5. Wer küßt die greisen Haare?

1.
Laß uns/ Kind/ der Jugend brauchen/
weil uns noch die Schönheit blüht:
Wenn die Geister einst verrauchen
und die Todten-farb' umzieht
unser runzlichtes Gesichte:
Wer begehrt denn unsern Kuß?
Nimm sie an der Rosen Früchte/
eh ihr Blat verwelken muß.
2.
Ob die Alten murrisch zanken/
nehmen sie der Freude wahr;
muß man drum mit ihnen krankken?
Nein/ ich acht' es nicht ein Haar.
Sollte der mich Sitten lehren/
der bereit hat außgelehrt?
Denn werd' ich mich auch bekehren/
wenn mein Alter sich verkehrt.
3.
Die besüßten Frühlings-tage
lauffen flügel-schnelle fort/
[28]
denn so hilft uns keine Klage/
kein erseufzend Bitte-wort/
sie gedencken nie zurükke:
Was hin ist/ das bleibet hin.
Diß beruht auff einem Blikke/
daß ich froh und traurig bin.
4.
Drum so brauch/ mein Kind/ der Zeiten/
weil die Zeiten grünend sein.
Was uns bleibt sind Traurigkeiten/
gehn uns diese Zeiten ein.
Ey wie plötzlich kömmt die Stunde/
daß uns Kloto in der Eil
schießt die Rosen von dem Munde
durch des Todes Frevel-Pfeil.
5.
So sey mit den Scharlachs-Wangen/
Schöne/ ferner nicht zu teur/
Linder meiner Qwaal Verlangen/
Kühl'/ ach! kühl der Liebe Feur!
Wo von den besüssten Fluhten/
deines Zukker-Mündgens Naß/
mir kein Tau ist zuvermuhten
werd' ich noch vor Abends blaß.
6.
Gib zwey Küßchen/ gib mir eines
soll es ja kein mehres sein/
gib/ mein Schazz/ mir nur nicht keines/
wiltu mich dem Todten-schrein'
auff ein wenigs noch ersparen.
Was nuzzt denn ein kalter Kuß
wenn ich auff der Leichen-Baaren
deiner Reu erst warten muß?

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Stieler, Kaspar. Gedichte. Die geharnschte Venus. Filidors Geharnschter Venus erstes Zehen. 5. Wer küßt die greisen Haare. 5. Wer küßt die greisen Haare. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-172F-0