58. An die Sonne

März 1778.


Sonne, dir jauchzet, bei deinem Erwachen, der Erdkreis entgegen,
Dir das Wogengeräusch des erdumgürtenden Meeres!
Fliehend rollet der Wagen der Nacht, in nichtige Wolken
Eingehüllet, und schwindet hinab in die schauernde Tiefe!
Segnend strahlst du herauf, und bräutlich kränzet die Erde
Dir die flammenden Schläfen mit tauendem Purpurgewölke!
Alles freuet sich dein! In schimmernde Feiergewande
Kleidest du den Himmel, die Erd' und die Fluten des Meeres!
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Siehe, du leitest am rosigen Gängelbande den jungen
Freundlichen Tag; er hüllt sich in deine Safrangewande:
Aber, wie wachsen so schnell die Kräfte des himmlischen Jünglings!
Feuriger blickt er, und greift nach deinem strahlenden Köcher,
Und schon schnellt er vom goldenen Bogen flammende Pfeile!
Zürne, Himmlischer, nicht! und soll dein Bogen ertönen,
O, so richte dein furchtbar Geschoß auf des Oceans Fluten,
Auf der schneeichten Alpen herunterschmelzende Gipfel,
Und auf sandige Wüsten, die Löwen und Tiger durchirren!
Zürne, Himmlischer, nicht! Dir flehn der Vögel Gesänge;
Dir der säuselnde Wald, und dir die duftende Blume!
Wollest nicht des wehenden Zephyrs Flügel versengen!
Wollest nicht austrinken das Labsal kühlender Quellen!
Wollest vom zarten Gräschen den krümmenden Tropfen nicht nehmen!
Sonne, lächle der Erd', und geuß aus strahlender Urne
Leben auf die Natur! Du hast die Fülle des Lebens;
Schöpfest, näher dem Himmel, aus himmlischen Quellen und dürstest
Selber nimmer! Als Gott aus seiner gürtenden Allmacht,
Wie aus gürtendem Schlauch ein Sämann, Sonnen dahinwarf,
Millionen auf einmal, jede mit Erden umkränzet;
Rief er, Sonnen, euch zu: verbreitet Leben und Wärme
Auf die dürftigen Erden! Erbarmt euch der Dürstenden, daß ich
Mich am großen Abend des Himmels euer erbarme!
Also rief er. Gedenke deß, o Strahlende! Früher
Oder später kommt der große Abend des Himmels,
Da ihr alle, zahlloses Heer von mächtigen Sonnen,
Werdet, wie Mücken am Sommerabend in Teiche sich stürzen,
Mit erbleichenden Strahlen herunterfallen vom Himmel!
Euer harren Gottes Gerichte, Gottes Erbarmung!
Wähne nicht zu vergehn! Der große Geber des Lebens
Wird gefallene Mücken, gefallene Sonnen in neues
Leben rufen! Wie du auf schwärmende Mücken herabschaust,
Schaut er ewig herab auf alle kreisenden Himmel!

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TextGrid Repository (2012). Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu. Gedichte. Gedichte. 58. An die Sonne. 58. An die Sonne. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-1ACE-1