634. Doktor Allwissend.

Jan seine Trine wurde einmal krank und das so schlimm, daß er nicht anders konnte, sondern zum Doktor mußte. Als er dort kam und dem Doktor ihre Krankheit erzählte, schrieb der ihm ein Rezept auf, damit sollte er nach der Apotheke gehn. Unterwegs wollte er das Rezept einmal lesen, aber was darauf stand, das sah er für lauter Hühner- und Krähenfüße an und dachte: »Doktor kann jeder wohl sein; so was aufs Papier zu kritzeln, was niemand lesen kann, das könnte ich auch noch wohl; wenn das gut geht und meine Trine wieder besser wird, dann solls nicht lange dauern, so werde ich auch Doktor.«

Als er zum Apotheker kam, gab der ihm die Medizin, Trine nahm sie ein, und im Augenblick war sie wieder besser. »Höre, weißt du was, Trine? Nun will ich dir was sagen, nun [494] will ich auch Doktor sein.« »Doktor sein? Wie wolltest du das wohl werden können!« »Das ist ja nichts! Ein bißchen mit der Feder aufs Papier zu kritzeln und dann zu sagen: ›Geh nur zum Apotheker!‹ Das kann doch ein jeder.«

Nun ließ Jan sich ein großes Schild machen, daran ließ er schreiben: »Hier wohnt der Doktor, der alles weiß.« Als er das Schild vor seiner Tür aufgehängt hatte, kam ein Herr mit seinem Knechte vorbei und suchte ein Pferd, das ihm gestohlen war. Der Knecht, der das große Schild sah und las, was darauf stand, sprach zu seinem Herrn: »Hier wohnt Doktor Allwissend, der weiß vielleicht, wer unser Pferd gestohlen hat.« »So geh einmal hinein«, sagte der Herr, »man kanns nicht wissen.« Der Knecht ging hinein und fragte Jan nach dem Pferde. Jan nahm ein Schnippelchen Papier, kritzelte einige Hühnerfüße hinauf und sprach: »Damit gehe nur zum Apotheker.« Der Knecht auch damit los, und als der Apotheker das Papier sah, meinte er, der Knecht wolle ihn zum Narren haben und gab ihm eine doppelte Purganz zu trinken. Sobald der Knecht die binnen hatte, fing es ihm im Leibe an zu rummeln, daß er schon laufen mußte, was er konnte, und wußte keine andere Stelle zu finden als des Apothekers Stall. Dort zog er ab und machte sein Geschäft, aber auch so, daß das Pferd im Stall sich erschrak und anfing zu wiehern. Der Knecht sah auf und richtig, es war seines Herrn Pferd. Der Knecht nahm das Pferd beim Zaum, brachte es seinem Herrn und sagte: »Ob Jan es auch wußte, daß unser Pferd beim Apotheker war!«

Nicht lange darauf wurde dem Herrn all sein Gut, Silber und Gold gestohlen. Da mußte der Knecht mit der Kutsche hin und holen Jan her. Trine fuhr mit, und als sie bei dem Herrn ankamen, wurden sie in ein schönes Zimmer geführt und mußten erst essen. Als das erste Gericht von dem Bedienten aufgetragen ward, sagte Jan zu seiner Trine: »Siehst du wohl, das war einer.« Jan meinte das Essen, aber der Bediente, der das Gold mit gestohlen hatte, meinte, Jan wisse schon, daß er einer von den Dieben war. »Ob der Doktor auch wußte, daß ich mit dazu gehöre!« sagte er zu den anderen, als er wieder herauskam, »jetzt wag ich mich nicht wieder hinein.« Als der zweite Bediente das zweite Gericht auftrug, sagte Jan zu seiner Trine: »Siehst du wohl, das sind schon zwei.« Der Bediente wurde rot und bleich im Gesichte, [495] und als er zu den anderen kam, sagte er: »Die Sache ist fertig; wußte er nicht, daß ich auch mit dazu gehöre?« Da sprach der dritte: »Dann will ich einmal in den Ofen kriechen und horchen, was sie miteinander reden, ob er das dann auch wohl weiß.« Unter der Weile war Jan mit dem Essen fertig, aber er hatte noch einen Knochen, da wollte er das Mark heraushaben. Er ging mit dem Knochen zum Ofen und klopfte darauf, damit das Mark herausfallen solle. »Jan, was willst du da bei dem Ofen zu klopfen?« sagte Trine, »komm hierher, setze dich zu mir und iß, es ist ja noch was übrig.« »Iß du, wenn du essen willst«, antwortete Jan, »hier sitzt es in und hier solls auch heraus, es mag gehen, wie es will.« Da meinte der, der in dem Ofen saß, er sei damit gemeint, machte sich aus dem Ofen heraus und das zu den andern und sagte: »Es ist richtig! Er wußte auch, daß ich in dem Ofen saß.«

Nun holten sie Jan aus dem Zimmer zu sich heraus und sagten, er solle sie um Gottes willen nicht verraten, sie wollten ihm das Silber und Gold gern alles wieder geben, und wenn er schweigen wolle, dann solle er von ihnen noch was überher haben. Das nahm Jan an und gab dem Herrn Bescheid, daß sein Gold und Silber in ein anderes Zimmer gebracht seien. Dann ging Jan mit dem Herrn hinein und zeigte ihm, daß er durch seine Künste das Gold und Silber wieder herbeigeschafft hatte. Da war der Herr ganz vergnügt und gab Jan noch mehr, als er haben wollte, und ließ Jan und seine Frau wieder mit der Kutsche nach Hause fahren, und Jan war und blieb Doktor Allwissend. (Scharrel.)

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TextGrid Repository (2012). Strackerjan, Ludwig. Sagen. Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg. Zweiter Band. Viertes Buch. 634. Doktor Allwissend. 634. Doktor Allwissend. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-219C-5