Die beiden Brüder.

Eine Erzählung.


Ein Kaufmann hatte das Unglück, durch den Krieg zu verarmen, und alle seine Bemühungen und Anstrengungen konnten nicht hinreichen, ihn, und seine Frau und Kinder, zu ernähren. Da faßte er den Entschluß[135] mit seiner Familie nach Amerika zu gehen, und dort, vielleicht als Gehülfe, in einer Handlung unterzukommen, oder, im schlimmsten Falle, sich bei einem Landmann als Knecht zu verdingen, und so, wohl kümmerlich, aber ehrlich, sein Leben und das der Seinigen, fortzufristen. Er schämte sich, in dem Lande, wo man ihn als einen wohlhabenden Mann gekannt hatte, aus Noth bis zum gemeinen Tagelöhner herabzusinken, und überdem bot ihm der noch immer fortwährende Krieg, keine Aussicht zu einem anderweitigen Unterkommen in seinem Vaterlande. Sie verkauften den letzten Rest ihrer Habseligkeiten, und gutmüthige Verwandte gaben ihnen noch etwas Geld, um die weite Reise bestreiten zu können; da sie aber von dem nächsten Seehafen noch ziemlich entfernt waren, mußten sie sich entschließen, ihr Gepäcke einem Fuhrmann bis dahin zu übergeben, und zu Fuße den Weg zu Lande zurück zu legen. Dabei mußten die Eltern auch noch die jüngern Kinder, welche zu schwach waren, diese Müheseligkeiten auszustehen, auf ihren Armen oder auf den Rücken, tragen. Die beiden ältesten Söhne, Ludwig und Karl, welche schon dreizehn und vierzehn Jahre zählten, traten fröhlich, aber mit verschiedenen Empfindungen, die ungeheure Reise an. Karl, der älteste, liebte alles Neue, wie er überhaupt [136] sehr veränderlich war, und immer wechselten seine Neigungen und seine Gesinnungen. Er fing alles mit großem Eifer an, aber schon nach wenig Tagen war dieser erloschen. Nun ließ er das Angefangene ganz liegen, weil es ihm eben so gleichgültig, wohl gar zuwider geworden, als es ihn anfangs anziehend schien. Ludwig war nachdenkender, ernster, fester in seinen Entschliessungen. Er fing das Neue mit bedachtsameren Eifer an, als Karl, und ließ sich auch durch keine Schwierigkeit abschrecken, ein angefangenes Werk zu vollenden. Anfänglich hüpfte und sprang Karl den Andern immer voraus, und keine Ermahnung des Vaters, sich nicht unnützer weise zu ermüden, half. Bald aber war er ermattet, und am dritten Tage schlich er mit einem verdrießlichen Gesicht nebenher und klagte, daß die Reise so ewig lang sei. Ludwig hingegen, hatte schon vorher den väterlichen Ermahnungen Gehör gegeben, sich die Beschwerden dieser Wanderschaft nicht zu leicht vorzustellen, da es unmöglich sei, nur Sonnenschein und schöne Witterung immerfort bei derselben zu haben, und sich mit Muth und mit Ausdauer gegen alle Unannehmlichkeiten zu rüsten. So versprach er sich nicht bloß das Vergnügen, immer neue Gegenstände um sich zu sehen, und einen gemächlichen Spaziergang, und fand sich daher [137] durch keinen Regenguß und rauhe Witterung in seinen Erwartungen betrogen. Er konnte noch den Eltern manche Beschwerde erleichtern, indem er mitunter eines der jüngern Geschwistern auf seinem Rücken forttrug; da hingegen Karl an seinem eignen Leichnam genug zu schleppen hatte. Endlich ward der Seehafen erreicht, und nicht lange, so wurde der Vater mit dem Kapitain eines nach Amerika abgehenden Schiffes einig, daß er ihn und seine Familie mitnähme. Wie froh war Karl daß er nun endlich nicht mehr, und oft in Wind und Regen, zu Fuß fortgehen mußte. Er konnte gar nicht müde werden, die Bequemlichkeit der Seefahrt und das schöne Schauspiel, das ihm die ungeheure Wasserfläche zeigte, laut zu preisen. Aber bald ward es ihm zuwider, nichts als Himmel und Wasser zu sehen, und in kurzem gesellte sich ein noch weit ärgeres Uebel zu der ihm lästigen Einförmigkeit, die um ihn war. Die Eltern wie die Kinder wurden seekrank. Bekanntlich werden alle Reisende, mehr oder weniger, von diesem Uebel, das in heftigem Erbrechen mit Schwindel begleitet, besteht, befallen. Man hat versucht, das Erbrechen durch das Trinken des salzigen Seewassers zu stillen, allein diese Stillung vermindert die Unannehmlichkeit nicht. Im Gegentheil, die Leibschmerzen und Unbehaglichkeit die es erregt, sind[138] noch quälender. Die schwankende Bewegung des von den Wellen geschaukelten Schiffes, und die Ungewohnheit die Seeluft einzuathmen, sind die Ursachen dieser Krankheit, welche mehrere Tage, ja bei Einigen noch weit länger, anhält. Daß Karl nicht der geduldigste von allen war, die mit ihm litten, wird wohl jedermann glauben. Endlich verging auch diese Plage. Einige Wochen waren sie schon auf der Reise, welche ihnen widrige Winde, die das Schiff in seinem Laufe hinderten, sehr langwierig zu machen droheten. Da entstand ein Sturm, der sie weit, weit seitwärts von ihrer Bahn trieb, und das Fahrzeug bald mit den steigenden Wogen hoch in die Höhe hob, bald, wenn diese sanken, sie in den Abgrund zu begraben schien. Zum Unglück bekam das Schiff einen Leck und ob wohl die ganze Besatzung, und alle Passagiere, mit der äussersten Anstrengung pumpten; drang doch das Wasser hinein und fing an den Raum zu füllen. Jetzt rettete sich alles in die Boote. Da aber diese nicht Alle aufnehmen konnten, ohne zu schwer beladen zu seyn, blieben noch Mehrere auf dem, immer mehr zerfallenen Schiffe. Karl und Ludwig waren auch in eines der Boote gesprungen, und wurden, mit den übrigen auf demselben befindlichen Personen, fortgerissen und umhergeschleudert, so [139] daß sie jeden Augenblick befürchten mußten, ihr kleines Fahrzeug von der Gewalt der Wellen umgeworfen zu sehen, und in den Abgrund ihren gewissen Tod zu finden. Dabei waren sie durch und durch naß, von dem über sie spritzenden Wasser. Endlich geschah es auch wirklich, was sie bisher befürchtet hatten. Das Boot ward umgeworfen und die beiden Brüder, die sich in der Angst umfaßten, wurden von einer gewaltigen Welle an das Ufer geworfen. Sie bemühten sich, als ihre Besinnung, die sie anfänglich verlassen hatte, wiederkehrte, noch hinauf zu klimmen, um nicht wieder vom Wasser weggerissen zu werden, und sanken, ermattet von der Todesangst und der ungeheuren Anstrengung der letzten Stunden, indem sie im Schiffe beim Pumpen helfen mußten und im Boote mit Rudern, in einen tiefen Schlummer. Beim Erwachen erst konnten sie sich ihrer Errettung freuen und Gott danken; doch beweinten sie jetzt auch den schmerzlichen Verlust ihrer Eltern und Geschwister. Das erste Bedürfniß, der Hunger, fing an sie zu quälen, und nun erst konnten sie sich eine lebhafte Vorstellung davon machen, wie weh der Hunger thut; denn waren sie auch in der letzten Zeit gewöhnt, sich mit den einfachsten Nahrungsmitteln zu begnügen, oft mit einem Stücke schwarzen Brodes nur, so hatten sie [140] doch nie Noth leiden dürfen. Sie befanden sich auf einem Eilande, das unbewohnt von Menschen war, und überall bot sich nichts eßbares ihren Blicken dar. Karl suchte anfangs, so eifrig als sein Bruder, nach Nahrungsmitteln, da er aber nichts fand, fing er an zu weinen, und sank verzweiflungsvoll zur Erde. Er murrte laut über die Vorsehung, daß sie ihn nur darum gestern das Leben erhalten, um ihn eines noch elendern, schmerzlichern Todes, sterben zu lassen. Ludwig stellte ihm vergebens vor, daß Gott seine weisen Absichten bei ihrer Erhaltung gehabt haben müsse, und ihnen noch jetzt Hülfe senden könne. Endlich verließ er den Thörichten und fing aufs neue an, umher zu gehen und nachzusuchen. Er erblickte Fische im Ueberfluß unfern des Strandes; aber wie sie bekommen? Eine große Stecknadel, die er in dem Aermel seines Rockes fand, gab ihm den glücklichen Einfall sich ihrer, statt einer Angel, zu bedienen. Er bog sie krumm und bediente sich seines Schnupftuches statt der Schnur. Mit unsäglicher Mühe erhaschte er ein Fischchen mit den Händen, und dieses mußte ihm zur Lockspeise dienen. So gelang es ihm mehrere Fische zu fangen, die er im Triumpfe dem Bruder brachte. Aber, wie nun sie sieden? Sie wuschen sie, und nachdem Ludwig mit seinem bei sich habenden [141] kleinen Messer ihnen den Bauch aufgeschnitten, reinigte er sie vom Blute und warf die Eingeweide, und sorgfältig die Galle weg; dann klopfte er das Fleisch mit einem Steine, da er sich erinnerte gehört zu haben, daß die Kosacken das Fleisch nicht sieden, sondern unter den Sattel ihres Pferdes hinlegen, und so eine Zeitlang herum jagen, um es durch die Hitze und den Druck mürbe und genießbar zu machen. Der Hunger gebot den Widerwillen zu überwinden, und so sättigten sie sich, und aufs neue fing die Hoffnung an, sie zu beseelen. Sie konnten doch nun so ihr Leben fortfristen, bis vielleicht einmal ein vorbeiseegelndes Schiff sie aufnahm. Aber als am andern Tage kein Schiff sich zeigte, ward Karl wieder muthlos und ungeduldig. Ludwig hingegen setzte unverdrossen seinen Fischfang fort und machte aus den Gräten großer Fische sich noch mehrere Angeln. Er ging mit dem Gedanken um, sich nach der Art der Wilden durch das Reiben eines weichen und eines harten Stückes Holz, sich Feuer zu verschaffen. Lange dauerte es, ehe es ihm glücken wollte, doch endlich gelang es ihm nach vielen Tagen und nichts glich seiner Freude. Schnell zündete er das, schon lange vorher von ihm gesammelte dürre Holz an, und rief jauchzend den Bruder herbei, der seinen Augen nicht trauen wollte, und [142] ihm dankend um den Hals fiel. »O, lieber guter Ludwig! rief er, wie viel tausendmal besser bist du, als ich! Während ich die Zeit mit unnützen Klagen und Murren hinbringe, wendest du sie in nützlicher Thätigkeit an, uns die nöthigsten Bedürfnisse zu verschaffen.« – Jetzt gingen sie zu Rathe, wie sie wohl künftig ohne die große Beschwerlichkeit, die es jetzt gekostet hatte, sich Feuer verschaffen könnten. Während dem Rösten einer Menge von Fischen, die ihnen auch noch für den folgenden Tag Nahrung gewähren sollten, fiel es ihnen bei, sich vor allen Dingen ein wenig Zunder zu verschaffen, und sogleich ward ein Stückchen Leinwand aus dem Aermel eines Hemdes angewendet, um daraus Zunder zu bereiten, wie sie es im elterlichen Hause gesehen hatten. Sie verwahrten ihn zwischen zwei platten Steinen, und da Ludwig schon vorher am Ufer einige Nägel und Schrauben in dahin getriebenen Bretterwerk gescheiterte Schiffe gefunden, und mehrere Steine gesammelt, welche ihm den Feuersteinen gleich schienen, so ward sogleich eine Probe gemacht, welche wohl einschlug; doch da sie keinen Schwefel besaßen, um die dazu nöthigen Hölzchen oder Fäden, in diesen, nachdem er geschmolzen, zu tunken, und so diese leicht am Zunder zu entzünden, so wurde ihnen diese Art des [143] Feueranmachens sehr beschwerlich und Ludwig nahm sich vor, sich täglich in der zuerst und glücklich versuchten Kunst zu üben. Jetzt aber dachten sie ernstlicher daran, daß diese schöne Jahrszeit nicht immer währen, sondern der nassen weichen werde, und indeß Karl darüber seufzte, fing Ludwig an zu untersuchen, wie dieses Uebel am leichtesten zu ertragen sei. Ein überhängender Felsen, unter dessen Schutze sie ihre Lagerstätte, aus dürren Blättern bestehend, ausgebreitet hatten, war nicht hinreichend sie gegen diese Nässe zu schirmen. Er beredete Karln, mit ihm Bäume zu entwurzeln, welches sie durch Hülfe einiger starken Aeste, deren sie sich zum untergraben bedienten, bewerkstelligen konnten, da das Umhauen derselben ohne eine Axt ihnen unmöglich war. Dann flochten sie die Stämme und die Aeste so dicht als möglich zusammen, daß wirklich eine Hütte entstand, welche auf der einen Seite und oben vom Felsen beschützt ward. Auch eine kleine Thüre flochten sie von Zweigen, aber freilich war sie so niedrig, daß sie sich sehr tief bücken mußten, um in die neue Wohnung zu gelangen, welche durch einige Löcher, welche ebenfalls mit kleinen, geflochtenen Thüren versehen waren, Licht erhielten. Das gefundene Bretterwerk diente zur Vertäfelung, und, um das Wasser nicht hereinfließen zu lassen, ward der Fußboden [144] der Hütte mit Sand hoch aufgefüllt, und dann mit kleinen Steinen gepflastert, über welches sie dürre Blätter breiteten, um die Kälte derselben nicht an den Füßen zu fühlen. Ihre Stiefel hoben sie sorgfältig auf, um sich ihrer künftig besser zu bedienen; doch bedauerten sie es auch, daß sie ihnen bald zu klein werden möchten, da beide Brüder stark wuchsen. Eine Art von kleinen Heerd ward auch errichtet und täglich dörrete der sorgende Ludwig Fische für die Zukunft, wenn es ihm nicht mehr möglich seyn würde zu angeln. Mit Freuden hatten sie Eyer von Möven und andern Strandvögeln, in den Klippen und Spalten in welche sie ihre Nester baueten, entdeckt, und auch von diesen sammelten sie einen Schatz, den sie für die übeln Tage sorgfältig aufsparten. So gerüstet, sahen sie der Veränderung der Natur geduldig entgegen. Doch, nicht so lange sollte ihre Einsamkeit währen. An einem Tage als beide von einer Felsenspitze, die ihnen eine weite Aussicht über das Meer hin bot, wie gewöhnlich sehnsüchtig auf die Wasserfläche blickten, ob sich ihnen nicht Erlösung zeige, erblickten sie fern am Horizont ein Schiff, das freilich nur wie ein kleiner Punkt erschien, doch deutlich sahen sie es sich vergrößern, ein Beweis, daß es ihnen näher kam. Sie stürzten, bebend vor Freude und vor Furcht, [145] daß es, ohne sie bemerkt zu haben, vorüberseegeln könne, die Höhe hinab, und während Ludwig eifrig beschäftiget war, eine ungeheure Menge aufgehäuftes dürres Reisig, welches beide hier aufgesammelt hatten, theils zu diesem Gebrauch, theils auch es in den Regentagen zu verbrauchen, anzuzünden, daß die Flamme hoch sich erhob und weit gesehen werden konnte, band Karl alle ihre Kleidungsstücke, die sie, um sie zu schonen und da es ohnehin sehr warm auf dieser Insel war, abgelegt hatten, an einen dünnen Baumstamm und ließ sie, gleich einer Fahne von der hohen Felsenspitze wehen. Glücklicherweise kam das Schiff ihnen so nahe, daß die Besatzung desselben sowohl das Feuer als die flatternden Kleider bemerken konnte, und der Kapitain, ein menschenfreundlicher Mann, der sogleich vermuthete, es suchten einige durch Schiffbruch dahin verschlagene Unglückliche, Hülfe durch diese Zeichen von ihm zu erlangen, ließ ein Boot aussetzen, und befahl einigen von seinen Leuten an das Eiland zu rudern. Wie freudig eilten ihnen die Brüder entgegen und weinten Freudenthränen, endlich wieder Menschen zu sehen und von ihnen aufgenommen zu werden. Sie hatten nichts mitzunehmen, als ihren Anzug, mit welchem sie sich eilig bekleideten und dann ins Boot zu kommen eilten. Ihre Erzählung setzten [146] den Kapitain und die Mannschaft in Erstaunen, und der erste entschloß sich, beiden Knaben zu ihrem Fortkommen behülflich zu seyn. Während der Reise hatte er Gelegenheit sie zu beobachten; und da Ludwig ausdauernde Thätigkeit und einen besonnenen, verständigen Sinn zeigte, gewann er ihn sehr lieb und beschloß väterlich für ihn zu sorgen. Bei ihrer Ankunft in Lübeck nahm er beide mit nach Hamburg, wo er Verwandte hatte, und da Ludwig Lust bezeigte die Handlung zu erlernen, brachte er ihn in einem angesehenen Handlungshause als Lehrling an und trug großmüthig alle Unkosten, welche, sowohl die Erlernung seines künftigen Geschäftes, als auch noch der Unterricht in Sprachen und die Kleidung erforderten. Mit Karls Unterkommen ging es nicht so leicht; denn da der Kapitain nicht so reich war, daß er beide erziehen und unterrichten lassen konnte, so wird es Niemand ihn verdenken, daß er seine Wohlthaten demjenigen von ihnen nur zufließen ließ, der ihm derselben am würdigsten schien. Doch verließ er den Andern auch deshalb nicht, sondern gab sich alle Mühe, ihn unterzubringen. Endlich fand sich doch ein Kaufmann der ihn unentgeltlich zu sich nahm, und ihm versprach, ferner für ihn zu sorgen und mit der nöthigen Kleidung zu versehen. Ludwig erbot sich, was er ausserdem [147] erlernte, ihm zu lehren, und Karl gab alle mögliche Versprechungen des Fleißes und der Ausdauer. Aber nicht lange, so erkaltete auch schon der Eifer, welchen er anfangs zeigte. Er ward unzufrieden, daß andere junge Leute seines Alters größern Aufwand machen, und sich besser kleiden konnten, als er, und suchte es ihnen nachzumachen. So borgte er, anfänglich bei seinem Bruder, dann bei andern Leuten, unter diesem oder jenem Vorwande Geld und vernaschte, und zuletzt, leider! verspielte er es. Eine geraume Zeit blieb seinem Herrn die schlechte Aufführung verborgen; so wie auch Ludwig, der immer fleißig und ordentlich fortlebte, nichts davon wußte, daß sein Bruder schon so tief gesunken war; aber endlich kam alles ans Licht. Er bat und flehte seinen Herrn an, ihm nur diesesmal noch zu verzeihen und gelobte feierliche Besserung. Eine Zeitlang währte diese auch wirklich, und Ludwig, der so oft er konnte ihn besuchte und mit allen möglichen Vorstellungen bei seinen guten Vorsätzen zu erhalten sich bemühte, hoffte schon den Bruder völlig gebessert zu sehen. Doch wie lange währen bei einem Leichtsinnigen, Unbedachtsamen, die besten Vorsätze! Früh schon hatte Karl den abscheulichen Fehler an sich, die Unwahrheit zu sprechen, und seine Eltern betrübten sich oft über diese[148] schändliche Neigung ihres Sohnes, und suchten ihn durch nachdrückliche Bestrafungen davon zurück zu bringen. Jetzt fing er aufs Neue an, sein längeres Ausbleiben entschuldigen zu wollen und seinem Herrn bald diese, bald jene Lüge aufzuheften; doch sobald es dieser sowohl als die Andern gewahr wurden, daß er sie betrog, fingen sie an ihn zu verachten, und es ihm durch ihr Betragen fühlen zu lassen. Wahrheitsliebe und ein reines Herz werden in jedem Stande, in jedem Verhältnisse, und in jedem Alter geachtet und geehrt; aber weder Reichthum noch hohe Geburt können Achtung erzwingen, wenn, der sie besitzt, ein Lügner und daher ein Heuchler, man kann sogar sagen, ein Betrüger ist. Der Lügner will täuschen, so kann man dreist sagen, er will betrügen. Indeß war Karls Herr doch so großmüthig, ihn bei sich zu behalten, bis er so weit war, daß er sich selbst forthelfen konnte; dann gab er ihm noch etwas Geld und entließ ihn mit den nachdrücklichsten Vermahnungen. Karl trat nun als Commis in eine Handlung; aber jetzt, in seiner vollen Freiheit, fing er erst recht an, sich seinem Leichtsinne zu überlassen. Er spielte, und trieb sich in den Wirthshäusern umher, und da seine Einnahme zu dem Aufwande, den er machte, nicht hinreichte, machte er Schulden, und belog die [149] Leute die ihn nicht kannten, mit der Versicherung er habe sehr reiche Verwandte. Endlich ward sein Herr, der von allen Seiten her seine schlechte Aufführung erfuhr, und der schon lange unzufrieden mit ihm, der Nachlässigkeiten wegen war, die er sich in seinem Geschäfte zu schulden kommen ließ, es überdrüssig, einen Menschen bei sich zu wissen, bei dem keine Ermahnungen fruchteten, und der ohne Nachdenken sich seinen Leidenschaften überließ. Er entließ ihn, und der schlechte Ruf, den Karl sich leider! erworben, machte es ihm unmöglich, in Hamburg ein Unterkommen zu finden. So ging er nun in eine andre, entfernte Stadt; da er aber sein Betragen nicht änderte, blieb auch die Strafe desselben nicht aus, sondern folgte ihm von Ort zu Ort, bis sie ihn schrecklich erreichte. Ludwig indeß erlernte die Geschäfte der Handlung mit Fleiß, und übte sich auch ausserdem in fremden Sprachen, so daß, da seine Aufführung untadelhaft war, sein Herr, nachdem die Lehrjahre vorüber waren, ihn als Commis bei sich behielt, und ihm nach einiger Zeit seine Geschäftsreisen übertrug. Vergebens erschöpfte er sich in Ermahnungen und Bitten seinen Bruder zu bessern, und zahlte von seinem Einkommen mehreremale die Schulden, welche dieser gemacht. Während der ersten und langwierigen [150] Reise, die er in den Geschäften seines Prinzipals unternommen, verließ Karl Hamburg, und bei seiner Zurückkunft erfuhr er mit lebhafter Betrübniß Karls verschlimmerten Lebenswandel und sein Verschwinden. Gleich darauf beschloß der Kaufmann, bei welchem er war, die Handlung aufzugeben, weil der Krieg und seine geschwachte Gesundheit ihn in allen Unternehmungen hinderten. Da in Europa in dieser Zeit der Handel ganz darnieder lag, und fast jeder Ort ein Schauplatz kriegerischer Unruhen oder deren Folgen war, so beschloß Ludwig nach Amerika zu gehen, überzeugt, daß bei seinen Kenntnissen und dem ernsten Willen sie gut anzuwenden, es ihm nicht an einem guten Fortkommen fehlen könne. Versehen mit den besten Empfehlungsschreiben und einer ziemlichen Geldsumme, trat er die Reise an, in Gedanken mit der Erinnerung an seine Eltern und ihren Schiffbruch und seine Errettung beschäftiget. Erinnerungen, welche das Meer und die Fahrt auf demselben, wieder erweckten. Endlich erreichte das Schiff glücklich den Ort seiner Bestimmung, und Ludwig ging nach Boston, woselbst ihm die mitgebrachten, vortheilhaften Zeugnisse, bald einen guten Platz in einem angesehenen Handlungshause verschafften. Eines Tages erblickte er auf der Strasse einen bejahrten Mann, dessen [151] Züge, obgleich verändert, ihn lebhaft an seinen Vater erinnerten; doch fest überzeugt, das Meer berge schon lange seine geliebten Eltern, seufzte er nur über diese Aehnlichkeit, welche seinen Kummer über ihren Verlust wieder erneuerte, ohne ihn zu stillen. Nachdenkend verfolgten seine Blicke immer diesen Mann, und bei seiner Zuhausekunft dachte er unaufhörlich an ihn, und zuletzt war er unzufrieden mit sich selbst, daß er ihm nicht gefolgt und angeredet hatte. Er schlief vor Unruhe fast die ganze Nacht nicht, und am andern Tage lief er viele Stunden auf den Strassen umher, aber ohne ihm zu begegnen. Endlich, nach einigen Wochen traf er wieder mit ihm zusammen, und diesesmal schien ihm die Aehnlichkeit noch sprechender als vorher. Er nahete sich ihm, und wagte es, ihn mit der Frage anzureden, ob er nicht ein Deutscher, und also sein Landsmann sei? Zitternd, vor freudiger Beklemmung, vernahm er die bejahende Antwort und zweifelnd, zwischen Furcht und Hoffnung, fragte er weiter aus welchem Theile und aus welcher Stadt Deutschlands er hergekommen? Erstaunt über diese zudringlichen Fragen eines Unbekannten, antwortete der Gefragte, und o Freude! er nannte die Stadt in welcher Ludwig einst mit seinen Eltern lebte. »Und heissen sie nicht Blum?« rief er. – [152] Ja, das ist mein Name, entgegnete der Mann. Ludwig warf sich in seine Arme. O, mein Vater, mein theurer Vater, rief er, und weinte Thränen des Entzückens, den lange, als tod betrauerten, geliebten Vater, bebend in seine Arme zu schließen. Herr Blum, der sich überzeugte, auch er habe einen seiner Söhne, welche er für verunglückt hielt, wiedergefunden, war tief gerührt, wie dieser, und führte ihn, endlich zur Besinnung wiederkommend, nach seiner Behausung, um die Mutter durch diese unerwartete Erscheinung, freudig zu überraschen. Aber doch sollte diese Ueberraschung nicht ganz unvorbereitet erfolgen, weil eine große, plötzliche Gemüthsbewegung, sei sie auch wirklich sehr angenehm, gefährliche Folgen nach sich ziehen kann. Der Vater ging zuerst in das kleine Zimmer, welches sie bewohnten, und sagte ihr, er habe erfahren, ihre Söhne wären nicht, wie sie gewiß geglaubt, bei dem unglücklichen Schiffbruche, um ihr Leben gekommen; sie wären gerettet und der eine befinde sich in der Nähe. So ward sie allmählich von der Hoffnung zur Gewißheit geleitet, und als nun endlich der geliebte Sohn selbst erschien, weinte die gute Mutter laut vor freudiger Rührung. Da ging es ans Erzählen und die Geschwister konnten nicht müde werden, den Bruder, der so groß [153] und schön geworden war, zu betrachten und zu bewundern; und dieses gesunde, blühende Aussehen des Sohnes, machte auch den Eltern die größte Freude, da es ein sicherer Beweis seiner guten Aufführung war. Ein junger Mensch, der ordentlich und mäßig lebt, verräth durch eine frische Gesichtsfarbe und lebhaften hellen Blick diesen untadelhaften Lebenswandel, da hingegen ein mattes, fast erloschenes Auge, und eine blasse Gesichtsfarbe bei jungen Leuten Kennzeichen einer unregelmäßigen, oft leider! unsittlichen Lebensart sind. Ist Kränklichkeit die Ursache dieses übeln Aussehens, so sind sie unschuldig und zu beklagen. Ludwig erfuhr nun, daß seine Eltern mit den kleinern Kindern, viele Stunden in dem Boote, in welches man sie aufgenommen, den Sturm und der Nässe Preis gegeben worden, bis, glücklicherweise sie ein Schiff, das sie gefunden, aufgenommen und an eine Küste von Amerika gebracht habe. Das kleinste der Kinder war unterwegs an den Folgen der Erkältung gestorben, und die Eltern brachten so, nur drei von ihren sechs Kindern, mit denen sie Europa verließen, in den neuen Welttheil. Sie mußten unzählige Widerwärtigkeiten und Mangel erdulden, ehe es dem Vater endlich gelang einen Platz zu erhalten. Es war dieser in der Handlung eines wohlhabenden Kaufmannes, [154] der ihm es an Arbeit nicht fehlen ließ, aber mit der Besoldung nicht sehr freigebig war. Ludwig war fröhlich, daß er doch nun im Stande war, seine Eltern unterstützen zu können, und arbeitete nun noch einmal so gern und so anhaltend, da sein Fleiß die Lage derer erleichtern mußte, welche ihm am theuersten waren; und wenn er dann nach vollbrachtem Tagewerke in ihrem Kreise war, fühlte er sich recht glücklich und zufrieden. Ganz konnte er es ihnen nicht verschweigen, wie Karl sich betragen, doch milderte er seine Vergehungen, um die Eltern nicht zu betrüben, und ihnen alle Hoffnung, ihn gebessert zu wissen, zu benehmen. So vergingen einige Jahre und Ludwig hatte durch seinen Prinzipal, der ihn sehr liebte, dem Vater einen weit vortheilhafteren Platz verschafft, so daß die Eltern nun von allen Sorgen der Nahrung befreit, leben konnten. Eines Tages, als aus Europa kommende Schiffe, auch Ludwig ans Ufer führten, ward er unter einer Menge Ankömmlinge, die theils gut gekleidet, theils armselig genug, ihr Glück in Amerika suchen wollten, in einer bleichen, abgezehrten, fast nur mit Lumpen bedeckten Figur, seinen Bruder gewahr. Er schrie fast laut auf vor Schmerz und doch auch in einer freudigen Empfindung ihn zu sehen, wenn auch in dieser veränderten[155] Gestalt. Ohne sich an die Umstehenden zu kehren, drängte er sich zu ihm und umfaßte ihn. Karl, in der höchsten Ueberraschung, und beschämt in solch einem Aufzuge dem Bruder wieder zu erscheinen, folgte ihm demüthig und verwirrt in seine Wohnung. Hier gab ihm Ludwig sogleich von seiner Wäsche und Kleidern, um ihn von den Lumpen, die er um sich hatte, zu befreien, und versorgte ihn mit Speise und Trank. Der Unglückliche war immer tiefer gesunken, bis er zuletzt als ein Tagedieb in keinem Lande mehr geduldet, den verzweiflungsvollen Entschluß faßte, Europa ganz zu verlassen. Sein durch Ausschweifungen geschwächter Körper, machte es ihm unmöglich, selbst noch Soldat zu werden, und krank und elend und abgezehrt, erschien der sonst so frische Jüngling wie ein siecher, abgelebter Greis. Sein Bruder weinte vor Kummer bei diesem Anblick und bei der traurigen Geschichte des Verirrten. Er erzählte ihm nun, wie er die Eltern gefunden und führte ihn, nachdem er diese auf den traurigen Anblick vorbereitet hatte, zu ihnen. Freilich ward die Freude des Wiedersehens sehr getrübt, da dieser Sohn nicht wie der jüngere, wohlgerathen und gesund ihnen wieder erschien; doch hofften sie, er werde sich künftig bessern, da er aufrichtige Reue zeigte, und das gab ihren bekümmerten [156] Herzen wieder Trost und Muth. Wirklich änderte er seine Lebensweise, durch die bitterste Erfahrung zurechtgewiesen; aber nie mehr erhielt sein durch einen schlechten Lebenswandel geschwächter Körper, die vorige Stärke und Gesundheit, und zu spät bereuete er es, sich so ungezügelt seinen Leidenschaften hingegeben zu haben. Ludwig dagegen genoß noch lange das süsse Vergnügen die Stütze und die Freude seiner Eltern und Geschwister zu seyn. Der Seekapitain, der so väterlich für ihn gesorgt hatte, und von welchem er immer von Zeit zu Zeit Nachrichten einzog, beschloß endlich, da sein herannahendes Alter ihm die bisherige Lebensweise nicht länger zu führen erlaubte, sich zur Ruhe zu begeben; und da ihn nichts an Europa fesselte, blieb er in Boston und lebte in Ludwigs Hause, der ein braves, fleißiges Frauenzimmer geheirathet hatte, und für seine eigne Rechnung handelte. Er begegnete seinen Wohlthäter wie einen geliebten Vater, und ward nach dessen Tode sein Erbe.

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TextGrid Repository (2012). Stahl, Karoline. Märchen. Fabeln, Mährchen und Erzählungen für Kinder. Die beiden Brüder. Die beiden Brüder. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-1608-E