[72] Weibliche Unschuld

Without the graces, innocence imparts,

You never win others nor secure your hearts.

Die Allgewalt des lieblichen Geschlechtes
Beherrscht mit schöner Zauberey,
Der Stolze trägt nur härtre Sclaverey
Im Traume des verlornen Rechtes,
Beherrscht den Geist des Königs wie des Knechtes:
Der edelste bleibt nicht der Fesseln frey.
Es schäme sich der unsichtbaren Ketten
Kein Mann, so groß er immer war.
Die Parce webt Uranien ihr Jahr,
Und webet es von Blumenbetten:
Nur wer nicht fühlt, vermag es sich zu retten,
Und lächelt kalt und spottet der Gefahr.
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Der Weise lebt beglückt in sanften Banden,
Die süße Herzenssympathie
Und leiser Hauch der Seelenharmonie
Zum Heil des Lebens um ihn wanden,
Dankt für sein Glück den Göttern, die es fandten,
Küßt frey und froh die Kett' und segnet sie.
Die Schönheit rührt, doch nur die Anmuth sieget,
Und Unschuld nur behält den Preis,
Die Unschuld die von keiner Schminke weiß
Und überwindet und nicht krieget,
Und mehr allein durch ihre Reitze wieget,
Als aller Kunst gemeßner Modefleiß.
Das Herrlichste, was wir auf Erden schauen,
Was magisch oft Barbaren zähmt,
Und selbst die Hand des Bluttyrannen lähmt,
Ist, bleibt ein Weib, das voll Vertrauen,
Sich kaum bewußt, den Rest gemeiner Frauen
Durch Tugenden von hohem Werth beschämt.
Die Anmuth thront auf ihrer heitern Stirne,
Und ihre schöne Seele mahlt
Sich in dem Blick, den sanft ihr Auge strahlt:
Sie dreht als Phöbus Lieblingsdirne
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Nicht ein System mit Aufwand von Gehirne,
Dem Schmeicheley nur kalten Beyfall zahlt.
Mit ihrem Ton haucht ihre Harmonieen
Sie wilden Unholdsseelen ein,
Wenn sie es reicht, wird Wasser Chier-Wein;
Sie kommt, und Zorn und Zwietracht fliehen,
Und selbst der Knecht der stygischen Harpyen
Hört ein Mahl auf ein Bösewicht zu seyn.
Die Unschuld blickt, und selbst der Wüstling schweiget,
Und sein verworfnes Herz wird rein
Als kehrt' ein Gott zu seiner Rettung ein:
Kein Funke seiner Sünde steiget
Entflammend auf, wo sie ihr Antlitz zeiget,
Und tief fühlt er sich nur verächtlich klein.
Mit Lieblichkeit spielt an der Mutter Händen
Die kleine Schmeichlerinn, und blickt
Mit Unschuld auf, in der sie schon entzückt:
Wer kann den Blick einst von ihr wenden,
Wird die Natur ihr schönes Werk vollenden,
Das sie schon jetzt mit Zauberzügen schmückt?
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Mit Lust entschlüpft sie ihrem Flügelkleide
In froher Unbefangenheit,
Und jeder Tag, der sie zum Liebling weiht,
Ziert sie mit mehr als funkelndem Geschmeide,
Die Unschuld schmückt mehr als Gewand von Seide
Und Frohsinn mehr, als Glanz der Eitelkeit.
Die Jungfrau geht, mit Glorie umgeben,
Und alle Herzen folgen nach;
Und manches Wort, das ihre Lippe sprach,
Erwegt ein schwerverborgnes Beben,
In welchem sich die leisen Seufzer heben,
Und leise wird der Liebe Sehnsucht wach.
Die Sittsamkeit glänzt sanft in ihren Blicken;
Wie ungleich jenem Angesicht,
Wo jeder Zug nur Aphroditen spricht,
Wo in der Lockung frechem Nicken,
Und jedem Wort Begierden sich verstricken,
Wo jeder Wink der Tugend Schranken bricht!
Ihr trägt ein Mann sein ganzes Herz entgegen,
Sieht sie wie eine Gottheit an,
Und rühmet sich mit Stolz, daß ers gethan,
Und hält sie froh für einen Segen
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Aus Eden noch auf seinen Pilgerwegen;
Und was er glaubt, ist kein erträumter Wahn.
Der Gatte geht mit Zuversicht und Liebe,
Wohin ihn das vereinte Glück
Oft ruft, und sieht mit Mißtraun nicht zurück;
Als ob den Bund ein Engel schriebe,
Für ihn allein das Paradies noch bliebe:
Die Unschuld bürgt mit ihrem Seelenblick.
Wer spricht es aus, wenn er auf ihrem Schooße
Die kleinen Gaukler scherzen sieht,
Und sie ihn sanft in diese Gruppe zieht?
Ein Krösus ist mit seinem Loose
Ein Bettler dann, und klein der erste Große,
Der hoch entflammt um Dunst der Ehre glüht.
Die Unschuld ist die Grazie der Schönen,
Die lieblich jede Freude würzt,
Genuß vermehrt und Kummerstunden kürzt.
Kein Frevler wagt es, sie zu höhnen;
Um sich vielleicht der Tugend auszusöhnen,
Wenn rund um ihn die Hoffnung nieder stürzt.
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Sie lächelt frey, wenn, wie am Königsthrone,
Ein Sclavenheer sich um sie drückt,
Und schmeichlerisch im Glanz der Schönheit bückt.
Dem Mädchen reichet sie die Krone;
Bringt Heiterkeit und Ehrfurcht der Matrone,
Wenn sich das Haupt mit Silberlocken schmückt.
Sie denket froh an jeden Tag von gestern,
Der ohne Tadel ihr verstrich;
Ergötzet schon des nächsten Morgens sich,
Und Freud' und Ruh sind ihre Schwestern:
Und wagts der Neid, die Göttliche zu lästern,
Der Scorpion stirbt an dem eignen Stich.
Wenn stille Schuld der Wangen Blüthe tödtet,
Den schönsten Schmelz der Augen dämpft,
Und in dem Mark mit Feuergifte kämpft;
Wenn sich umsonst der Frühling röthet,
Verzweiflung kocht, wenn Philomele flötet,
Und Marterangst das Herz zusammen krämpft;
Wenn in den Kreis der schwachen kranken Kinder
Der Mutter scheues Auge fällt,
Und jeder Blick Gewissenspein enthält,
Wenn stets geschwinder und geschwinder
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Im Fieberpuls der hingelebten Sünder
Ein Rächer sich mit seiner Rechnung stellt:
Dann sieht verklärt die Tugend ihre Knaben,
Die in dem buntesten Gewühl
Mit Jugendkraft und hohem Frohgefühl
Sich um sie her versammelt haben:
Die Seele kann sich an dem Anblick laben,
Und Engel sehn mit Lust ein solches Spiel.
Wenn zauberisch im jungen Ebenbilde
Die muntre kleine Tochter fliegt,
Und lauschend sich an ihre Mutter schmiegt,
Und ihre Mutter dann mit Milde
Sie sanfter drückt und hinblickt ins Gefilde;
Hat Dichtung je so schönen Traum gewiegt?
Kühn blickt der Mann und muthig in Gefahren,
Den seiner Seele Würde hebt;
Er schreitet fest, wenn feig der Weichling bebt;
Die Tugend stählt in Winterjahren
Ihn noch mit Kraft auch unter grauen Haaren,
Wenn keiner mehr der Zeitgenossen lebt.
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Die Unschuld bringt der guten frohen Alten
Den Schwarm der Enkel um das Knie:
Sie sieht und küßt und lehrt und segnet sie,
Wenn sie sich fester an sie halten;
Und Freude glänzt aus allen ihren Falten
Und jedes Wort ist reine Sympathie.
Hoch ehret sie in ihrer Tugend Lohne,
Bey eurer Hoffnung ehret sie,
Ihr Mädchen; sonst erreichet ihr sie nie.
Der Vater lebt in seinem Sohne,
Und Enkel sind die Zierde der Matrone:
Ein solches Stück ist Seelenharmonie.
Geht, opfert ihr, der Unschuld, die euch schützet,
Die euch mit jedem Reitze ziert,
Durch die allein ihr edle Herzen rührt,
Was ihr besitzt, durch sie besitzet,
Und ohne die euch alles wenig nützet;
Geht, opfert ihr, die euch zum Heile führt.
Durch sie nur wird und ihren hehren Schleyer
Die Schönheit göttlichen Geschlechts;
Nur sie allein gibt das Diplom des Rechts
Und macht Vollkommenheiten theuer,
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Veredelt Lieb' und macht allein sie freyer
Als Dienstbarkeit des nur gemeinen Knechts.
Nur sie allein schafft Segen auf der Erde,
Und sichert euer Paradies,
Das einst ihr Hauch aus Wüsten werden ließ,
Verbannet Kummer und Beschwerde,
Baut den Olymp an Baucis kleinem Herde,
Und wehet sanft, wenn hoch der Sturmwind blies.
Sie mischt den Kelch, den euch der Gram verbittert,
Mit Trost aus ihrem Vaterland,
Führt in dem Glück, reicht im Orkan die Hand,
Und hauchet, wenn der Sünder zittert,
Weil schwarz heran die Donnerwolke wittert,
Euch Frieden zu, von Gott herab gesandt.
Sie reicht mit Huld, wenn einst die Saat der Halmen
Zur großen Ernte niedersinkt,
Und ernst und hehr des Schnitters Sichel blinkt,
Den Kindern ihren Kranz von Palmen,
Wenn zu dem Chor der neuen Jubelpsalmen
Ihr Angesicht im Strahlenkreise winkt.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Seume, Johann Gottfried. Gedichte. Gedichte. Weibliche Unschuld. Weibliche Unschuld. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-0A86-4