Christus und die Vernunft

Was Tag und Nacht mein Herz bewegt,
Im Bilde sei's euch dargelegt:
Zween Freunde wohnten brüderlich
Beisammen, liebten herzlich sich,
Der ein' ein orthodoxer Christ,
Der andre Rationalist.
Der hielt allein auf die Vernunft,
Er macht' es, wie die ganze Zunft:
Was jener treu und eifrig glaubt,
Hätt' er ihm gar zu gern geraubt,
Er hält es gegen Ehr' und Pflicht,
Wenn er nicht ewig widerspricht.
Der andre, sonst ein sanfter Mann,
Droht jenem doch den ew'gen Bann;
Ihn faßt beim Wort Vernunft ein Grau'n,
Er kann sich glaubig nur erbau'n,
Wenn er ins Unbegriffne sich
Versenket heiß und inniglich.
Doch nur aus Liebe streiten sie,
Und scheiden unversöhnet nie,
Und wenn sie von einander sind,
Thut jeder einen Seufzer lind:
»Wär' er vom Aberglauben los!« –
»Ach, wär' er aus der Hölle Schoos!«
Im übrigen lebt schlecht und recht
Der eine des Gesetzes Knecht,
Der andere des Glaubens Sohn;
Sie handeln redlich, nicht um Lohn,
Sie thun dem Nächsten Guts und Liebs,
Und Feinde sind's des Weltgetriebs;
Und manchmal wundern beide sich;
Der Weise spricht: »Wie freut es mich,
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Du handelst alles Irrthums bar,
Vernünftig bist du ganz und gar!«
Und Jener ihm erwiedert dann:
»Seh' ich dein Thun und Treiben an,
Ach, wüßt' ich nicht, woher es stammt,
Ich spräch': In dir der Glaube flammt!«
Und haben sie gesprochen so,
Die Hände reichen sie sich froh:
Vielleicht, vielleicht – jetzt ist's an dem –
Doch nein, es sieget ihr System!
Da kam's, daß an sein Sterbebett
Die zween ein Freund beschieden hätt'.
Er legt' in ihre treue Hand,
Den einz'gen Sohn, ein theures Pfand;
Er sprach: »Dieß liebe Kind erzieht
Vernünftig, christlich!« und verschied. –
»Vernünftig! – hast du es gehört?«
»Nein, christlich!« rief der Andr' empört;
Da sehen sie in's Angesicht
Dem toten Freund und hadern nicht;
Sie gehn zu Hause Hand in Hand:
»Das Rechte lehrt uns der Verstand!« –
»Das Rechte zeigt der Herr uns an!«
Kopfschüttelnd scheidet Mann von Mann.
Und in dem einsamen Gemach
Denkt jeder seiner Sorge nach.
Wie bleibt die Freundschaft unversehrt?
Wie das Gewissen unbeschwert?
Wie wird des Toten Wunsch erfüllt?
Wie wird das Rätselwort enthüllt?
Vernünftig, christlich! Widerspruch!
Auf solchem Willen ruht ein Fluch! –
Ein später Schlaf legt kümmerlich
Auf ihr verwachtes Auge sich.
Am andern Tag zur frühsten Frist
Klopft an des Freundes Thür der Christ,
Und öffnet, eh der andre ruft,
Und trifft ihn blaß, wie aus der Gruft.
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Doch der auch, der Vernünft'ge, spricht:
»Herr Gott! wie bleich ist dein Gesicht!
Was ist dir, Freund?« – »Und was ist dir?
Erzähle mir!« – »Erzähle mir!«
Der Christ hebt an: »Freund! mir erschien –«
Der Andre spricht: »Auch du sahst ihn –?«
»Wen?« – sagt der Christ – »sie sah' ich, sie!
So Göttliches erblickt' ich nie!
Mir nahte die Vernunft im Traum!«
Und Jener, staunend, faßt es kaum:
»Was? die Vernunft erschienen dir?
So wisse: Christus nahte mir!
Ja, Christus mir! – ich zittr', ich bebe,
Ich bin bekehrt, erlöst, ich lebe!« –
Und beide schildern ähnlich ganz
Des Traumgesichts Gestalt und Glanz,
Und beide forschen sich mit Graus,
Im Innersten verwandelt, aus;
Und endlich fragen beide jach:
»Was ist's, das die Erscheinung sprach?«
Und beider Antwort lautet gleich,
Ein Klang, wie aus dem Himmelreich:
»Mein Wort ist Wahrheit, horch auf mich,
Was ich dich lehren werde, sprich!«
So sprach Vernunft, der Herr sprach so;
In beiden Seelen dämmert's froh.
»Jetzt weiß ich's, daß kein Zwiespalt ist,«
Ruft endlich seliglich der Christ:
»Du bist, Vernunft, o heil'ge Kraft,
Nicht Eigenwill', nicht Leidenschaft,
Nicht was in mir mir bange macht
Und Sünd' und Zweifel angefacht;
Du bist die Weisheit, deren Ruf
Aus Gottes Mund ging, als er schuf;
Du bist, was in mir göttlich lehrt,
Was in mir nach dem Herrn begehrt!« –
»O Heiland mein, o Jesu Christ,«
Spricht drauf der Rationalist,
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»Du bist kein Götze wunderlich,
Ja, Gottes Sohn, ich fasse dich,
Ich ringe mit den Zweifeln stark,
Ich dring' in aller Weisheit Mark,
Kein Bild von dir ist mir zu hehr,
Kein Wunder unbegreiflich mehr:
Ich glaub' an die Herniederkunft
Der menschgewordnen Urvernunft!«
Da fallen sie sich in den Arm,
Da schläget Herz am Herzen warm,
Geflohn ist Leid, geflohn ist Streit,
Es herrschet lauter Einigkeit;
Vernünftig, christlich zu erziehn
Das Kind des Freundes, gehn sie hin. –

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Schwab, Gustav. Gedichte. Gedichte. 2. Zeitgedichte. Christus und die Vernunft. Christus und die Vernunft. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-0717-0