Der Besuch bei der reichen Fee.

Ein Mährchen.


Es war einst eine Fee, welche recht gütig gegen Alle, besonders gegen die Kinder, welche sie sehr liebte, war. Zwei kleine Mädchen beredeten sich deshalb, sie einmal zu besuchen, um das schöne Schloß, welches sie bewohnte, und die Herrlichkeiten in demselben, recht betrachten zu können. Sie führten ihren Vorsatz aus, und begaben sich zu ihr. O! wie erstaunten sie über die Pracht und Herrlichkeit, die sie daselbst erblickten. Das ganze Schloß war von Kristall und alle Säulen desselben, und deren gab es viele, waren von ächtem Golde, oben und unten reich mit Brillanten verziert; [181] auch das Dach war von Gold und Edelsteinen, und man kann denken, wie das alles, besonders im Sonnenschein, blitzte und funkelte. Inwendig waren die herrlichsten Tapeten an den kristallnen Wänden und die schönsten Gemählde und Spiegel. Es versteht sich, daß die Sopha und Tische und Stühle nicht minder prächtig waren, so wie die Kronleuchter, welche aus Edelgesteinen zusammengesetzt, herrlich glänzten. Seidne Teppiche lagen auf den marmornen Fußboden. Und die Gärten umher, wie mußten die unsre kleinen Mädchen entzücken! Da gab es Blumen und Früchte, so schön um sie beschreiben zu können, und bunte Vögelchen, unter denen Colibris (diese schönen kleinen Vögelchen, die kleinsten welche es giebt, werden hoffentlich den kleinen Lesern, schon bekannt seyn) herum flatterten, und andere sangen so lieblich und hüpften dann zutraulich zu den kleinen Gästen, sich von ihnen fangen zu lassen. Goldfarbige und purpurrothe Fischchen plätscherten in dem hellen Wasser der Fontainen und kleinen Bäche umher, und die herrlichen Düfte der wohlriechendsten Blumen waren durch die Luft verbreitet. Ein niedlicher Zwerg führte die beiden kleinen Mädchen herum; und als sie alles gehörig gesehen und bewundert hatten, kam die Fee in den herrlichen Saal, in welchem sie an einer Tafel mit [182] Zuckerwerk und schönen Früchten, Platz genommen hatten, zu ihnen, und sahe freundlich zu, wie sie mit dem größten Appetit schmauseten. Als sie fertig waren, sprach sie: »Nun, Kinderchen, kommt mit mir, ich will euch noch so manches zeugen.« Neugierig sprangen sie auf und folgten der Fee durch viele schöne Zimmer in eines, welches sehr groß war. O Himmel, welch ein entzückender Anblick! die schönsten Spielsachen waren von allen Seiten her, hochaufgethürmt zu sehen. Puppen gab es da mit seidnen und goldnen Kleidern, und geschmückt mit Hütchen und Hauben und Blumen; eine jede von der andern verschieden in Putz und Kleidung. Früchte von Wachs, so natürlich und appetitlich, daß man sogleich Lust bekam, sie zu essen. Hündchen, Kätzchen, Hühner, Tauben, Lämmer, aber auch wilde Thiere, wie Löwen, Tieger, Leoparden, gab es im Ueberfluß, und alles war gar zu schön! Dann gab es auch schöne Palläste, wie der der Fee von Kristall und Gold, und in diesen wimmelte es von fingerlangen Bewohnern, welche nicht müssig da standen, nein, welche sich regten und bewegten. In einem saß eine kleine Gesellschaft an der Tafel und speisete; eine Menge Schüsseln füllten den Tisch, man sahe sie zierlich Löffel, Messer und Gabel gebrauchen und speisen; sie sprachen auch mit[183] großer Lebhaftigkeit, wie man an ihren Mienen und Bewegungen sah, man konnte aber natürlich nichts verstehen, da ihr Sprechen nur dem Gesumse der Bienen glich. Ein Bedienter ließ ungeschickter Weise eine Schüssel fallen; was gab es da für einen Aufstand unter den kleinen Figürchen! Einige waren von den Speisen, die verschüttet, bespritzt, und konnten ihren Verdruß, trotz aller angewendeten Mühe, nicht verbergen. Und nun das klägliche Gesicht des Bedienten, der so ungeschickt sich benommen! In einem andern kleinen Pallaste ward getanzt. Eben so kleine Wesen, aufs prächtigste geputzt, flogen nach dem Tacte der Musik dahin und dorthin, und als die Instrumente recht laut waren, konnte man denn doch sie ein wenig hören. Die fingerlangen Figuren zierten und dreheten sich, wie die Originale, die sie verkleinert darstellten. Dort tanzte ein alter süsser Geck mit einem schönen jungen Mädchen; da eine alternde Kokette in überladenem Putz mit einem jungen Herrchen, das noch kaum aus den Kinderschuhen war. In einem andern Zimmer spielten viele Persönchen, und man sahe deutlich Zorn und Freude auf ihren Gesichtern wechseln. Ein Theater belustigte die kleinen Mädchen sehr; da gab es ein Schauspiel im Schauspiel. Auch kleine Wälder, schöne Gärten, Spaziergänge gab es, und pfeilschnell [184] flog hier und da eine Kutsche, dort ein Kabriolet, vorbei, neben den wandernden Spaziergängern. Die Kinder waren wie bezaubert verloren in den herrlichen Sachen der Fee. Endlich sprach diese: »Hört, lieben Mädchen, ich wäre gar nicht ungeneigt, euch dieses oder jenes der hübschen Sächelchen mitzugeben, doch erst muß ich euch etwas Wichtigeres fragen. Seht! ich kann eine jede von euch, entweder recht weise, klug und verständig, oder recht schön machen. Jetzt wählt, was ihr wollt, und sagt mir eure Meinung. Du, Blondine, als die Aelteste, wähle zuerst; dann du, braunes Lockenköpfchen!« Blondine sann nur eine Minute, dann rief sie: »O die Schönheit, das versteht sich! Mach mich recht schön, liebe Fee!« Lockenköpfchen besann sich schon länger, dann sprach sie: »Die Mutter sagt immer: es wäre einerlei schön oder nicht schön zu seyn, aber man müsse recht gut seyn, und recht weise und recht verständig. So laß mich, liebe Fee, recht gut seyn, und recht klug.« Die Fee umarmte sie, und sprach: »Du hast wohl gewählt, mein liebes Kind, und besser als Blondine. Die Schönheit ist eine vergängliche Zierde, die durch Krankheit oder Unglück und Gram zeitig verschwindet; die Güte aber und die Weisheit bleiben uns immer und machen beliebt und geachtet. Jetzt wähle[185] du zuerst was dir gefällt, und dann du Blondine.« Bescheiden zeigte Lockenköpfchen nur auf einige der geringsten Sachen; aber die Fee wählte selbst für sie, und ob wohl auch Blondine nicht leer ausging, so bekam die andere doch noch mehr, so daß Beide nicht wußten, alles heim zu bringen. Aber die Fee wußte Rath zu schaffen und hieß sie, als es dunkel werden wollte, unbesorgt nach Hause gehen, beladen mit Obst und Gebackenem, und kaum waren sie bei den Eltern angekommen, und eifrig im Erzählen begriffen, als auch schon die Geschenke der Fee im Zimmer waren, und durch ihre Schönheit Eltern und Geschwister entzückten.

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TextGrid Repository (2012). Stahl, Karoline. Märchen. Fabeln, Mährchen und Erzählungen für Kinder. Der Besuch bei der reichen Fee. Der Besuch bei der reichen Fee. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-15E6-F