[107] Die Eiche

Auf eines Berges waldumkränzter Höhe
Stand eine grosse königliche Eiche
Von starkem Stamm, mit dichtbelaubten Zweigen,
Die breite Krone kühn die Wolken grüssend,
Dem Aar entgegen, der sie stolz umschwebte,
Die festen Wurzeln weit umher verbreitend,
Sich flechtend durch den dichten Schoos der Erde.
In Mittagsglut, und wenn der Abend graute,
Umfingen müde Wandrer ihre Schatten;
Ein dunkler Kranz von immer grünen Tannen
Umgab die ernste Königin des Waldes.
Die Herrlichkeit, die feierlich sie schmückte,
Wenn Abendgold in ihren Locken wallte,
Wenn Mondenlicht um ihre Zweige spielte,
Die Kraft, mit der sich ihre Riesenarme
In wilder Schönheit durcheinander schlangen,
Die stille Ruhe, die nach schwülem Tage
Der Müde fand, in ihrem kühlen Schatten,
Erschuf den Neid der blätterlosen Tannen,
Herabzubeugen ihre stolze Krone;
Die festen Wurzeln, schlau zu untergraben,
Ersannen sie die niedrigsten Entwürfe.
In stiller Grösse lachte des die Eiche,
Die Grossmuth ist ein Erbe höh'rer Geister;
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Auch sie beschloss durch Güte sich zu rächen.
Von Norden wälzten wüthende Orkane
Des aufgewühlten Meeres laute Fluten,
Die tosend nun am Fuss des Wald's sich brachen.
Da lagen sie entwurzelt und zerrissen
Die luft'gen Bäume auf dem kahlen Boden!
Zur ernsten Warnung für den stillen Waller!
Fest stand sie, wie im Meer ein Fels, die Eiche,
Wie edle Seelen in des Schicksals Stürmen.
Die starken Wurzeln unbewegt und sicher,
Die kühne Stirne frischer sich erhebend,
Die dichtbelaubten Arme unentblättert.
Jetzt, breitete sie diese aus zu schirmen
Die schwachen Tannen vor der Wuth der Winde,
Und alle, die nun unversehrt noch standen,
Erhielten so ihr Daseyn, grünten fürder
Auch unter wüthender Orkane Toben.
So strebt der Neid, den grossen Mann zu necken,
Den Wissenschaft und Seelenschönheit adeln!
In des Bewusstseyns himmlischen Gefühlen
Erträgt er leicht die Früchte eigner Mängel
Der schwächern Brüder, mitleidsvoll und gütig,
Die oft noch spät, wenn sie der Sturm des Lebens
Zu stürzen droht, in jenem Stral sich sonnen,
Mit dem die Götter ihren Liebling lohnen!

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Sommer, Elise. Gedichte. Gedichte. Die Eiche. Die Eiche. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-0FDB-D