[116] 59. Hymne, an die Erde

1778.


Erde, du Mutter zahlloser Kinder, Mutter und Amme!
Sei mir gegrüßt! sei mir gesegnet im Feiergesange!
Sieh, o Mutter, hier lieg' ich an deinen schwellenden Brüsten,
Lieg', o Grüngelockte, von deinem wallenden Haupthaar
Sanft umsäuselt, und sanft gekühlt von tauenden Lüften!
Ach, du säuselst Wonne mir zu, und tauest mir Wehmut
In das Herz, daß Wehmut und Wonn', aus schmelzender Seele,
Sich in Thränen und Dank und heiligen Liedern ergießen!
Erde, du Mutter zahlloser Kinder, Mutter und Amme!
Schwester der allerfreuenden Sonne, des freundlichen Mondes,
Und der strahlenden Stern', und der flammenbeschweiften Kometen,
Eine der jüngsten Töchter der allgebärenden Schöpfung,
Immer blühendes Weib des segenträufelnden Himmels,
Sprich, o Erde! wie war dir, als du am ersten der Tage
Deinen heiligen Schoß dem buhlenden Himmel enthülltest?
Dein Erröten war die erste der Morgenröten,
Als er, in blendenden Bette von weichen schwellenden Wolken,
Deine gürtende Binde mit siegender Stärke dir löste!
Schauer durchbebten die stille Natur, und tausendmal tausend
Leben keimten empor aus der mächtigen Liebesumarmung.
Freudig begrüßten die Fluten des Meeres neuer Bewohner
Mannigfaltige Scharen; es staunte der werdende Walfisch
Über die steigenden Ströme, die seiner Nasen entbrausten;
Junges Leben durchbrüllte die Auen, die Wälder, die Berge,
Irrte blökend im Thal, und sang in blühenden Stauden,
Wiegte sich spiegelnd am Quell auf wankenden Blümchen, und girrte
Auf den Gipfeln der Ulme, die liebende Reben umschlangen;
Denn der edle Wieh'rer nicht nur, und der mächtige Löwe,
Nicht nur die Vögel des Hains, und summende, goldene Fliegen,
Tranken aus der Quelle des Lebens, Libanons Zedern
Tranken auch, es tranken die Haine, die Blumen und Gräschen,
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Jedes nach seinem Maße, vom lebentrunkneren Menschen
Bis zum Gräschen im Thal und bebenden Sprößling des Berges.
Alle sterben, und werden geführt von Stufe zu Stufe,
Durch unendliche Reihen bestimmter Äonen, sie schleichen
Oder sie fliegen, von Kraft zu Kraft, von Schöne zu Schöne!
Erde, dich liebt die Sonne, dich lieben die heiligen Sterne,
Dich der himmelwandelnde Mond! Sobald du vom Schlummer
Dich erhebst, und Tau aus duftenden Locken die träufelt,
Sendet die Sonne dir Purpur und Gold und glänzenden Safran,
Daß du bräutlich geschmückt erscheinst im Morgengewande.
O, wie schimmerst du dann im rosigen Schleier! mit tausend
Jungen Blumen umkränzt, von silbernen Tropfen umträufelt,
Und mit glänzender Binde des blauen Meeres umgürtet!
Aber wenn dein Haupt zum süßen Schlummer sich neiget,
Und in schattender Halle die Nacht die Glieder dir kühlet,
Siehe, dann lächelt der Mond, von seinem einsamen Pfade,
Sanfte Freuden dir zu, gesäugt am Busen der Stille,
Und dann singen die Sterne dir zu. In heiliger Stunde
Hört' ich gestern ihr Lied, im Wehen wölbender Buchen.
Einigen deiner Kinder, o Mutter! will ich erzählen,
Was im goldnen Reihentanze die Sterne dir sangen.
Also sangen sie; lauscht ihr Lieblingskinder der Mutter!
»Schlummre sanft, o Schwester, im kühlen duftenden Bette!
Schlummre, Geliebte, sanft, auf daß du rosig erwachest!
Wilde Stürme müssen dir nicht die Locken zerwehen,
Müssen deine Ströme nicht über die Ufer empören,
Nicht den Wiegengesang des rauschenden Meeres verstimmen!
Hekla müsse dich nicht, dich müsse der Ätna nicht wecken,
Ruhen müsse der Blitz in schwarzen Gürteln der Alpen,
Keine Wolke verbergen vor uns dein liebliches Antlitz,
Müsse dir keine den Blick des freundlichen Mondes umschleiern!
Leichtes Fußes müssen vorbei die Stunden dir tanzen,
Bis mit rosigem Finger die Morgenröte dich wecket!
Deine Kinder müssen dich nicht im Schlummer bekümmern,
Denn sie schlummern mit dir; die wenigen, welche der Kummer
Von der Ruhe Lager verscheuchte, tröstet mit milden
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Blicken der sanfte Mond, der mit den Weinenden weinet,
Sich mit Freuenden freut, und liebend Liebenden lächelt!
Deine Kinder, welche das Meer auf Schiffen umtanzen,
Wollen wir während der Nacht am strahlenden Gängelband leiten,
Daß die Gleitenden nicht ein kreisender Strudel erhasche!
Daß kein tückischer Fels die eilenden Kiele verletze!
Schlummre sanft, o Schwester, im kühlen duftenden Bette,
Schlummre, Geliebte, sanft, auf daß du rosig erwachest!«
Also sangen die Stern', und schimmerten freundlich; die Lüfte
Bebten, wie mitertönende Saiten der ruhenden Leier,
Wenn ein preisendes Chor den gewölbten Tempel durchhallet!
Erde, wie bist du schön, mit Gottes Strömen gewässert!
Wer vermag sie zu singen? die Zwillingshelden, den Ganges
Und den Indus? Wer die rauschenden Wasser des Euphrats?
Wer den segnenden Nil, der aus ungesehener Urne
Seine schwellenden Fluten durch sieben Mündungen ausströmt?
Wer die herrschende Tiber? den heldenberühmten Eurotas,
Welcher früh die nervige Jugend Lakoniens stählte?
Ach, wer bringt mich hinüber, auf Adlersflügeln, zu deinen
Rollenden Meeren, du mächtigster Orellana! du Riese
Unter den Flüssen! Dir staunen die heiligen Fluten des Weltmeers,
Wenn du, stark wie ein Gott, in den Ocean dich ergießest!
Aber vor allen seid mir gegrüßt im feiernden Liede,
Vaterländische Ströme! du edle Donau! dem Morgen
Strömst du errötend entgegen, und grüßest die kommende Sonne
Wenn sie ihr flammendes Haupt aus purpurnen Wogen erhebet.
Wankende Saaten umrauschen dich jährlich, und freudiges Landvolk
Tanzet, mit blauen Blumen umwunden, an deinem Gestade,
Wenn der Abend auf dir mit falben Fittichen ruhet,
Und die glänzenden Sicheln dem winkenden Abendstern weichen!
Dir gebührt ein eigner Gesang, o Rheinstrom! vor allen
Flüssen Deutschlands bist du mir wert! Dich sah ich als Knaben,
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Wo, mit umwölkter Hand, die Natur, am gängelnden Bande,
Über Nebel, und stürmenden Winden und zuckenden Blitzen,
Deinen wankenden Tritt auf zackiger Felsenbahn leitet!
Mutiger rauschet der Jüngling einher, und seiner Umarmung
Stürzet die brünstige Reuß mit schäumenden Wogen entgegen;
Züchtig folgt ihm die Aar in langsam schlängelnder Krümmung.
O wie stürzt er donnernd herab beim hallenden Laufen!
Unter ihm beben die Felsen; die grünlichen Wogen verhüllen
Sich in glänzenden Schaum; der staunende Waller vernimmt nicht
Seiner eignen Bewundrung Geschrei, und heilige Schauer
Fassen ihn, wie sie die Felsen und zitternden Tannen ergreifen.
Ernst, mit männlicher Kraft, teilst du die Kostnitzer Fluten,
Eilest Städten vorbei, und trägst auf mächtigem Rücken
Schwimmenden Reichtum, schützest die Grenzen des heiligen Reiches,
Und beschenkst die Ufer mit hangenden goldenen Trauben!
O wie glänzet die Freud' in Hochheims Bechern! sie wandelt
Sich zum Lied' im Munde des Dichters! Bringet mir, Freunde,
Schnell des goldenen Weins, auf daß ich würdig euch singe,
Wie die Nymphe des Mains den göttlichen Buhlen umarmet!
Siehe, sie fleußt ihm entgegen in sanfter Wallung, und bringt ihm
Edle Geschenke, den Reichtum der fruchtbaren fränkischen Fluren,
Bringt ihm silberne Tropfen des allbezähmenden Steinweins,
Den an Würzburgs Felsen die heißere Sonne gereift hat.
Solche Gaben bringt ihm die Nymphe mit bebender Liebe;
Aber er faßt sie mit mächtigem Arm, und führt sie hinunter
Durch krystallene Hallen in seine stille Behausung;
Glänzender rollen die feiernden Wogen; die schönen Gestade
Hallen weit umher vom Brautgesange der Fluten!
Erde, wie bist du schön, mit wechselnden Bergen und Thälern,
Mit sanftrieselnden Quellen geschmückt und ruhenden Seeen,
Mit getürmten Gebirgen, wo überhangenden Felsen
Hohe Tannen entwachsen und Ströme reißend entstürzen,
Mit geweihten Einsiedleien, wo, unter dem Schatten
Freundlicher Buchen und dichtrischer Eichen, die hohe Begeistrung
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Schwebet und weht im Säuseln und Brausen des heiligen Haines,
Oder im Wogengeräusch des geisterhebenden Weltmeers!
Sanfte Ruhe wandelt in deinen friedsamen Thalen;
Steile Gebirge sind reicher an kühnen Thaten und Freiheit.
Sie, des Weisen Wunsch, der Spott des klügelnden Sklaven,
Wählte die schneeigen Alpen, um Mut und Einfalt zu segnen.
Heiliges Land, dich grüß' ich aus überwallender Fülle
Meines schwellenden Herzens! Wie ward mir auf deinen Gebirgen,
Wie in deinen Thälern so wohl! Ach werd' ich dich nimmer
Wiedersehn? Nicht mehr in deinen Seen mich baden?
Noch im schmelzenden Schnee, an der Wiege mächtiger Flüsse?
Gotthard, seh ich nimmer dich wieder? Dein felsiger Rücken
Trieft von hundert Strömen, die deinem Scheitel entstürzen;
Auf dir hauset Entsetzen und Graun in Wolken gehüllet;
Deine Pfade besucht der bleiche starrende Schwindel!
Sanfter bist du, Natur, in Seelands blühenden Fluren;
Goldene Saaten krönen das Haupt des lächelnden Eilands.
Seeland, ich liebe dich auch! in deiner Wälder Umschattung
Wohnet freundliche Ruh, sie wohnt in grünenden Auen,
Und in spiegelnden Seen von hangenden Buchen umkränzet.
Dich umfleußt das heilige Meer, und waldige Hügel
Drängen kühn sich hervor von schäumenden Wogen umrauschet
Zahllos sind, o Erd', und edel deine Geschenke!
Deinen Kindern geben sie Kraft und Nahrung und Freude!
Lächelnd blüht die Verheißung des jungen Jahres am Zweige,
Und der sinkende Ast erfüllt sie mit schwellenden Früchten.
Siehe, bald lockt mich am Gipfel des Baums die glänzende Kirsche,
Und bald ladet mich ein die labsalduftende Erdbeer.
O, wie schmückt der Sommer dein Haupt mit farbigen Blumen,
Deren Balsam die Luft mir mit leisen Fittichen zuweht!
Gleich der Erdbeer, verbirgt sich bescheiden das Veilchen; ein sanftes
Mädchen suchet es auf, und wiegt es am wallenden Busen.
O, wer nennet sie alle, die duftenden, farbigen Freuden,
Die dem gewässerten Thal' und umwölkten Bergen entblühen?
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Sprich, Natur, wo tauchtest du ein den schaffenden Pinsel,
Als du den Teppich der Alpen mit Enzianen bemaltest,
Deren glänzendes Haupt mit dem Blau des Himmels sich kleidet?
Wen entzückt nicht die Lilie? o, wie selig verweil' ich
Unter den lieblichen Scharen der tausendfaltigen Nelken!
Siehe, dort koset mit mir das duftende hangende Geißblatt,
Und es winket mir hier die kaum geöffnete Rose!
Rose, wer dich nicht liebt, dem ward im Leibe der Mutter
Schon sein Urteil gesprochen, der sanftesten Freuden zu mangeln!
Ihn wird Philomelens Gesang zur Quelle nicht locken,
Ihn kein liebender Blick des süßen Mädchens entzücken!
Rose, dein Leben ist kurz! Ach, klagt im weinenden Liede,
Mädchen, klaget den Tod der schnellverblühenden Rose!
Sieh, ich hoff' es zu dem, aus dessen segnendem Fußtritt
Sonnen strahlen und Rosen blühn: erlöschenden Sonnen
Und hinwelkenden Rosen verleiht er ewige Jugend,
Wenn dereinst die Ströme des Lebens dem himmlischen Urborn
Werden entfließen, in Flüss' und Bäch' und Quellen verteilet,
Und die ganze Schöpfung, verklärt, ein Himmel, ihm lächelt!
Erde, harre ruhig der Stunde des besseren Lebens,
Samml' indessen in deinem Schoße die harrenden Kinder!
Siehe, noch werden dich oft die wechselnden Stunden umtanzen,
Dich mit blendendem Schnee und blühendem Grase noch kleiden!
Nimmer wirst du veralten! im lächelnden Reize der Jugend
Werden plötzlich erbleichen die Sonnen, die Monde, die Erden,
Wenn die Sichel der Zeit in der Rechte des Ewigen schimmern
Und hinsinken wird, in einem rauschenden Schwunge,
Diese Garbe der Schöpfungen Gottes, die Wölbung des Himmels,
Den wir sehn, mit tausendmal tausend leuchtenden Sternen!

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TextGrid Repository (2012). Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu. Gedichte. Gedichte. 59. Hymne, an die Erde. 59. Hymne, an die Erde. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-1B1D-9