6. Anderhalde's Traum

Mit gekrümmtem Rücken sitzt
In dem Stuhl Herr Anderhalde,
Sah von ferne, wie es blitzt',
Hirtenschwert im Speicherwalde;
Labt sein Haupt im Sonnenschein
An der Freiheit goldnem Morgen,
Kann er nicht mehr mit befrei'n,
Denken kann er doch und sorgen.
Und es pflücken oft im Traum
Hochbejahrte Greise wieder
Von der Jugend grünem Baum
Ahnungsbilder, Wunderlieder;
Was sie da gehört, geschaut,
Jüngre wird es unterweisen;
So auch neiget sich ergraut
Jetzt zum Traum das Haupt des Greisen.
[422]
Ein Gesicht führt ihn empor,
Wo mit seinem grünen Rücken
In die Berge der Kamor 1
Und ins Thal zugleich darf blicken.
In des Alpsteins Riesenkluft
Schaut er, kann das Rheinthal grüßen.
Thur- und Hegäu winkt im Duft,
Appenzell zu seinen Füßen.
Und ihm dünket menschenleer
Seiner Heimat Thalgelände,
Keine Hütten hin und her
Sind gebaut durch kluge Hände.
Der Bewohner harrt es stumm,
Sitter nur und Urnäsch 2 brausen,
Schauernd sieht der Greis sich um:
Wer wird kommen, hier zu hausen?
Luft und Erde jetzt erschallt
Als von Flügelschlag und Tritten,
Und es wimmelt aus dem Wald,
Kommt mit Fittichen und Schritten;
Thiere sind's in bunter Schar,
Wollen Herrn des Landes werden,
Und ein schwarzer, stolzer Aar
Schlägt den Fittich vor den Heerden.
Drüben kommen sie vom Stoß 3,
Falken, Schwäne, Greifen, Drachen;
Brüllend, wiehernd, Stier und Roß,
Wölfe mit dem blut'gen Rachen;
Eber wühlen mit dem Zahn,
Mit dem Rüssel Elephanten,
Stürzen auf den grünen Plan
Nieder von des Berges Kanten.
[423]
Bange schaut der Greis zu Grund:
Läßt das Land sich die gefallen?
Alsobald im Alpenschlund
Murrt es, daß die Felsen hallen.
Staunend blickt er um sich her:
Denn hervor aus sieben Thälern
Stürzt der Alpen Herr, der Bär,
Läßt das Hausrecht sich nicht schmälern.
Droben ist er schon am Wald,
Fährt den Thieren in die Hüften,
Bäumt sich, steht und streitet bald
Gegen Schnäbel in den Lüften;
Stürzt zurück auf Wolf und Stier,
Rachen gähnen gegen Rachen,
Bald, umringt, erliegt er schier –
Da mußt' Anderhald' erwachen.
Und erprobte Männer läßt
In das Haus er schleunig bitten,
Spricht: »Ihr Brüder, haltet fest,
Denn auf's Neue wird gestritten.
Vor dem Auge steht mir hell,
Wer sich für den Abt wird rüsten:
Oestreichs Adler, Appenzell,
Will in deinem Horste nisten.
Ritter bringt er, kühn und wild,
Wie die Thier' auf Helm und Wappen,
Alle sah mein Traum im Bild
Stolze Herren, freche Knappen,
Wolfurt, Schwaneck, Greifenstein,
Trautburg mit dem Haupt des Stieres;
Ach, es wird kein Ende sein
Dieses grimmigen Gethieres!
Aber dich, o Völklein, auch
Sah ich streitbar abgebildet,
Wie nach grauer Väter Brauch
Deine Gauen sich beschildet;
[424]
Deiner Wälder altes Wild
Führest du zu deinem Zeichen:
Schwarzer Bär im goldnen Schild,
Keinem Thiere wirst du weichen!
Nur getrost hinauf zum Stoß,
Dorthin durft' ich träumend blicken,
Stier und Drachen, Greif und Roß,
Dorther wird's der Adler schicken.
Ja, dein Leben gilt es, Bär!
Laß ihn fühlen deine Klauen,
Einer nur, du oder er,
Wohn' hinfort in diesen Gauen!«

Fußnoten

1 Ein Vorberg des Säntis.

2 Flüsse Appenzells.

3 Waldrücken zwischen dem Rheinthal und Appenzell.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Schwab, Gustav. Gedichte. Gedichte. Größere Dichtungen. 2. Der Appenzeller Krieg. 6. Anderhalde's Traum. 6. Anderhalde's Traum. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-075B-7