Der Mönch und die Nonne 1

Einst auf der Wartburg Abends frisch,
Vor seinem braunen Eichentisch,
Dem theuren Erbstück von der Mutter
Saß bei der Arbeit Doktor Luther.
Am deutschen Bibelbuch, dem lieben,
Hatt' er ein gutes Theil geschrieben:
Er legte hin die Feder sein,
Er schaute nach dem Gitterlein,
An Berg und Thal, den Gotteswerken,
Sich Auge, Herz und Hand zu stärken.
Was trübt ihm seinen frommen Mut?
Was treibt ihm nach der Stirn das Blut?
[192]
Ja klärlich auf dem Berge drüben
Sieht er sein Spiel den Argen üben.
Da steht von Felsen aufgebaut,
Er hat's bis heut noch nicht geschaut,
Ganz hell ein Mönch und eine Nonne,
Die küssen sich beim Schein der Sonne.
O schamlos greuliches Gebild!
Ist's nicht genug, daß frech und wild
In den verschlossnen Klostermauern
Des Satans böse Lüste dauern,
Darf er sie offen aller Welt
Noch malen unter's Himmelszelt?
Der Doctor schauet nach den Feldern,
Ob kein Entsetzen in den Wäldern,
Ob nicht die Luft in Zornesflammen
Ein schwarz Gewitter zieh' zusammen?
Doch in dem hellsten Sonnenstral
Die Bäume rauschen allzumal,
Und in den wunderlichen Stein
Schlingt Moos und Blume sich hinein.
Ist das von Gott, kommt das vom Uebel? –
Wie er noch sinnt, fällt auf die Bibel
Ein lichter Abendsonnenstreif,
Just auf 'nen Spruch, als goldner Reif.
»Wie konnt' ich – spricht er – lange sinnen!
Antwort muß doch wohl sein da drinnen.
O gieb mir, du wahrhaftigs Buch,
Aufschluß zu Segen oder Fluch!«
So lies't er fort, wo er geblieben,
Da steht's im Sonnengold geschrieben:
»Ein Bischof soll unsträflich rein,
Soll Mann von Einem Weibe sein!«
Da geht ihm auf ein helles Licht:
Ach nein, das kommt vom Bösen nicht!
Spricht Gottes Wort auch von den Dächern,
Nicht blos in einsamen Gemächern,
So darf's in Felsen und Gestein
Wohl auch klar ausgesprochen sein.
So hat er drauf gekämpft, gestritten,
[193]
Und bald geführt in seine Hütten
Trotz Papst und Teufel, keck und laut
Aus einem Kloster sich die Braut.
Seit öffnen sich die ernsten Pforten
Der dunkeln Klöster aller Orten;
Viel Schleier sind zurückgewallt,
Manch eine liebliche Gestalt
Steht betend wohl noch am Altare,
Doch mit dem Brautschmuck in dem Haare;
Ja Nonn' und Mönch mit Steineshaupte,
Weil Doctor Luther es erlaubte,
Sie küssen sich auf diesen Tag,
Geh' schauen, wer es schauen mag;
Ich hab's gesehn im Abendschein,
Die Berge blickten freundlich drein,
Die Sonne hatt' ihr Wohlgefallen –
Gott schenk' so süßen Kuß uns Allen!

Fußnoten

1 Diesen Namen führt noch jetzt ein so gestaltetes Felsstück auf der alten Wartburg.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Schwab, Gustav. Gedichte. Gedichte. 4. Romanzen, Balladen, Legenden. 2. Geschichtliche und halbgeschichtliche Sagen. Der Mönch und die Nonne. Der Mönch und die Nonne. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-06A7-3