[8] 937. Das Pfälzer Weberlein.

Mündlich.


Es war einmal ein frischer Webergesell, gebürtig von Senbach in der Pfalz. Dem ward es zu eng in der Heimat und er wollte in der Welt sein Glück probiren. Nun konnte ihm zwar sein Vater kein großes Stück Geld mit auf die Wanderschaft geben, aber ein ehrlicher und fleißiger Handwerksbursch hat auch keine Sorge, durch die Welt zu kommen. Dazu gab ihm seine Mutter ein kostbares Amulet mit auf den Weg, nämlich den guten Rath: alle Tage mit Gott anzufangen und wo immer ein Kirchlein an der Straße zu treffen wäre, dort nicht vorüberzugehen.

Damit machte sich unser Webergesell auf die Wanderschaft und nahm seinen Marsch gen Wien, der berühmten Kaiserstadt. Aber vergebens hatte er unterwegs nach Arbeit umgefragt, jetzt, da er in Wien anlangte, war sein letzter Zehrpfennig ausgegangen und der gute Webergesell so hungrig wie eine Kirchenmaus. Als er nun so durch die engen Straßen mit den hohen Häusern hinschlenderte, stand er auf einmal vor einem großen und herrlichen Gotteshaus, wo eben viel Volkes ein- und auswogte. Da dachte sich unser Webergesell: Gott, der die Kirchenmäuse nicht verhungern läßt, wird auch noch für ein Pfälzer Weberlein sorgen können. Und damit trat er, eingedenk der Mahnung seiner lieben Mutter, alsbald in das herrliche Münster ein, welches von dem heiligen Stephanus seinen Namen hat. Drinnen wogte feierlicher Gesang, denn soeben hatte das Hochamt begonnen, welchem auch der Kaiser Ruprecht beiwohnte. Wie das Weberlein die ergreifenden Töne vernahm, kam es ihm ganz englisch und wunderbar vor und eine unbezwingbare Lust ergriff ihn, mitzusingen. Also brach der gute Pfälzer unbewußt in ein helles Singen aus, das alsobald die Aufmerksamkeit aller Umstehenden auf ihn lenkte. In demselben Augenblick aber hörte man den Kaiser rufen: »Ein Pfälzer ist's! ein Pfälzer ist's!« Denn der Kaiser, welcher vormals Kurfürst der Pfalz gewesen, hatte den singenden Weber gleich an der Stimme erkannt und sandte auch sofort einen Diener ab, ihn aufzusuchen. Der arme Weber wußte gar nicht, wie ihm geschah, als ihn der kaiserliche Trabant gebührend begrüßte und mit ihm vor den Kaiser zu kommen ermunterte. Wie ihn Ruprecht sah, konnte er sich nicht enthalten, laut auszurufen: »Seht da, [9] ein Pfälzer! hoch lebe die Pfalz!« worauf ein »Hoch lebe die Pfalz« ringsum im Tempel wiederhallte. Da kam es unserm guten Gesellen vor, als ob er im Himmel wäre, und sein erster Gedanke, wann doch jetzt seine lieben Eltern und Geschwister auch dabei wären. Aus diesem schönen Traume weckte ihn nur das Drängen des Volkes aus dem Gotteshause, denn das Hochamt hatte schon geendet. Der Kaiser aber winkte dem Weberlein freundlich zu, drückte ihm einige blanke Goldstücklein in die Hand und ermahnte ihn noch, falls er in Noth käme, nur wieder zu kommen. Da küßte der Pfälzer dem guten Fürsten vielmal die Hand und verließ Gott lobend und preisend Sanct Stephans Münster mit dem festen Vorsatze, dem Wort seiner lieben Mutter getreu an keinem Kirchlein vorüberzugehen.


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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Schöppner, Alexander. 937. Das Pfälzer Weberlein. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-FFC1-B