Deinen Brief! Mensch, wie beneide ich Dich! Wie hat mir das entgegengesprüht und -geglüht aus Deinen Zeilen, was für ein Leben lebst Du! Du verstehst Dich eben aufs Alleinsein, und wenn Du eine Stunde ins Blaue hineinschaust, hast Du mehr hinter Dir, als wenn unsereiner ein Jahr lang herumabenteuert.

Ich bitte Dich recht schön, nenne meinen Zustand nicht Weltschmerz – es ist ein ganz gemeiner Ichschmerz, aber nein, nicht einmal das, Langeweile ist's – nichts weiter. Ich kann es mir nicht verhehlen, daß mir die Welt und ihre Leiden vollkommen egal sind. – Neulich bin ich durch den Fritz im Schreiben unterbrochen worden. Herr im Himmel, war das wieder ein Abend! Und ich wollte damals lustig sein. Es sollte einen letzten Versuch bedeuten. Ich trank, und ich bekam Kopfweh statt einen Rausch. Seine Geliebte kokettierte mit mir, es machte mich zornig, statt mich zu amüsieren. Eine Leere, eine Leere, sag' ich Dir!

Es steht fest: um mich aufzurütteln, muß etwas ganz Besonderes kommen. Ob ich aber dieses ganz Besondere überhaupt noch auffassen kann, wenn es schon die Güte haben sollte, zu erscheinen! Und dann wird mich jedenfalls der Zweifel plagen. Ist dieses Besondere nicht das Gewöhnliche in irgendeiner Verkleidung, die zu durchschauen ich schon zu stupid bin? – Siehst Du, jetzt kommt der Moment, wo ich es bedauere, kein Talent, aber auch zu gar nichts ein Talent zu haben! Ich erinnere mich jetzt mit einer Art Beschämung an die Zeit, wo ich zuweilen über Dich lächelte, weil Du Talent hattest. Das kam mir so gar nicht chic vor – und ich hatte eine souveräne Verachtung für alle Leute, die etwas leisten wollten. Und jetzt, ich sage Dir, wenn ich nur Porträte malen könnte, wäre ich schon glücklich. Das Photographieren habe ich nämlich ganz aufgegeben, nicht einmal darin hab'ich's zu was gebracht. Meine letzten zwei Kunstwerke waren: der Kahlenberg vom Leopoldiberg gesehen und der [176] Leopoldiberg vom Kahlenberg aus gesehen. Und schau, jetzt ist mir mein einziges, bescheidenes Talent verlorengegangen: mich zu unterhalten. Ja, ich vermeide ängstlich jede Gelegenheit, wo es noch möglich wäre – weil mich die letzten Enttäuschungen verstimmt haben. Kopfweh statt Rausch – das ist so die Signatur meiner ganzen Existenz. Also nur natürlich, daß ich mich vor dem Wein hüte. Heute ist Sonntag; und jetzt, während ich auf meinem Diwan lümmle und diese Zeilen mit Bleistift kritzle, sind sie alle beim Rennen unten. Um zwei hat der Fritz heraufgeschickt – ob ich nicht vielleicht doch mit hinunter möchte; ich bin zum Fenster gegangen und habe ihm abgewunken. Und dann ist er mit dem Fiaker davongesaust, und der Stangelberger, sein Kutscher, wie er mich im Morgenanzug beim Fenster lehnen sieht, kneift ein Auge zu und denkt sich: Aha, ein nächtliches Abenteuer, das sich bis zum nächsten Mittag ausdehnt! – Oh, wo sind die Zeiten, daß der Stangelberger recht gehabt hätt'!! Jetzt ist fünf. Noch ziemlich heiß, und meine Rouleaux sind heruntergelassen. Und ganz still, ganz still. Nach Tisch hab' ich eine Stunde geschlafen, und jetzt werde ich mich anziehn und als gemeiner Fußgänger hinunter in den Prater und die Rückfahrt vom Derby anschaun.

Erinnerst Du Dich noch an den schönen ersten Mai mit den zwei süßen Geschöpferln da unten – das sind jetzt zehn Jahre her. Damals sind wir den zwei Mupipusserln volle anderthalb Stunden nachgestiegen, bis die Mama verlorengegangen ist. – Und dann haben wir ihnen den Weg gezeigt! – Erinnerst Du Dich? – Allerdings haben sie den Weg schon gekannt! – Heut sollt' mir einer vorschlagen, einem weiblichen Wesen anderthalb Stunden nachzulaufen! – Wo ist die, für die ich solch eines Opfers fähig wäre?

Auf dem Konstantinhügel habe ich Rendezvous mit Fritz, Weidenthaler und so weiter. Natürlich die Weiber dabei! – Ich geh' nicht hin. Soll die Mizi den Fritz mit wem anderen betrügen; es kommt ihr doch sicher viel mehr aufs Betrügen an als auf mich! – Nein, nicht auf den Konstantinhügel, in den Wurstlprater geh' ich heut, mich so recht encanaillieren. – Erstens mich vor'n Wurstl hinstellen, zuschauen, und wenn sie den Juden totschlagen, werd' ich eine Freud' haben wie ein Schneidergesell! Und dann geh' ich in den Velozipedzirkus, wo die käuflichen Damen mit den siebenfarbigen Strümpfen herumradeln – und dann gehe ich zum Wahrsager und zum Präuscher samt Extrakabinett. Und zum Calafatti.

[177] Servus, mein Lieber, schreib mir was, und ich laß die schönen Neapolitanerinnen grüßen.

Dein
Alfred

Josefine Weninger an Helene Beier in Paris

Meine liebe gute Helene!

Also eine große Neuigkeit. – Du ahnst es schon, mit dem Emil ist es nämlich aus. Nun ja, es macht doch immer ein bißchen traurig, denn der Abschied ist nun einmal doch ein Abschied; und das Adieusagen, Adieu auf immerdar, wie ich schon oben gesagt, ist eine große Melancholie. Aber wenn ich grad nicht dran denke, befinde ich mich eigentlich viel wohler als in der ganzen letzten Zeit. Es waren nämlich sehr unangenehme Tage, diese letzten, bevor es zum Bruche kam. Ich habe es schon lange bemerkt, wie ich Dir ja neulich schrieb, meine gute Helene. Wenn er abends zu mir kommen sollte, Absagen, zwei in einer Woche, und dann hat er mich öfters allein in' Prater fahren lassen und mich sogar ins Theater geschickt, ohne daß er drin war! – Na, das kennt man, das ist dann schon nicht mehr die wahre Liebe! Ich nehme es ihm nicht übel; denn ich hab' in der letzten Zeit wirklich schon gar nicht mehr für ihn geschwärmt. Aber ich muß Dir doch das Ganze erzählen, wie es schließlich gekommen ist.

Letzten Dienstag, also heut vor acht Tagen, kommt wieder so ein Brieferl von ihm, abends um halb acht, er kann nicht erscheinen. Morgen zu Mittag wird er so frei sein zu fragen, wie ich geruht. Du weißt, er hat immer solche Höflichkeitsformeln gehabt, was mir sehr gut gefallen hat, nie was Rohes, nie – immer, als wenn er mir höchstens die Hand küssen dürfte. – Ein schöner Abend war's auch, ich eine fürchterliche Langweil vor mir – da denk' ich mir, nimmst dir einen Wagen und fahrst spazieren. Es war schon halb dunkel, also ich nehm' mir einfach den Mantel um und lauf' hinunter. Wie ich dann um den Ring fahre, wird mir riesig wohl, die Luft war so angenehm, so mild, und ich denk' mir, es ist ganz gut, daß die ganze Geschichte endlich aus wird. In dem Moment waren mir alle Männer ganz gleichgültig – aber vollkommen; nicht nur er, was ich ja schon gewöhnt war.

Ich laß den Kutscher langsam fahren, steig' beim Stadtpark aus, laß ihn nachfahren, steig' beim Museum wieder ein und dann [178] um den ganzen Qual und Ring herum; und wie ich nach Hause komme, ist richtig neun vorbei. Ich gemütlich hinauf; da sagt mir die Lina: »Fräulein, der gnädige Herr ist schon seit einer Stund' drin.« Was? denk' ich mir und geh' in den Salon, da ist's aber dunkel, und dann ins rote Zimmer. – Da sitzt er richtig auf dem Diwan, mit dem Überzieher, und klopft mit dem Spazierstock auf dem Boden herum. Er schaut auf, wie ich hineinkomme, und fragt: »Woher denn, mein Fräulein?« – Ganz ruhig. – Ich erwidere darauf, der Wahrheit gemäß, denn zum Lügen war ja kein Grund: »Nachdem du mir geschrieben hast, daß du nicht kommst, hab' ich mir einen Wagen genommen und bin rund um den Ring gefahren, weil's so schön war.« – »So«, sagt er, steht auf, und immer noch mit dem Überzieher, spaziert er im Zimmer hin und her, ohne mich anzuschauen. – »Was hast denn?« frage ich. – Keine Antwort. Ich laß ihn stehn und geh' in den Salon und hör' ihn noch alleweil drin auf und ab laufen. Ich geb' der Lina meinen Mantel und schick' sie um Zigaretten, weil mir meine ausgegangen sind, und gehe wieder zum Emil hinein, weil's mir schließlich zu dumm war. »Lieber Emil«, sage ich, »das vertrag 'ich nicht. Wenn's dir nicht recht ist, daß ich spazierenfahr', so sag's grad heraus, liegt mir sowieso nichts daran. Im übrigen, wenn du mir schreibst, daß du nicht kommst, so hab' ich ja nicht die Verpflichtung, mich ins Zimmer einzusperren und Trübsal zu blasen. Da schauet' ich gut aus, jetzt, wo ich das dreimal in der Woche erleben kann«, und so weiter. – Jetzt fängt er plötzlich zu reden an, bleibt mitten im Zimmer stehen und kreuzt die Hände hinterm Überzieher, so daß das Spazierstaberl über seinem Kopf in die Luft schaut. »Du hast recht«, sagt er, »es kann nicht so weitergehen, und ich kann es wirklich nicht über mich nehmen, von dir zu verlangen, daß du drei Tage in jeder Woche allein zu Hause bleibst; ich sehe das ein!«

Aha, denk' ich mir und frag': »Also, was willst du, und warum schneid'st du ein Gesicht, und warum kommst du, wenn du mir abschreibst, und warum schreibst du mir ab, wenn du dann doch kommst?« Darauf sagt er: »Es war eine Zeit, Pepi, wo du sehr glücklich warst, wenn ich unerwartet gekommen bin – das ist nun freilich vorbei.« – Ich mach' drauf einen Schnabel. – Er setzt fort: »Das ist der Lauf der Welt, ich merke es schon lange, und wenn ich nicht wüßte, daß es dich sehr wenig kränkt, würde ich dir wahrscheinlich seltener absagen. Aber ich vermute, daß du mich nicht allzuschwer entbehrst.« – So ungefähr war's, und ich [179] weiß nur, daß ich darauf gesagt hab': »Nachlaufen werd' ich dir nicht.« – »Das verlange ich auch nicht«, meinte er, »im Gegenteil.« – Nun war's eigentlich beinah heraus, und ich sage: »Im Gegenteil? Das heißt wohl, es ist dir recht angenehm, daß ich dir nicht nachlaufe?« – Jetzt macht er eine ungeduldige Bewegung und stellt sich zum Fenster hin, mit dem Rücken zu mir. Dann murmelt er: »Verdreh mir doch nicht die Wörter im Mund.« Auf das hin stell' ich mich ruhig zu ihm und sage: »Ach, sag's lieber grad heraus, was du mir mitzuteilen hast – es hat ja sicher seinen Grund, daß du mir zuerst abschreibst, dann doch heraufkommst und jetzt so zuwider bist!« Wie ich so neben ihm steh', nimmt er plötzlich meinen Kopf zwischen die Hände und küßt mich auf die Stirn; alles beim Fenster, aber die Rouletten waren zu. Er küßt mich einmal und noch einmal und wieder und schließlich sehr, sehr lang. Ich rühr' mich nicht, laß es ruhig geschehen und sag' nur leise, während er mich noch immer küßt: »Du kommst heute, mir adieu sagen?« Da läßt er mich los. »Was ist das für eine Idee«, fragt er mit einem gezwungenen Lächeln. Ich nehme seine beiden Hände und sage: »So sei doch froh, daß ich dir's so leicht mache. Du hättest es nicht bald so gut treffen können!« – »Ja, freilich«, platzt er heraus, »weil du selber froh darüber bist, und weil du mich selber los sein möchtest.« Und jetzt fängt er an, mir Vorwürfe zu machen, wie er schon lang merkt, daß ich ihn eigentlich nicht lieb hab', und meine Zärtlichkeit ist eine Komödie, und was weiß ich noch! Und es hätte nicht so kommen müssen, durchaus nicht, aber ein Mann merkt das schon, und es ist schließlich kein Wunder, wenn man dann noch von anderer Seite gedrängt wird, daß man sich nach einer wahren Liebe sehnt, und so fort. – Ich war in einer Tour die Ruhige. »Du hast ja ganz recht«, sag' ich, »aber ich glaube nicht, daß ich die Schuld trage, und wahrscheinlich hast du sie auch nicht, sondern es hat ja schließlich so kommen müssen, und das liegt in den Verhältnissen. Ich kann dir nur sagen, daß ich dich immer sehr lieb gehabt hab' und dir wünsche, daß du ein Wesen findest, das dich so lieb hat, wie ich dich gehabt hab', und das dich glücklich macht« – und so weiter, was man in solchen Fällen sagt, aber ich hab' in dem Moment gespürt, daß ich ihn wirklich sehr gern gehabt hab' und daß so ein Abschied immer was Rührendes hat, auch wenn man sich schon lange darauf freut. Dann haben wir uns auf den Diwan gesetzt, und er zieht endlich den Überzieher aus, und wir kommen so recht ins Plaudern. Und ich erzähle ihm, wie ich ihm treu gewesen bin die [180] ganzen zwei Jahr', und wie schön es überhaupt war, und er sagt, er wird mir sein Leben lang dankbar sein für alle Güte und Zärtlichkeit, die ich ihm entgegengebracht habe, und es ist eigentlich gar nicht wahr, daß man jemals aufhört, jemanden zu lieben, und es sind eben wirklich nur die Verhältnisse, und er wird für alle Fälle mein Freund bleiben, und eben als wahrer Freund ist er aufrichtig und muß mir adieu sagen. Und zieht mich an sich und streichelt mir die Haare und fängt wieder an mich zu küssen, aber nicht nur die Stirne. Ich muß Dir gestehen, ich hab' sogar ein bißchen geweint, meine gute Helene, Du wirst es begreifen, nicht wahr?

Und so ist es schließlich zwölf Uhr geworden vor lauter Abschiednehmen, und rührend war's, wie er später noch vor dem Diwan gekniet ist und mir die Hand geküßt hat. Das ist meine letzte Erinnerung an ihn, denn während dem Handküssen bin ich eingeschlafen, und wie ich mitten in der Nacht aufwache, ist die Lampe heruntergedreht, und er ist weg – auf und davon.

Na, und seither hab' ich ihn nicht gesehen und hab' nichts gehört, und die Geschicht' ist aus. – Was sagst Du?? Und wenn Du mich fragst, was ich mach' oder machen will, ich weiß selber nicht. – Vorläufig bin ich ganz zufrieden. Ich ruhe mich aus, hab' einen famosen Schlaf, rauch' meine zwanzig Zigaretten im Tag und denk' mir: Wenn's nur immer so bliebe! Es ist eben alles nur Gewohnheit. Zwar sind es erst acht Tage, aber wenn's nach mir geht, leb' ich den ganzen Sommer so. Ich lese jetzt den ganzen Tag Romane, neulich einen, den empfehle ich Dir wirklich an: Da steht etwas, was ich mir schon lange denk', nämlich, daß eigentlich wir die anständigen Frauen sind. Ja, wir sind gar nicht weniger wie die andern, steht in dem Roman, wir sind mehr, weil wir natürlich sind, und er beweist's auch in dem Roman. Du mußt ihn lesen, wart, ich laß ihn Dir von der Lina einpacken und schick' ihn Dir.

Jetzt bin ich neugierig, ob Du mir einen so langen Brief schreiben wirst! Wie verbringt Ihr denn eigentlich Eure Zeit? Fleißig im Theater? Bist Du schön brav und kokettierst nicht viel mit den Herren Parisern?

Was, meine gute Helene, wer uns das prophezeit hätte! Gott, wenn ich so denk', die erste Zeit auf der Wieden, wie ich in allem Ernst zum Theater gegangen bin, weil ich mir gedacht hab', die fünfzig Gulden monatlich kann ich gut brauchen! Und wie mich der Anton alle Abend abgeholt hat, und wir sind in ein Wirtshaus [181] gegangen und haben einen Rostbraten mit gestürzten Erdäpfeln gegessen! Meiner Mutter, wonach Du Dich erkundigst, geht es übrigens sehr gut, sie hat mich auch unter den letzten acht Tagen einmal besucht, und sie läßt Dich grüßen. Aber jetzt ist's wirklich genug, glaub' ich, und ich bitte freundlichst um eine ebensolche Antwort. Grüß den Deinigen!

Seid Ihr schon mit Eueren Sommerplänen im reinen? Und sei so gut und mach' nur keine Unvorsichtigkeiten. Ich habe so eine Ahnung: Du bist auf einem guten Wege, das heißt, Du könntest eine Frau Gemahlin werden. Also, spar Dir eventuelle schöne Pariser auf später auf. Oder auch gar nicht.

Eingebildet brauchst Du aber nicht zu werden, wenn er Dich heiratet, wirst in dem Roman schon lesen, daß Du dann eigentlich viel weniger bist als früher.

Also nochmals Gruß und Kuß. Deine alte

Josefine

Alfred von Wilmers an Theodor Dieling in Neapel [1]

Alfred von Wilmers an Theodor Dieling in Neapel

Lieber Freund und Dichter!

Ich hab' mir's ja gedacht! Nicht ohne Grund bleibt man noch im Sommer in Neapel! Du drückst Dich zwar so diskret aus, daß ich keine Ahnung habe, ob es sich um eine Prinzessin oder um eine Orangenverkäuferin handelt und ob der durch Olivenzweige glänzende Mond oder das Licht einer blauen Kristallampel »Zeuge Deiner Seligkeiten« ist, aber das ist ja auch nebensächlich. Und diese Liebschaften in der Fremde haben einen so besonderen Reiz! Das Ende kommt so ungezwungen –, eines Morgens reist man ab, nachdem man am Abend vorher – keinen Abschied genommen. Nachreisen tun sie einem ja doch nicht: erstens ist es zu kostspielig, und zweitens ist es der Verräter nicht wert, und drittens gibt es ja noch andere Männer in der Nähe. Was mich anbelangt, mein verehrter Dichter, kann ich Dir kaum was Neues mitteilen. Es sei denn, daß ich noch einsamer geworden bin seit dem Derbytage, an welchem ich Dir das letzte Mal schrieb. Du, damals bin ich richtig in den Wurstlprater gegangen, aber – es war ekelhaft. Bevor Dampfbäder und Parfüms ins niedere Volk gedrungen sind, werde ich mich kaum mit demselben befreunden können. Das ist wahrscheinlich eine Gemeinheit von mir; aber ich kann mir nicht helfen. Ich möcht' ja so gern, daß es allen [182] Menschen gut ging', aber ich frag' nur: Wenn die Glücklichen auch in einem fort unglücklich darüber wären, daß es Unglückliche gibt, wo wären denn dann überhaupt die glücklichen Leut'!

Glücklich – das ist so gesagt. Ich gehöre zu der Sorte, die man dafür hält; in Wirklichkeit geht's manchen, welche sich für vier Kreuzer Rum und damit Lebenslust kaufen können, viel besser. – Nämlich nach dem Wurstlprater bin ich doch noch auf den Konstantinhügel. – Ach ja! Ich dachte anfangs, der Kontrast müsse wirken! Ich machte mir das selbst möglichst deutlich. Siehst Du, jetzt warst Du unter lauter Menschen, mit zerfransten Hosen, fettigen Hüten, rauhen Stimmen – die »Kurze« rauchen, die sich die ganze Woche gerackert haben und den muffigen Geruch ihrer Vorstadtwohnungen in den Haaren tragen –, unter Weibern, die sich in der Küche geplagt haben und mit den Kindern und mit allem möglichen »Häuslichen« –, unter Dirnen, die sich heute abend in den Praterauen werden liebkosen lassen; – – und jetzt kommst Du zu den wohlsoignierten Herren in eleganten Sommerkostümen – die leise sprechen, heute früh ihr Bad genommen haben, ägyptische Zigaretten oder Pfosten à 2.50 rauchen und zwölf Glas Cognac trinken, ohne um eine Nuance röter im Gesichte zu wer den –, zu den Damen mit gepflegten, rosigen Nägeln – welche schwarze Seidenstrümpfe tragen, zum Teil auch schwarze Seidenhemden (Fritz behauptet es, und Weidenthaler lächelt dazu in sich hinein) – die nach Violette de Parme duften und alle Gemeinheit nur in der Seele haben! – Wie hübsch, wie taktvoll das ist! Da ich mich um ihre Seele nicht kümmere, sind sie einfach entzückend. – Also wie gesagt, ich freue mich schon, und komme hinauf, und da, in einem der Zelte, sitzen sie richtig alle beisammen, Fritz und die Seine, Malkowsky und die Seine, Weidenthaler alleine – und außerdem haben sie sich noch den Fellner mitgebracht, Du kennst ihn ja, der den Girardi kopiert und krakauerische Couplets singt und überhaupt viel lustiger ist, als seine Nebenmenschen begreifen, welchen er je nach Rang und Alter zwischen fünf und zweihundert Gulden schuldig ist.

Also da bin ich plötzlich unter ihnen und mach' mir den Kontrast recht deutlich. Ich sauge den Duft ein, der von den knisternden Kleidern der Damen und ihren Haaren ausgeht, ich berühre mit meinem Fuße die reizend chaussierten Füßerln, alles sozusagen aus wissenschaftlichem Interesse. Ich höre dem Fellner zu Couplets singen und lach' mit und erkläre mir: Der ist doch wirklich ein lieber Kerl. Ich trinke mit der Kleinen vom Fritz [183] Bruderschaft, während er mir immerfort zuredet: Na, gebt's euch nur ein Pussel – lächerlich, unter Kameraden! und ich laß mir ein Pussel geben und spüre ihre Zahnderln an meinen Lippen, was ja eigentlich sogar unter Kameraden nicht mehr egal ist – ich trink' vier Glas Cognac, Prunier mit sechs Sternen, und rauch' einen Pfosten à 2.50 – und immerfort, immerfort hab' ich das vertrackte Gefühl: Ja, amüsant ist das alles durchaus nicht! Und es wird später, und unten warten die Fiaker, und in einen setzt sich der Weidenthaler und der Malkowsky mit Seiner, und der Fellner auf den Bock hinauf, als wenn's ein Witz wär', indessen hätte er sonst zu Fuß in die Stadt müssen, und in den zweiten ziehn mich Fritz und seine Donna, sie sitzt zwischen uns. Also jetzt, weil's gar so fidel war und ein gar so schöner Abend, noch einmal zum Lusthaus hinuntergerast, durch die dunkeln Alleen, so dunkel, daß man seine eigene Geliebte nicht sehen kann, was sich Mizi natürlich sehr zu Nutzen macht, und dann wieder zurück, und der Fellner auf dem Bock singt: »'s Herz von an echten Weana« – und die Kleine vom Malkowsky will tauschen, das heißt nämlich, der Weidenthaler soll in den andern Wagen und ich zu ihnen, und die Fritzische will mich nicht hergeben. Kurz, es war ungeheuer fidel! Und jetzt zum Prater hinaus. Wohin? Noch zum Sacher, heißt es, ins Separee, ein bissel Klavierspielen und tanzen. Gut also, zum Sacher. Der Fellner springt vom Bock, spielt den Lakai, öffnet die Wagenschläge, die Weiber hüpfen heraus, wir finden den kleinen Salon frei, den mit dem Klavier, es wird Champagner und Cognac gebracht; der Weidenthaler setzt sich zum Klavier, spielt einen Walzer, Fritz wünscht dringend, ich möchte mit Mizi tanzen, Bruderschaft tanzen, Bruderschaft tanzen, es wird also gewalzt, Malkowskys edle Dame empfindet Übelkeiten, liegt auf dem Kanapee, Weidenthaler knöpfelt die Taille auf, und allgemein wird ihr rosa Mieder bewundert. – Plötzlich sagt sie: Mir ist schon wieder gut, Kinder, und weiter wird gewalzt, und der Fellner macht großartige Pirouetten, erfindet einen Solotanz, über den man sich kugelt. Er kopiert die Cereale, die Rathner und schließlich den Girardi. Fritz lümmelt in einer Ecke, schlägt nur noch zeitweise die Augen auf, Weidenthaler haut blödsinnig auf die Tasten los; ein besorgter Kellner erscheint an der Türe. – Es wird still, in malerischen Gruppen sitzt man um den Tisch herum, Malkowsky, riesig elegant, entfernt sich und begleicht vor der Tür die Rechnung. Champagner hat man getrunken, Cognac auch, jetzt also noch Champagner mit Cognac, und das schöne [184] Fest hat ein Ende. – Und nun treten wir alle hinaus. Die zwei Paare winken uns gnädigst aus den Fiakern Lebewohl zu, und Weidenthaler, Fellner und ich stehen da.

Wir wollen noch ins Scheidl, da stehen aber schon die Sesseln auf den Tischen, die Kellner kehren aus, und die Lichter sind zum Teil abgedreht. Bleibt also nur noch ein Nachtcafé. Weidenthaler und Fellner können nicht anders; ich drücke ihnen freundlich die Hand und verlasse sie. – Hierauf folgt ein langer einsamer Spaziergang um den ganzen Ring. Der Morgen brach an, es war eine herrliche Luft, und ich fühlte – das muß anders werden. Das geht nicht mehr so weiter, diese Gesellschaft, dieser Ton, diese Hohlheit, diese Verblödung, nein, nein, nein! – Die Weiber und die Männer sind mir gleich zuwider. Die Parfüms und die Seidenstrümpfe sind doch nicht alles, wenn sie alles sind! – Ich ging den Stadtpark entlang, der erste Dämmerschein des Tages lag schon drüber. Da sind nun die Erinnerungen gekommen. – An das, was ich Jugendliebe nenne. Ich meine nicht die platonische, wo man Fensterpromenaden macht und sie einem dann weggeheiratet wird, weil man erst siebzehn Jahre alt ist. Nein, die andere, die nicht genug gewürdigte, die erste vernünftige Liebe, die zu irgendeinem kleinen Mäderl aus der Vorstadt, die bei Tag im Geschäft ist, die man abends an der Straßenecke erwartet und die man dann nach Mariahilf oder Fünfhaus begleitet – und die nichts anderes will als einen Ausflug am Sonntag oder einen Abend beim Volkssänger oder einen Sitz auf die dritte Galerie zu der neuen Operette oder ein Brasselett um einen Gulden und sehr, sehr, sehr viel Liebe. Nein, wie das damals schön war! Fahrten im Omnibus von Hietzing herein. – Spaziergänge in Weidlingau im Wald, tief im Wald. – Ja, das ist, was mir not tut. Es ist unglaublich, wie mein Geschmack verdorben worden ist, seit ich so ungeheuer elegant bin und den Ehrgeiz habe, die bestangezogene Geliebte in Wien zu besitzen. Wer weiß, an wie viel köstlichen Wesen ich achtlos vorbeigegangen bin. Und wer weiß, ob ich noch was für sie bedeuten würde, für sie, die viel, viel, sehr viel Liebe brauchen und die mit dem feinen Instinkt natürlicher Weiblichkeit meinen Augen und meiner Stirn die Müdigkeit und die Überreiztheit ansehen könnten. So ein frischer, junger Mensch sollte man wieder einmal sein, heiter, verliebt, mit der Sehnsucht nach Holunderduft, Frühling und Zärtlichkeit. Oh, das sehen sie einem an, die süßen Mädeln, die den Frühling und die Liebe wollen, und plötzlich hängt einem so ein herziges Ding am Arm, und man hat [185] eine Geliebte statt einer Maitresse. – Diese Sehnsucht lehrt mich, daß ich jünger bin, als ich dachte, und darum befinde ich mich eigentlich wohler als in der letzten Zeit. Wer weiß, ob Du mit Deiner Neapolitaner Liebe nicht mitschuldig bist an dieser Erkenntnis? – Es ist spät geworden, mein Lieber, ich hab' Dir drei Stunden lang geschrieben. Nun gehe ich auf die Straße hinunter bummeln. Wer weiß? – Es liegen Abenteuer in der Luft! Durch mein offenes Fenster weht ein Abendduft herein, der mich um zehn Jahre jünger und dümmer macht! Und jetzt – jetzt, in Fünfhaus oder in der Alservorstadt, steckt vielleicht eben vor einem einfachen Holzrahmen-Spiegel ein sechzehnjähriges Jungfräulein eine Blume an die Brust, ohne zu ahnen, daß sie für mich bestimmt ist!

Wenn ich nur wüßte, ob in der Alservorstadt oder in Fünfhaus? So gar kein festes Ziel zu haben! Lebe wohl!

Dein treuer

Alfred

Josefine Weninger an Helene Beier in Paris [1]

Josefine Weninger an Helene Beier in Paris

Meine liebe Helene!

Du fragst mich, was es Neues gibt? Nun, seit ich den letzten Brief an Dich geschrieben, bin ich überhaupt kaum vor die Tür gekommen. Ich bin ein paarmal spazierengefahren, und auch im Theater war ich, sogar gestern erst. Weißt wo? Balkon, erste Reihe, wo man doch eigentlich weniger geniert ist als unten. Und die Komödie hat so eine große Zugkraft, und obwohl sie's schon sechs Wochen geben, war's noch ausverkauft. Ja, sogar nobles Publikum. Viele Bekannte, unten in der ersten Reihe einige nette Leute, und bei der Gelegenheit hab' ich mich geprüft, wie's eigentlich mit mir steht. Weißt, ich hab' sie so Revue passieren lassen, die ganze erste Reih'. Und das war ganz merkwürdig. In der letzten Zeit vom Emil hat mir doch ab und zu der oder jener gut gefallen; einmal sogar, wie ich Dir heut im Vertrauen sagen kann, einer Deiner Einstigen, der Karl Zabelberger, der wirklich ein nettes Gesicht hat, wenn auch sonst nicht viel an ihm ist. Und unter anderem war im Parkett auch der Zabelberger Karl, welcher mich aber kalt ließ, wie ich Dir gar nicht schildern kann. Neben ihm ist ein Freund von ihm gesessen, den ich auch gekannt hab', weiß aber seinen Namen nicht, sehr chic, chicer als der Karl [186] eigentlich, dann ein Dragonerfreiwilliger, nicht übel, dann der Baron Zenger, lang, fad, hat geschlafen während dem Stück; dann zwei Fremde, offenbar Rumänen oder Italiener, schwarz mit sehr weißen Zähnen und sehr elegant. Dann auch noch ein älterer Herr, den ich vom Sehen kenne und der mir auch sonst ganz gut gefallen hat. Aber was soll ich Dir viel erzählen! Ich hab' mir die Frage vorgelegt: Wer von den allen hätt' jetzt eine Chance bei dir? Und die Antwort, zu meiner eigenen Verwunderung, war: keiner.

Und mit dem Logenpublikum ist es mir auch nicht besser ergangen.

Ich sag' Dir, ich hab' mich so gefreut auf mein Nachtmahl, zu Haus, allein, das ich mir bestellt gehabt hab', mit dem einen Gedeck und dem ruhigen Einschlafen darauf.

Der Girardi war großartig, mir ist übrigens vorgekommen, er hat mich heraufgegrüßt. – Sonst bin ich ziemlich unbemerkt geblieben. Also wie's aus war, geh' ich hinunter, wie alle, und es war ein schöner, warmer Abend! Und da hab' ich mich wieder so deutlich erinnern müssen, wie ich aus dem Bühnentor hinten herausgekrochen bin vor so – na vor etlichen Jahren und wie der Anton mich abgeholt hat. Es ist überhaupt unglaublich, was einem alles einfällt an diesen Abenden, wenn man so in die frische Luft kommt, heraus aus dem Theatergeruch. So gut kann ich mir so ein Abenteuer aus der damaligen Zeit denken, wo ich sogar vor Glück hab' weinen können. Ich bin bei Gott nicht zu alt dazu. An mir kann's nicht liegen. Es muß halt was Neues kommen; das ist klar, so ein Jugenderlebnis, dann werd' ich schon wieder jung und nehm's mit allen Flitscherln von sechzehn und siebzehn auf. Ein interessanter Mensch müßt's sein. Einen hat der Emil vor ein paar Monaten mitgebracht, das heißt einen sogenannten interessanten Künstler, aber der war fad! – Hat genau so ausgeschaut wie die andern, nur daß er weniger geredet und immer gesagt hat, er hat Kopfweh. So einen Künstler mein' ich auch nicht, sondern ich denk' mir einen wirklichen, ohne Kopfweh, ungeheuer lebendig, meinetwegen mit sehr langen Haaren und ohne Geld. Kurzum ein Künstler, wie in den früheren Romanen, ja, so einer hätte gestern abend Chancen gehabt, aber frag die Künstler, wo sie gestern abend waren! Und wer weiß, ob sich einer an mich herangetraut hätt', einer von denen, wie ich sie meine, wenn er mich gesehen hätt', mit meinem ganzen Putz, und die blauen Steiner in die Ohren. Und gepudert war ich auch und sogar ein [187] bissel geschminkt. Und wie ich mich so anschau', im Spiegel, jetzt, wo ich im Negligé bin, so muß ich mir selbst zugestehen, daß ich gar nicht so ohne bin, auch ohne Schmink' und Puder. – Wär' ein hübscher Versuch, einmal so auf Eroberungen auszugehen, wie? Es ist mir auch im Ernst weniger ums Bravsein. In Wirklichkeit sehne ich mich nach irgendeiner großartigen Abwechslung. Weißt, daß ich schon daran gedacht hab', nach Paris zu kommen? Aber allein! – wie schauet das aus! Und den Nächstbesten, nein, nein! Und wahrhaftig, auf die Leut', die nach Paris reisen können, grad auf die hab' ich jetzt gar keine Schneid.

Hast Du den Roman gelesen, den Dir die Lina eingepackt hat? Schreibe dies und noch viel anderes

Deiner treuen

Pepi

Alfred von Wilmers an Theodor Dieling in Neapel [2]

Alfred von Wilmers an Theodor Dieling in Neapel

Guten Morgen, mein Lieber!

Heute gibt's was zu erzählen! Ich bin wieder jung! Ich hab' meine Sach' auf nichts gestellt, juchhe. – Nun, ich nehme es Dir nicht übel, daß Du mich nicht verstehst! Es war am Sonntag. Das ist wenigstens ein Anfang. Also Sonntag, zwei, drei Uhr Nachmittag. Sehr warm, und über der Stadt lag die Sonne. Und die Leute aus den Vorstädten zogen über die Linie hinaus, hatten alle eine riesige Lust ins Grüne, ins Freie, und waren fidel. Zu der Zeit, wo unsere kleine Geschichte spielt (was sagst Du zu meinem Stil?), war es in den Straßen nicht mehr sehr lebendig. Unter den Fußgängern, welche gemütlich schlendernd ihren Weg gegen die Grenze der Stadt zu nahmen, befand sich ... nein, ich kann nicht, ich kann keine Novellen schreiben. Ich werde mich auf das Tatsächliche beschränken. Kurz und gut, ich hatte eine tolle Idee. Ich hatte Lust mich zu verkleiden. Ich wollte einmal ein anderer sein, weil ich mich mit mir selbst langweilte. So zog ich mir einen Samtrock an, nahm einen liegenden Kragen, eine fliegende Krawatte, setzte einen weichen Hut auf, ließ meine Handschuhe zu Hause und spazierte so davon! Du hast keine Ahnung, wie verkleidet ich mir vorkam. Ich sah aus wie ein Anstreicher. Es war freilich nicht die Lust der Maskerade allein. Ich verband einen bestimmten Zweck damit. Ich wollte die Gewißheit haben, daß ich eine eventuelle Eroberung nicht etwa dem Glauben an [188] meine Zahlungsfähigkeit und an meinen Schneider verdankte. Ich änderte auch meinen Gang. Ich »schlenderte«, ich legte etwas Naives, Unbesorgtes, Leichtsinniges hinein. Ich war bei Gott nicht zu erkennen. Stell Dir nur vor, einen weichen Hut, ganz eingetäpscht, und eine lose Halsbinde! Um drei Uhr kam ich zur Linie, und da lehne ich mich ein paar Augenblicke an einen Laternenpfahl, zünd' mir eine Zigarette an und schau' mir die braven Bürgersleut' und die Liebespaare an, die vorbeispazieren. Auch einige Mädeln zu zweit oder dritt laß ich vorbei, ganz hübsch, ganz lieb. Da kamen eben wieder zwei, die winken zu einem Fenster hinauf, wo eine ältere dicke Frau vergnügt herunterschaut. Und ich seh', wie an so vielen Fenstern Leute herunterschauen, hemdärmelige Männer und schlamperte Weiber. Da, wo ich stehe, ist Sonne, und auf den Wällen spielen ein paar Kinder. Plötzlich wird's mir wieder etwas trübselig zumute. Ich weiß kaum warum. Diese Sonntagsbürgerlichkeit strömte plötzlich ihre ganze widerwärtige Öde über mich. Die zwei Mädeln, die schon lange an mir vorbei waren, stelle ich mir in ihrem Heim vor, sehr beschäftigt in der Küche und mit der Wäsche und zur Unterhaltung das Weltblatt lesend. Und den Herrn Vattern, wie er über die Steuern schimpft, und alles mögliche. Diesen Unterschied, den sie da alle fühlen, daß heute Sonntag ist und sechs andere Tage nicht – kurz, sehr zuwider! –

Da seh' ich plötzlich was ganz Entzückendes. Ein Mäderl, nicht mehr ganz jung, das heißt zwei- oder dreiundzwanzig. Wundervoll – und ganz allein. Einfaches geblümtes Kleid, famos gemacht, hübscher breiter Strohhut, wunderbare Augen, schlanke, schmiegsame, nicht große Gestalt, Sonnenschirm aufgespannt. Wie sie an mir vorübergeht, sieht sie mich groß an und lächelt. Dann wendet sie sich um, geht sogar zurück, an mir vorbei, ohne mich anzuschauen. Nur zwanzig Schritte, und dann wendet sie sich wieder um. – Ah, ein Rendezvous. Ich habe Zeit und warte mit. Das Unglaubliche geschieht – und dieses Wesen wartet vergeblich! – Ich schau' sie mir näher an; wirklich reizend! so lieb! Über die allererste Jugend und gottlob auch die allererste Unschuld hinaus. Kleine verräterische Falten um die Augen und einen Zug um den Mund, der erst kommt, wenn man viel geküßt und gebissen hat. Die Gestalt schmiegsam und an das Anschmiegen gewöhnt. – Aber was Naives in dieser bewußten Erfüllung ihres Frauenloses. So lieb! – Und er, er kam nicht! Ich schau' ihr zu, spazierengehen, sie kümmert sich kaum um mich, wobei wohl [189] etwas Koketterie war, und endlich, nach etwa zehn Minuten, verzieht sie halb ärgerlich, halb verächtlich den Mund und nimmt einen eiligen Schritt, aber nicht in die Stadt zurück, sondern hinaus gegen die Währinger Hauptstraße. Da geh' ich ihr nach, und ohne eine Sekunde zu verlieren, versuch' ich mein Glück. Ich sag' ein paar belanglose Worte, sie darauf, sich nach mir umwendend, beinahe finster: Was wollen denn Sie? Ich ließ mich nicht abschrecken, und ein Gespräch war bald im Gange. Sie hatte die Absicht, »just« aufs Land hinauszugehen, weil es überhaupt mehr auf die gute Luft ankäme als auf ihn, und von ihr aus könnt' ich schon neben ihr weiterspazieren, wenn's mir Vergnügen machte.

Es war merkwürdig, wie rasch wir in das gemütliche Plaudern kamen. Ich muß mir schon das Kompliment machen, daß ich meine Rolle gut gespielt habe. Wie sie mich fragte: was sind S' denn eigentlich?, antwortete ich: Raten Sie. Na, was sollen S' denn sein, meint sie – ein Künstler! Und was für einer? frage ich. Ich war wahrhaftig neugierig. »Dichter«, sagt sie plötzlich ganz bestimmt. Ich schau' sie mit einem Blick an, der hieß: Du bist nicht nur ein sehr hübsches, sondern auch ein sehr gescheites Mädel. Na, hab' ich's erraten? sagt sie lächelnd. Und dann fragt sie weiter, ob ich schon lang dichte, ob ich sehr schön dichte und ob's mir Freud' macht, und so fort. – Ah, jetzt fing ein vergnügtes Lügen an! Es ist unglaublich, was ich ihr alles erzählt habe, es muß aber nicht nur interessant, sondern auch glaubwürdig gewesen sein. Denn sie lauschte geradezu andächtig. Nun ja, die Kämpfe meiner Jugend, bis ich mich mühselig durchgerungen, und das Mütterlein, fern in einem Städtchen, und dann die Frauen, und die großen Schmerzen, und die begrabene Liebe – es war wirklich rührend, und es tut mir nur leid, daß ich mir nicht genau gemerkt, was ich alles erlebt habe. Und mit einem Mal waren wir im Grünen. Wirklich draußen in der schönen Natur, und wir spazierten durch den Wald, und es wurde einsam und stiller. Wir setzten uns auf eine Bank. Ab und zu kamen Leute vorbei, und durch das Gesträuch konnte man auf eine Wiese sehen, drüben wieder Wald, und dort, weit, im Schatten unter aufgespannten Schirmen, lagen die braven Sonntagsausflügler. Zuweilen hörten wir von dort her lauteres Rufen und Lachen. Dann wieder wurde es ganz still – schwüler, stummer Nachmittag. Nun fing sie auch an von sich selber zu erzählen – die alte Geschichte; aber sie stand ihr gut zu Gesicht. Sie ist Kunststickerin, hat keine Eltern [190] mehr; bis vor kurzem hat sie mit ihrer Tante gewohnt; aber das war nicht für die Dauer. Sie deutete an, daß irgendeine Liebesgeschichte – gewiß nicht ihre erste – mitgespielt habe. Die aber scheint auch zu Ende zu gehen. Haben Sie ihn sehr lieb? fragte ich. Sie schaute zu Boden. O ja, sagte sie; freilich, es ist auch viel Gewohnheit dabei, setzte sie hinzu. Und dann, plötzlich: Nun, Sie haben ja gewiß auch einen Schatz? Ich wollte den Schatz nicht ganz ableugnen; das hätte mir entschieden geschadet – aber auch bei mir war die Sache in langsamem Hinsterben begriffen. Mehr wollte ich nicht sagen – sie fragte auch nicht viel. Jedenfalls fanden wir bald, daß man das eigentlich nicht so schlechthin einen Zufall nennen dürfe, was uns zusammengeführt. Die Ähnlichkeit unseres Schicksals, der eigentümliche Augenblick unserer Begegnung, beide gerade so müde von einer sterbenden Liebe, ja, wenn das nicht Bestimmung sei! – Und so plauderten wir im grünen Wald, und es war so schwül, so schwül! Endlich nach dem langen Plaudern kam das Schweigen. Sie saß, ganz nah an mich gerückt – und es war wirklich ganz wunderbar, was dieser süße Mädchenleib für einen wohligen Duft ausströmte. Das ist so nett von diesen kleinen Vorstädtlerinnen, daß sie immer so soigniert sind. Die Kleine hat sich zum Namenstag jedenfalls einen sehr guten Parfüm schenken lassen. Aber aus ihren lockigen Haaren kam noch ein ganz eigener Duft. Ich zog sie an mich. Schläfrig? fragte ich. – Sie nickte und lehnte den Kopf an meine Brust und schloß wahrhaftig die Augen. Nun mußte ich doch diese herzigen, geschlossenen Augen küssen, sie ließ es geschehen, dann küßte ich ihre Wangen, ihren Mund. Sie sagte »aber!« und küßte mich wieder. Es kamen Leute vorbei, und wir standen auf. – Nun war es vollkommen entschieden, daß uns ein geheimnisvolles Walten des Schicksals zusammengeführt, welches, wie das Schicksal schon ist, durchaus unser Glück wollte. Für alle Fälle sagten wir uns »Du« ... Es ist nicht zu schildern, wie gut aufgelegt wir waren. Sie behauptete, daß ihre geheime Sehnsucht stets ein Dichter gewesen sei. Und meine? Ich war großartig und behauptete, meine Sehnsucht war überhaupt nur sie, gerade sie, gerade diese kleine, süße Pepi, die Sonntag, den soundsovielten Juni, über die Währingerlinie spaziert kam mit einem Sonnenschirm und einem Strohhut. Und wie die Zeit verging! Es begann schon zu dämmern. Also was nun? Zusammen nachtmahlen natürlich! – Aber vor zehn wollte sie jedenfalls zu Hause sein. Also jetzt ging's in ein Gasthaus, das gleich am Ausgang des Waldwegs lag. Eins [191] dieser kleinbürgerlichen Wirtshäuser, welche ich sonst zu fliehen pflege. Aber wie hübsch war das alles heut. Wir spazierten in den Garten hinein, wo unter den großen Bäumen die Tische mit den Gartenlampen darauf und in gemessener Entfernung große Laternen standen. Sehr voll war es nicht; an einzelnen Tischen saßen ganze Familien, fürchterlich müd und durstig; an anderen zärtliche Paare, die einander bei der Hand hielten, da und dort kleine Spießergesellschaften. Und wie ich mich näher umsah, gab es auch nobleres Publikum; Sommerparteien an Stammtischen. Wir setzten uns an ein kleineres Tischchen ziemlich seitab, ich bestellte ein, haha, ein frugales Nachtmahl – wir hatten beide famosen Appetit und waren enorm glücklich.

Es war nun ganz dunkel, und wir saßen im tiefen Schatten. Eine Art von Zärtlichkeit überkam mich! Eine Art von Mitleid, könnt' ich sogar sagen, das ja eigentlich immer in der Zärtlichkeit steckt. Sie erzählte mir von ihrem Heim. Stell dir vor, ein kleines Zimmer im dritten Stock, Aussicht über die Höfe, ein sehr einfaches Zimmer natürlich; nur eines darf nie fehlen: Blumen. Früher hat er ihr immer die Blumen geschickt; in der letzten Zeit ist er damit nachlässiger geworden. Da hat sie sich selbst manchmal Veigerln oder Flieder gekauft und hat sie in die kleine Vase gestellt, die bei ihr auf dem Fensterbrett steht. – Endlich gingen wir, sie hing sich in meinen Arm. Wie spät ist's denn? fragte sie. Es war halb zehn. Vor dem Gartentor standen Einspänner; wir stiegen ein. Sie wollte sich durchaus nur bis an die Währingerlinie fahren lassen, in deren Nähe sie wohnt, will durchaus nicht mit dem Wagen in die kleine Gasse vorfahren, wegen der Nachbarn und wegen des Hausmeisters – na, und wohl auch wegen des Emil, meinte ich. Sie lag mehr im Wagen, als sie saß, hielt den Strohhut auf dem Schoß, und ihr Kopf mit den duftenden Haaren lag auf meiner Schulter. Mit dem Emil ist's aus, sagte sie. Es ist eigentlich schon wochenlang aus. Er will ja nichts mehr von mir wissen. Und es ist auch ganz gescheit. Und wenn du mich überhaupt wieder sehen willst, so red von Emil nichts mehr. Ich frag' dich auch nicht. Und nun schwieg sie, und so fuhren wir weiter, und ich streichelte ihre Wangen. In einer Viertelstunde waren wir bei der Linie. Da stiegen wir aus. Ich wollte sie bis zum Haustor begleiten. – Was fällt dir ein! rief sie. Jedes Kind kennt mich ja da! Und sie gibt mir einen Kuß und läßt mich stehen und lauft davon.

Sehr wohlgelaunt spazier' ich nach Hause. Zuerst aber setz' [192] ich mich in ein Kaffeehaus draußen, um meinen Schwarzen zu trinken – denn in meinem Aufzug konnt' ich unmöglich ins Kremser oder Imperial. Also da saß ich und hatte das behagliche Gefühl, wie man es vor einer neuen Liebe hat, und freute mich auf die Küsse von morgen und auf alles andere, was morgen oder, wenn's schlimm ist, übermorgen kommen wird. Dieses Morgen ist heute, und da es nun hohe Zeit geworden, meine Maske umzutun, geliebter Freund und Dichter, beschließe ich diesen langen Brief und freue mich, bald wieder von Dir zu hören.

Alfred

jugendlicher Liebhaber

Josefine Weninger an Helene Beier in Paris [2]

Josefine Weninger an Helene Beier in Paris

Meine liebe Helene!

Ich habe die Rouleaux heruntergelassen, sitze im Negligé da, um Dir ganz in Ruh' eine große Neuigkeit schreiben zu können.

Hast Du meinen Brief bekommen? Na, dann weißt Du auch, was mir so die letzte Zeit durch den Kopf gefahren ist und wie ich plötzlich gar keine Freud' mehr an den Drahereien gehabt habe. Nein, hab' ich mir gedacht, schön soll er sein, der Nächste, aber nur um Gottes willen nicht nobel. Und ich möcht' wieder einmal so ein liebes, kleines Abenteuer haben, wie früher einmal. Also denk Dir, da komm' ich so nach und nach auf die Idee, ich zieh' die alte Pepi wieder einmal an und nehme mir aus meinem Kasten ein Kattunkleid, was ich vor ein paar Jahren einmal in einer Stubenmädlroll' getragen hab', setz' mir einen einfachen Strohhut auf, kurz, richt' mich so à la Mädel aus der Vorstadt her. Die Lina hat ein über das andere Mal ausgerufen: Nein, so schön, aber so schön! – Und ich selbst, wie ich in den Spiegel geschaut hab', war ganz zufrieden. Im übrigen laß ich mich in dem ganzen Kostüm photographieren und schick' Dir ein Bild; ich zieh' mir's sowieso noch ein paar Mal an, wie Du gleich hören wirst. Gestern, Sonntag, hab' ich's das erstemal angehabt. Und mein fester Vorsatz war: Heute zwick' ich mir einen auf, aber einen fürs Gemüt! Ich geh' durch die Währingerstraße – rein zufällig, es hätt' ebenso gut die Alserstraße sein können –, und unter meinem Sonnenschirm schau' ich mir die Leut' an. Na, ich muß Dir sagen, im Anfang hab' ich fast die Lust an der ganzen Geschicht' verloren. – Endlich komm' ich zur Linie, schon sehr schlecht aufgelegt [193] eigentlich. Da steht ein junger Mann bei einer Laterne angelehnt, der schaut mich an, so mit einem gewissen naiven bewundernden Blick. Mein erster Eindruck war, der wartet auf wen. Mein zweiter, der ist ein hübscher Kerl. Künstler, das war ganz klar. Brauner samtener Rock, fliegende Krawatte, absolut nicht elegant, aber einen hübschen, wohlgepflegten Teint, kleinen Schnurrbart, sehr nette Haltung. – Das wär's, was ich brauchte! – Na, denke ich mir, einen Versuch ist er wert! Ich tu' also auch, als wenn ich auf wen warten möchte, spazier' auf und ab, endlich geh' ich weiter. Er mir nach und spricht mich an. Ich muß Dir sagen, es war mir sehr angenehm. Ich war nur ein ganz kleines bißchen grob, dann hab' ich ihn neben mir gehen lassen, und die Geschicht' hat sich gemacht. Natürlich hab' ich mit meiner Vermutung recht gehabt, und er war riesig erstaunt, wie ich ihm aufs Gesicht zugesagt habe, daß er ein Dichter ist. Er hat eine wunderbar angenehme Art zu reden, so weich, so einschmeichelnd, dabei immerfort mit einer gewissen Hochachtung. Er hat sicher schon viel erlebt, und in der letzten Zeit muß ihn eine schaudervoll zum Narren gehalten haben – oder ich verstehe mich gar nicht mehr auf die Männer. – Reichtum – Reichtum hab' ich bei dem nicht zu fürchten, und die Soupers beim Sacher sowie brillante Geschenke sind ausgeschlossen. Na, und über das, was ich ihm erzählt hab', war er ganz gerührt! Du hättest es aber auch nur hören müssen! Eine Räubergeschicht' von einem Liebhaber, der mich nicht mehr gern hat, von einer alten Tant', mit der ich mich überworfen hab', und von einem kleinen Zimmer, und was ich für eine brave arme Person bin, und alles mögliche. Denk Dir, zu Fuß sind wir hinaus nach Pötzleinsdorf, und im Wald sind wir stundenlang gesessen, und ich habe mich keine Minute gelangweilt, und wie er mich auf der Bank im Arm gehalten und geküßt hat, da hab' ich eine so angenehme Empfindung gehabt wie schon lang, lang nicht. Ich weiß nicht, was ich alles im Stand gewesen wäre, wenn's nicht hellichter Nachmittag gewesen und jeden Moment Leut' vorbeigegangen wären. Eigentlich hab' ich auch so eine Art Rührung gehabt. Es ist mir eingefallen, was so ein armer Schriftsteller alles durchzumachen hat, der noch dazu sein halbes Einkommen für seine Mutter aufbraucht und natürlich von den Konkurrenten verfolgt wird und angefeindet.

Am Abend waren wir in einem kleinen Gasthausgarten, und da war er von einer Zärtlichkeit! – Und die Augen! – Sein Blick allein hat mich um Jahre jünger gemacht. Und dabei diese Bescheidenheit. [194] Ich war ganz froh, daß er so bescheiden und still geblieben ist den ganzen Abend, es war eigentlich schön. Ich glaub', er hätte seine Braut nicht anders behandeln können wie mich. Wunderschön ist's auch gewesen, wie wir im Comfortable nach Haus gefahren sind. Ob Du mir's glaubst oder nicht – es wär' mir schrecklich gewesen, wenn er jetzt zudringlich geworden wäre. Aber kein Wort davon. Nur um ein Rendezvous hat er mich gebeten für den nächsten Tag, das war alles. Bei der Linie bin ich aus dem Wagen gesprungen. Nämlich für ihn wohne ich da in irgendeiner Seitengasse im vierten Stock. – Mindestens eine Viertelstund' hab' ich zu Fuß rennen müssen, bis ich einen Fiaker gefunden hab'! In meiner Wohnung war mir ganz merkwürdig zu Mut. Wie umgewechselt. Und dann, das besondere Glück, daß er nicht nur ein armer Teufel ist, sondern auch ein Dichter! Ein Künstler! Siehst Du, das wird einmal eine Komödienspielerei sein, von der ich was hab'! Ich muß aufhören zu schreiben, denn in einer Stunde tret' ich wieder auf.

Es küßt Dich Deine treue

Josefine

Alfred Wilmers an Theodor Dieling in Neapel

Mein lieber Theodor!

Wie lange hab' ich Dir nicht geschrieben? Einen Tag oder acht? Oder einen Monat? Oder eine halbe Jugend lang? Und warum setze ich jetzt die Feder an? Warum lieg' ich nicht lieber, wie ich jetzt so oft und ganze Stunden tue, auf meinem Diwan, die schönen Augenblicke weiterträumen, deren Erinnerung ich mit mir nach Hause bringe. Wer es mir vor einer Woche prophezeit hätte! Ach, nun bin ich doch wenigstens wieder in der Zeitrechnung drin. Heute ist wieder Sonntag. Ja, ja, es ist nicht länger als acht Tage, daß es begann. Nun ja, mein lieber Theodor, ich lebe ein zärtliches Idyll, in dessen Verlauf ein Tag ist wie der andere, das kein Ende zu haben scheint, von dem man sich kaum einen Anfang vorstellen kann. Ja, ich lebe es, denn ich fühle nicht mehr, daß ich es spiele. Wenn ich des Abends den breiten weichen Hut und den Samtrock nehme, so ist mir, als könnt' es gar nicht mehr anders sein, und wenn ich mit dem süßen Geschöpf ins Freie hinausspaziere und Arm in Arm mit ihr weit draußen an der Grenze der Stadt oder im Wald herumflaniere, dann weiß ich [195] kaum mehr, daß es lauter Lügen sind, die ich ihr von mir erzähle, denn die Hauptsache ist ja doch wahr: daß ich mich nämlich seit einer unsäglich langen Zeit nicht so wohl befunden wie jetzt.

Ja, es ist wieder einmal die Jugendliebe, die erste Liebe, wenn du willst, die man ab und zu wieder erlebt, wenn man ein Sonntagskind ist oder wenn das Schicksal einen für einen guten Einfall belohnen will. – Weißt Du, daß ich zuweilen glaube, ich bin die letzten Jahre verkleidet durch die Welt gegangen und habe jetzt die Maske abgelegt? Ich begreife selbst nicht, was mir für Worte über die Lippen kommen, wenn ich mit ihr bin, und was für Stimmungen mich einhüllen. Was das für Stunden sind abends auf dem Lande! Und neulich einmal, am Morgen, als wir irgendwo, nicht weit von Wien, aber in einem jener Orte, wo nie ein Wiener hinkommt, in einem kleinen Gasthof erwachten und durchs Fenster herein ein himmelblauer Tag lachte! Wie wir uns den Tisch in den kleinen Obstgarten rücken ließen und unsern Kaffee tranken, während der Morgenwind leise durch die Bäume rauschte. – Wenn wir getrennt sind und sie zu ihrer Arbeit zurückkehrt, so wie ich angeblich zu der meinigen – da habe ich ein kindisches Bedürfnis, vor ihrem Fenster auf und ab zu gehen, um nur in ihrer Nähe zu sein. Und dabei ist das Komische, ich weiß erst seit gestern, wo ihr Fenster ist. Die Gasse, wo sie wohnt, kannte ich. Aber das Fenster, hinter dem sie arbeitet – das war auch so eine der zärtlichen Ideen, die sich in ihrem Kindskopf tummeln –, das sollt' ich selbst heraussuchen, und ich mußte es finden, wenn ich sie wirklich lieb hätte. Und da bin ich denn vor den sechsundsiebzig Fenstern im dritten Stockwerk, die sich in jener Gasse befinden, auf und abgegangen und habe das ihre, nun magst Du lachen, wenn Du willst, richtig aus den sechsundsiebzig (ich habe sie gezählt) herausgefunden. Sie war selig, wie ich ihr's sagte. An den Blumen hatte ich es erkannt. Und nun muß ich Dir sogar gestehen, daß ich heute nacht in dieser Gasse auf und ab gegangen und im Mondenschein vor dem Fenster gestanden bin wie ein dummer Bub! – Das ist, was die Sache so sonderbar und neu für mich macht: Dieses Ineinandergleiten von Stimmungen keuscher Jugendliebe und reifen Schwelgens. Und denke nur: vollkommen um meiner selbst willen werd' ich geliebt. Die Veilchen, die ich ihr bringe, küßt sie tausend Mal'. Und unsere Abende in den kleinen Wirtsgärten der Vorstadt! Und wie ich ihr dann, wenn wir so zusammensitzen vor dem Glas »Gespritzten«, von meiner früheren Existenz erzähle! Du bist gewiß [196] nicht böse, wenn ich Dir gestehe, daß ich teilweise Deine Biographie und ganz speziell Deine Lehr-, Studien- und Liebesjahre in München mit jenen Veränderungen, welche mein schwaches Gedächtnis notwendig macht, benütze und mir auch gestatte, Deine Fußwanderungen durch Thüringen und die Schweiz und insbesondere Dein Genfer Abenteuer mit der englischen Malerin für meinen Gebrauch zu bearbeiten. Ach, wie sie da an meinen Lippen hängt! Wie man ihr die Rührung ansieht! – Und dann laß ich mir wieder von ihr erzählen; da kommen mir wirklich manchmal die Tränen! An wieviel Traurigkeit und Süßigkeit wir doch vorübergehen, um Lustiges und Schales dagegen einzutauschen. Denn meine Verliebtheit macht mich durchaus nicht blind, und ich bin überzeugt, daß es noch hundert solcher Geschöpfe wie meine kleine Josefine gibt. Aber mir ist manchmal, als würde es jetzt erst der Kleinen klar, was bisher mit ihr geschah, und ich fühle, wie dankbar sie mir für die Art und Weise ist, in der ich sie behandle! Und mit eigentümlicher Wehmut erfüllt es mich, wenn ich an ihre Zukunft denke, denn, siehst Du, daß ich sie verlassen werde, das weiß ich ja doch! Und es wird vielleicht nicht einmal besonders traurig sein. – Aber gerade das tut mir weh – ist das nicht sonderbar?

Manchmal denk' ich mir, wie ihr geschähe, wenn ich plötzlich in meiner wahren Gestalt vor sie hinträte. Ob da nicht der ganze Zauber vorbei wäre? Ob sie nicht eben meine Maske liebt? Sie würde es schmerzlich empfinden, wenn sie entdeckte, wie fern wir uns eigentlich im Leben stehen, denn sie hat manche Erlebnisse meiner Vergangenheit liebgewonnen. Es gibt Dinge, die sie sich gern wieder erzählen läßt. So hab' ich ihr schon drei- oder viermal eine ganz unglaubliche Geschichte von ein paar verzweifelten Tagen erzählt, in denen ich dem Selbstmord nahe war, weil ich fast verhungert wäre. Denn unsere Armut bringt uns einander nahe. Nun, ich glaube, sie verdient sich genug und hat augenblicklich keinen Mangel zu leiden. Aber Du hast gar keine Ahnung, wie rasend mich zuweilen die Lust erfaßt, das Leben dieses süßen, armen Geschöpfes reich und sorgenlos zu gestalten, und wie ich es doch nicht wagen würde, auch nur eine Andeutung in diesem Sinne zu machen. Ja, dann wär' alles vorbei. Blumen läßt sie sich schenken. Nächstens will ich's einmal mit einer Kleinigkeit versuchen, zum Beispiel ein winziges Herzchen aus Gold, das sie sich um den Hals hängen kann. Aber nun ist's genug, denn ich kann Dir ja doch das Rechte nicht sagen. [197] Jugendliebe, ich finde kein anderes Wort! Ich beneide Dich selbst um Dein Neapel nicht mehr und um Deine Neapolitanerin. – Heute abend wollen wir wieder aufs Land. Da weiß ich nun wirklich nicht, was dann entzückender ist: die zärtlichen Stunden im Wald oder die Heimfahrt. Jetzt sind wir ein paar Mal mit dem Omnibus vom Land zurückgekommen – natürlich – weil's billiger ist –, und ich sollte nicht so viel Geld ausgeben, sagte sie neulich, als ich wieder einen Einspänner nehmen wollte. Nach dem, was sie vor mir erlebt, frag' ich sie wenig. Mir genügt die Empfindung, daß ich eine Art Erlösung für sie bedeute. Ich wollte gar nicht, daß sie gar nichts zu vergessen hätte! Da wäre sie ja nicht die, welche ich eigentlich suchte. Nein, ich wollte nicht das Mädchen, das ich verführe und das mir nachweint, nein, eines ihrer reifen Erlebnisse will ich bedeuten, aber das beste, das sie weder sich noch mir einmal vorzuwerfen hat. Ich werde eines Tages aus ihrer Existenz verschwinden, wie ich gekommen bin. Wie ich fühle, daß das Ende kommt, reise ich ab und schreibe ihr dann von da oder dort, aber ohne ihr zu sagen, daß ich eigentlich eine Komödie gespielt. Ich werde ein schöner Traum für sie gewesen sein. – Aber genug, genug. Du hörst bald wieder von mir, vielleicht nicht von Wien aus. Denn wir haben die Absicht, uns auf ein paar Tage aufs Land zurückzuziehen, ganz in die Einsamkeit – unter Bäumen, süß zu träumen, wie der Dichter der Gräfin Melanie sagt.

Lebe wohl für heute und schreibe mir doch auch bald wieder.

Dein
Alfred

Josefine Weninger an Helene Beier in Paris [3]

Josefine Weninger an Helene Beier in Paris

Liebste Helene!

Nein, was hab' ich über Deinen Brief lachen müssen! Ja, wenn Du eine solche Angst um mich hast, da trau' ich mich ja kaum mehr, Dir was zu schreiben! – Aber ich riskier's. Ich bin verliebt, ja, ja, sogar riesig. Er ist ein so süßer Kerl. – Hast Du schon einmal ein Verhältnis mit einem Dichter gehabt? Ich meine, mit einem wirklichen, nicht mit einem von dem die Stück' oder die Operetten aufgeführt werden, sondern mit so einem, der nichts ist und nichts hat und wahrscheinlich nichts wird, so mit einem echten Dichter, der Gedichte macht und einen anschwärmt! Ah, das ist doch eine [198] eigene Rasse. Von der Liebe will ich ja gar nicht reden, aber die Hochachtung! Wenn wir mitsammen am Abend spazierengehen, da ist's rein als wie eine Braut mit ihrem Bräutigam. Neulich haben wir einmal eine Nacht auf dem Land verbracht, und da hat's uns so gut gefallen, daß wir beschlossen haben, auf eine Woche oder zwei uns ganz in die Einsamkeit zurückzuziehen. Hoffentlich wird was daraus, ich hab' nur eine Angst, daß er sich das Geld dazu irgendwo ausleihen muß. Denn wie der Mensch kein Geld hat, das ist geradezu komisch. Ich merk's ihm an, wie wohl es ihm tut, wenn ich ihn von großen Ausgaben zurück halte, wie zum Beispiel – jetzt wirst Du lachen – von einem Comfortable! Na, ich kann ihm natürlich nichts antragen, das wäre gefehlt! Ich, die arme Kunststickerin. Oh, Du wärst erstaunt, wenn Du meine Lebensbiographie kennen möchtest. Na, ich war doch schon früher verliebt und hab' oft gelogen – aber so viel gelogen und so verliebt doch noch nie! Freilich, so rührende Sachen, wie er mir, kann ich ihm nicht erzählen – das läßt sich eben nicht erfinden! – Ich bin zu faul zum vielen Schreiben, aber wenn wir wieder einmal beisammen sind, muß ich Dir die Geschichte erzählen, wie es ihm in Berlin ergangen ist. Ich bin wirklich so froh, daß ich ihn ein bißchen glücklich machen kann, nachdem ihm die Menschen und besonders die Weiber so schändlich mitgespielt haben. Und er ist mir dankbar und sagt mir, wie er merkt, daß ich eine ganz andere bin. Es hätt' aus mancher was ganz anderes werden können ... Na, Helentscherl, hab' keine Angst, der ist auch viel zu gewissenhaft, als daß er mein Los an sein »ungewisses« ketten möchte. Denn er redet oft von seinem ungewissen Los und wird ganz traurig. Und ewig hab' ich ja doch noch nie geliebt, und Deine Angst, liebe Helene, hat keinen Sinn. Schön wär's freilich, aber sein ganzes Leben kann man doch nicht im Omnibus vom Land hereinfahren? – Also leb wohl für heute und grüß mir den Lixl. Aber sag ihm nichts von der Geschicht'! Es ist wegen später.

Deine
Josefine

Alfred von Wilmers an Theodor Dieling in Neapel [3]

[199] Alfred von Wilmers an Theodor Dieling in Neapel

Mein lieber Theodor!

Schau Dir den Poststempel nur genau an – Du weißt doch nicht, woher der Brief kommt. Erstens ist hier keine Post. Den Brief holt der Bote ab. Wir sind kaum zwei Stunden von Wien und doch so versteckt, als wären wir hundert Meilen weit. Ein gemütliches Gasthaus, seitab von der Landstraße, im Wald; eigentlich zu einer Mühle gehörend. Einsam, Leute vom Land kehren zuweilen ein; gewöhnlich aber sind wir ganz allein und am Mittag setzt sich höchstens der Wirt an unsern Tisch. Wir stehen in aller Gottesfrühe auf (hier kann man »Gottesfrühe« sagen!), und da kommt vom Wald, der gleich hinter dem Hause anfängt, der ganze herrliche Morgenduft herein. – Den halben oder ganzen Vormittag sind wir dann im Wald oben, liegen zusammen auf einem grauen Plaid, schauen in die Luft und atmen den süßen Frieden ein. Ja, wir haben uns sehr lieb, denn, wie Du zugeben wirst, man muß sich sehr lieb haben, um es in einer solchen Einsamkeit auszuhalten. Aber es ist wirklich schön, und ich kann mich auch über die Verpflegung nicht beklagen. – Am Nachmittag sind wir gewöhnlich lang auf unserm Zimmer, und da schläft sie. So ein Moment ist jetzt zum Beispiel. Und ich hab' mich an's Fensterbrett gesetzt und lasse den Duft vom Wald her auf mich niederwehen, was eigentlich auch die einzige Unterhaltung ist, die man hier haben kann. Aber das Schöne ist, man empfindet gar nicht das Bedürfnis nach was anderem. Wenn sie aufwachen wird, machen wir wieder einen Spaziergang, in den Wald, natürlich, denn es gibt hier keine anderen Spaziergänge. Da führt ein netter schattiger Weg ins nächste Dorf, das recht ärmlich ist, mit lauter halbstockhohen Häuschen – ohne Sommerparteien. Aber das ist ja grad das Schöne. Weit und breit keine Menschenseele, nichts als Bauern, Landleute und so fort. Und wenn wir durch den Wald hingegangen sind, kehren wir abends, wenn's sehr schattig ist, auf der Landstraße in unser Wirtshaus zurück. Auf der Landstraße begegnen wir Postwagen und Leiterwagen und hauptsächlich Müllerburschen. Im Garten nehmen wir dann das Nachtmahl ein. – Nur an Sonntagen sollen sich ab und zu Ausflügler aus Wien her verirren. Da fliehen wir natürlich, denn wir sind nur hergekommen, um vollkommen allein zu sein. Das hat auch wirklich einen wunderbaren Reiz! Besonders am ersten und zweiten Tag hat es einen ganz unbeschreiblichen Reiz gehabt. [200] Wenn man sich lieb hat, erträgt man eben alles. Was mich ein bißchen geniert hat, war der Umstand, daß mein Zimmer gemalt und nicht tapeziert ist. Das ist unangenehm, wenn man so mit der Hand über die Mauer fährt. Aber ländlich ist es, und außerdem sind wir ja so wenig im Zimmer – wir haben ja den Wald. Mit einem Wort: Es ist eine sehr glückliche Zeit, die wir hier verleben, und mein süßes Lieb (hier kann man sagen »mein süßes Lieb«) ist zärtlich und schön. Wenn ich sie jetzt so ansehe, wie sie daliegt, lächelnd im Schlummer – es tut wirklich weh, wenn man denkt, daß es da ein Ende, einen Abschied gibt. – Sie bewegt sich; ich muß diesen Brief schließen. In ein paar Minuten wird sie wach sein und mich fragen, was ich heute gedichtet. – Denn während sie schläft, dicht' ich angeblich. Ja, ich habe es am ersten Tag wirklich versucht, um ihr eine Freud' zu machen – aber Du, das ist wirklich schwer. – Und dabei habe ich mir ein ganz populäres Thema gewählt – die Liebe. Aber es geht nicht. Sie ist jetzt schon ganz gekränkt, daß sie einen Dichter zum Geliebten hat, und noch immer –. Sie schlägt die Augen auf. Leb wohl!

Dein
Alfred

Josefine Weninger an Helene Beier in Paris [4]

Josefine Weninger an Helene Beier in Paris

Meine gute Helene!

Nur in Eile, denn ich bin keine Sekunde allein. Wir sind auf dem Land, ganz verlassen. Wir haben uns noch immer ungeheuer gern, und deshalb sind wir ja aufs Land herausgezogen, wo wir ganz ungestört sind und unserer Liebe leben können. – Land ist zu viel gesagt. Wir wohnen in einem Wirtshaus, tief im Wald, hundert Meilen von allen Menschen. Die Gegend ist prachtvoll. Eine ausgezeichnete Luft, nur etwas drückend; ich schlafe halbe Tage lang. Aber für Leute, die sich lieb haben, wie geschaffen. Ungestört ist man, das ist schon unglaublich. Es ist ein wahres Glück, daß wir uns so lieb haben; sonst müßten wir vor Langeweile rasend werden. Aber er ist ein süßer Kerl, wirklich. Und ich fühle, es tut ihm so gut, nach allen seinen Schicksalen, sich da erholen zu können, in der Waldeinsamkeit. Mir tut er nur leid, daß er so gar kein Geld hat. Denn eigentlich stell' ich mir wunderschön vor, mit ihm zu reisen, das wär' so eine Überraschung, [201] wenn ich plötzlich mit meinem Dichter bei Euch in Dieppe auftauchen möcht'! Aber es geht halt nicht! – Es ist ein wahres Glück, daß ich ihn so lieb hab', sonst führ' ich vielleicht doch im Sommer nach Dieppe. Nein, es ist sehr gut so. Geliebt werden und lieben, das ist das wahre Glück! – Da gefällt's einem überall. Da hält man's auch in der Wüste aus; davon bin ich fest überzeugt. Nur regnen dürft's nicht, das muß ich schon sagen – denn da muß es hier trostlos sein. Schreib mir nur wieder nach Wien, denn lang bleiben wir ja nicht hier – wir sind so arme Teufel!

Leb wohl, viele Küsse!

Deine
Pepi

Alfred von Wilmers an Theodor Dieling in Neapel [4]

Alfred von Wilmers an Theodor Dieling in Neapel

Mein lieber Theodor!

Wieder in Wien, seit zwei Tagen nämlich. Wir waren eine ganze Woche draußen, und wenn ich jetzt so daran zurückdenke, so muß ich wirklich sagen: es war sehr hübsch. Nur am letzten Tag war es etwas ungemütlich, stell Dir vor – einen Guß von morgens bis abends – daher war es wohl auch der letzte Tag. Oh, – sonst. Aber denk Dir nur, so stundenlang in dem miserablen Zimmer beim Fenster stehen, sich nicht hinausrühren können, weil man in Kot versinkt. – Abscheulich! Da faßten wir den Entschluß, heimzufahren. Ich sag' Dir, wie wir unsere Habseligkeiten einpackten, ach, ich glaube, so lustig waren wir eigentlich die ganzen acht Tage nicht. Es scheint überhaupt, allzugroße Zärtlichkeit schließt die Fidelität aus. – Hat ja entschieden etwas für sich, die Schwermut in der Liebe, und ich hatte ja recht, mich wieder einmal nach diesem Genre zu sehnen. Schwermut, das kann man eigentlich nicht sagen. Na, was hilft die Theorie – es war ja wunderschön, das steht fest. Es war? Hm, nein es ist, und wird sogar hoffentlich noch lange sein, wie Du sofort begreifen wirst. Eines wurde mir nämlich da draußen klar, daß sich die Geschichte mit den liegenden Kragen und dem Omnibus und den Versuchen zu dichten auf die Dauer unmöglich halten würde. – Auch das Dritteklaßfahren ist nicht meine Schwäche. – Also, jetzt hör einmal! Wie wir am Abend nach Wien hineinfahren, riskier' ich's und nehm' Billets erster Klasse. Ja, das Gesicht von [202] dem Mädel hättest Du sehen sollen. Wie nun der Zug hält und ich sie vorbeiführe – an allen Wagen ruhig zu einem erster Klasse, der natürlich leer war! Ja, was machst denn? ruft sie. Ich ungefähr in dem Ton, als wenn ich ihr ein Fest geben wollte: Komm nur, komm nur. – Und nun sitzen wir mit einem Mal in den behaglichen samtenen Fauteuils mit den weißen Spitzenüberzügen, und sie schaut sich nur so um. – In dem Moment war sie das echte Vorstadtmädel, das in den Salon kommt. Ja, was fällt dir denn ein, ruft sie aus; aber, statt zu schmollen, wie ich's eigentlich für den ersten Moment erwartet, fällt sie mir um den Hals, küßt mich ab und springt wie ein kleines Kind in dem Kupee hin und her, so daß sie schließlich, wie sich der Zug stark bewegt, in meine Arme sinkt. Es war eine der schönsten Stunden, die wir je miteinander verbracht hatten. Jetzt könnt' ich schon mutiger sein, in Wien am Bahnhof – ich riskier's und nehm' einen Fiaker. Sie sah mich an und sagte mir: Ja, bist du verrückt? – Ich glaubte, eine Erklärung versuchen zu müssen: Wir hatten ja durch unsere frühere Abreise ein paar Tage auf dem Lande erspart. – An der Ecke ihrer Straße nahm sie zärtlich Abschied; natürlich durfte der Fiaker nicht bis vor ihr Haus fahren. – Das war gestern. Und heute soll folgendes geschehen: In einer Stunde trete ich vor sie hin – und zwar diesmal in meiner wahren Gestalt. Ich riskier's – denn sie liebt mich. Wir haben unser Rendezvous wie gewöhnlich draußen – nahe der Linie. Heute aber komme ich nicht mit fliegender Krawatte, zu Fuß und mit einem schwärmerischen Blick; nein, mit dem Fiaker komm' ich angefahren und einem namenlos eleganten Sommeranzug, einer Echarpe um acht Gulden, einem englischen Strohhut und werde Fräulein Pepi mit einem freundlichen Neigen des Kopfes einladen, an meiner Seite Platz zu nehmen, und ihr gesteh'n, daß ich ein schändliches Spiel mit ihr gespielt und daß ich ein wohlhabender Mann bin, der leider gar nicht dichten kann. – Es wird ein harter Schlag für sie sein; aber ihr Benehmen im Kupee erster Klasse läßt mich hoffen, daß es mir gelingen wird, sie zu trösten. Alles liegt bereit – ah, ich bin eigentlich glücklich, daß ich heute abend wieder wie ein vernünftiger Mensch auf die Straße gehen kann.

Jetzt aber legt sie die Arbeit weg und macht sich zum Spaziergang bereit. Armes Kind! Mir tut es eigentlich wohl, daß ich nun hoffentlich in die Möglichkeit versetzt sein werde, ihre Lage ein wenig zu verbessern. Und ich bin eine ganze Zeit, nämlich vierzehn Tage lang, um meiner selbst willen geliebt worden; was [203] kann mir jetzt noch Schlimmes geschehen? Es wird spät, lieber Theodor, morgen schreib' ich Dir wieder!

Dein
Alfred

Josefine Weninger an Helene Beier in Paris [5]

Josefine Weninger an Helene Beier in Paris

Meine gute Helene!

Vor allem bitte ich Dich recht schön um eines: schau Dir nicht die letzte Seite von diesem Brief an, bevor Du die erste gelesen hast; sonst ist der ganze Spaß verdorben. Aber wart, ich muß mir überlegen, was ich Dir zuletzt geschrieben. Ja, vom Land. Also denk Dir, wie wir eine Woche draußen sind auf dem Land, fangt's richtig zum regnen an. Jetzt stell Dir unsere Verzweiflung vor. Aber gottlob – es gibt ja Wagen und Eisenbahnen, und am selben Abend noch beschließen wir nach Wien hineinzufahren. Jetzt, stell Dir aber vor – nimmt mein armer Dichter, wie wir zur Bahn kommen, Billetts erster Klass'. Ich denk' mir natürlich, er spendiert das, damit wir sicher allein sind, und hab' mich auch im Kupee darnach benommen. Wie wir aussteigen, winkt er einem Fiaker. Ja, ich war paff. Aber ich muß sagen, es war auffallend, wie wohl mir wieder unter diesen besseren Verhältnissen war. – Also wie ich aussteige in der Näh' der Linie und mir wie gewöhnlich einen andern Wagen nehmen muß, um zu mir zu fahren, und wie ich endlich wieder zu Haus bin in meinem lieben, schönen, tapezierten, gemütlichen Zimmer mit dem Himmelbett, da kommt mir eine Idee. So geht das nicht weiter, hab' ich mir gedacht. Die Komödie muß aus werden, ja – aber warum denn auch das Wahre von der Komödie? Und das Wahre, das war halt, daß ich in meinen Dichter eigentlich noch immer sehr verliebt war, was ich besonders bemerkt hab', wie ich plötzlich nach acht Tagen so mutterseelenallein in meinem Zimmer gewesen bin. – Also, da hab' ich mir gedacht, demaskieren muß ich mich ja doch einmal, also lieber früher als später. Und besonders hat mich eine Idee immerfort geplagt, daß ich ihn nämlich einmal da, bei mir, gerad in meinem gemütlichen Zimmer haben müßte, um ihm so recht zu zeigen, wie gern ich ihn habe. Na, zum Schluß, noch vor dem Einschlafen, bin ich fest entschlossen gewesen, ihm am nächsten Tag alles aufzuklären. Also was tut Deine Pepi am nächsten Tag, vielmehr abends? Sie zieht sich nicht mehr das [204] Stubenmädelkleid an, sondern eine elegante Straßentoilette (die dunkelgrüne, die Du kennst), setzt sich einen chicen Hut auf (einen, den Du nicht kennst, ich hab' ihn mir im Juni gekauft), nimmt den Schirm mit Schildkrotgriff vom Baron Lenghausen, setzt sich in einen Fiaker und fährt zur Linie – dorthin, wo ich eben mit ihm das Rendezvous gehabt hab'. – Es war halb acht, schon fast dunkel, und ich laß den Wagen halten; bleib' aber drin sitzen. Weißt Du, das Herz hat mir geklopft, das muß ich sagen, denn es hätte ja auch schief gehen können. Ich habe mir vorgestellt, er kommt mit der Samtblusen dort um die Ecke, und wie er mich erkennt, zieht er ein finsteres Gesicht und verachtet mich – oder er macht mir wenigstens einen Skandal ... Also ich sitz' da und warte. Er kommt nicht. Es ist schon fast ganz dunkel. Ich versteh' das nicht, ich denk' mir, er hat mich vielleicht schon gesehen und ist gleich auf und davon. – Denn daß er mich warten läßt, ist nie vorgekommen. Da merk' ich, daß so vielleicht zwanzig Schritt weit von mir auch ein Wagen hält – er muß schon einige Zeit da stehn, denn ich hab' in den letzten Minuten nicht gemerkt, daß einer gekommen wäre. Und aus dem Wagen steigt einer aus. Ein eleganter Herr; ein sehr eleganter Herr. Er geht auf dem Trottoir auf und ab, anfangs kann ich sein Gesicht nicht recht ausnehmen; wie er aber knapp an meinem Wagen vorbeikommt – ja, ich trau' meinen Augen nicht, ist er's! – Er, mein Dichter, der elegante Herr! Und aus dem Fiaker dort ist er ausgestiegen. Ja, zuerst verschlagt es mir die Red', und ich laß ihn vorbeigehn. Aber er dreht sich gleich um, als hätte er nur vergessen, in den Wagen hineinzuschauen, in dem ich sitz', und macht große Augen – und sagt nur – Ja, Pepi!!! – Und ich: Alfred! Alfred! Und dann fangen wir laut zum lachen an, aber so zum lachen, daß die Leut' stehengeblieben sind. – Und dann er: Ja, ist's denn möglich! Pepi! Pepi! – Weißt Du, Helene, froh waren wir zwei – das kann ich Dir gar nicht beschreiben! Dann läßt er mich aussteigen, schickt meinen Wagen fort, und wir steigen in den seinen ein, ohne eigentlich noch ein vernünftiges Wort gesprochen zu haben. Wie wir im Fiaker sitzen – indessen ist's fast ganz dunkel geworden –, sagte er: Ah, das ist aber die reine Operett'! Ah, das ist die reine Operett'! Und wiederholt das zehnmal. Der Kutscher schaut herein zu uns mit einem fragenden Gesicht – Ja richtig! ruft mein falscher Dichter, wohin fahr'n wir denn? Und ohne zu warten, was ich sag': In den Prater! – Und jetzt, im Fahren, ist das Erzählen angegangen. Also denk Dir, [205] dieselbe Komödie, wie ich ihm, hat er mir vorgespielt. Wir haben uns gegenseitig die schönsten Komplimente gemacht. Einen leisen Verdacht hab' ich zwar immer gegen ihn gehabt. Im Prater war's wunderschön. Bis zum Lusthaus sind wir gefahren. Da sind wir die ganze Geschicht' von dem Sonntag an, wo wir uns das erstemal getroffen haben, so zum Spaß wieder durchgegangen. Und dann, um neun, sind wir auf den Konstantinhügel hinauf.

Es sind jetzt wenig Leute mehr in Wien, die meisten, die oben gesessen sind, waren Fremde. Wir haben uns in einem Zelt ein nobles Souper auftragen lassen wie schon lange nicht. Und riesig lustig sind wir geworden. Beim Champagner hat er mir versprochen, daß wir zusammen nach Dieppe fahren. – Das ist für Dich eigentlich das Wichtigste – denn ich hoffe bestimmt, daß Du auch mit dem Deinigen hingehst. Dann werden wir wohl auch nach Paris kommen. – Überhaupt glaub' ich – der ist eine gute Akquisition, und wenn Du jetzt noch bedenkst, daß ich ihn wirklich gern hab', so bin ich bei meiner kleinen Komödie wirklich auf die Kosten gekommen. Ach, wenn ich mich erinnere, daß ich ihn noch vorgestern für einen Dichter gehalten habe!!

Mit dem Souper auf dem Konstantinhügel will ich meinen Brief an Dich beschließen; denn wie wir nach Haus gefahren sind, bin ich von dem vielen Champagner an seiner Brust beinah eingeschlafen.

Also leb wohl, meine gute Helene, erwarte keinen Brief von mir, ich werde Dich telegraphisch avisieren, wann ich abreise.

Es küßt Dich

Deine
Josefine

Alfred von Wilmers an Theodor Dieling in Neapel [5]

Alfred von Wilmers an Theodor Dieling in Neapel

Mein lieber Freund!

Die Koffer sind gepackt – ich reise ab. Nicht allein. Sende Deine Briefe nach Dieppe, ich will Dir nur das in Kürze melden; von dort erfährst Du, was mit mir geschehen ist seit fünf Tagen. Heut hab' ich keine Zeit dazu. Das Abenteuer mit der kleinen Stickerin ist aus. An jenem Abend, wo ich meine Maske abwarf, ging es zu Ende. Wir haben damals viel gelacht, denn sie hat mir eine ähnliche Komödie vorgespielt wie ich ihr. Oh, Theodor, sie hat ebensowenig je gestickt, als ich je gedichtet habe. Sie ist Toiletten [206] von fünfhundert bis tausend Gulden und Hüte um achtzig gewohnt. Sie hat Brillanten und Perlen. Sie hat eine sehr bewegte Vergangenheit hinter sich. Ich fahre mit ihr nach Dieppe und zahle ihre Rechnungen. Ich halte sie aus, und übermorgen wird sie mich betrügen. Halte mich für keinen Optimisten, weil ich übermorgen sage; auf der Eisenbahn ist ja wirklich keine Gelegenheit. – Die kleine Komödie ist aus, wie Du siehst, aber aus dem Trauerspiel, das sich entwickeln könnte, werde ich mich rechtzeitig zu flüchten wissen. Nach Schluß des ersten Aktes (Szene: Dieppe) werde ich lächelnd hinter den Kulissen verschwinden.

Dein
Alfred
[207]

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TextGrid Repository (2012). Schnitzler, Arthur. Erzählungen. Die kleine Komödie. Die kleine Komödie. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-D96A-E