208. Die Jungfrau im Ziegenorter Forst.
In dem Ziegenorter Forst zwischen Stettin und Uckermünde sah man in früheren Zeiten oft eine weiße Jungfrau sitzen, die laut weinte und durch den Wald klagte. Sie saß gewöhnlich an einem kleinen Bache, der dort unten im Thale fließt. Sie war dorthin gebannt worden, und konnte nicht anders erlöset werden, als wenn Jemand sie am St. Johannistage durch den Bach trug. Sie hat viele, viele Jahre hierauf warten müssen, und manchen Johannistag hörte man ihre Klagen und Bitten um Erlösung an die Vorübergehenden durch den Wald schallen. Alle, die da vorübergingen, und sie sahen und hörten, fürchteten sich vor dem Zauber, und wagten nicht heran zu gehen, sondern machten, daß sie eilig von dannen kamen. Zuletzt an einem St. Johannistage war einstmals ein Jäger an dem Bache eingeschlafen. Wie der um Mittag [242] aufwacht, da sieht er die Jungfrau vor sich stehen; sie hatte wunderschöne Augen, und sie weinte und klagte bitterlich über ihr großes Elend, und bat ihn, daß er sie durch die Fuhrt tragen möge. Da wurde der Jäger gerührt; er faßte sich ein Herz, nahm sie auf seinen Arm und trug sie eilends durch die Wellen des kleinen Baches. Und als er sie an der anderen Seite auf das grüne Ufer legt, da war plötzlich der Zauber gelöset, und die Jungfrau verschwunden. Aber an der Stelle, wo sie ihm erschienen war, sah der Jäger jetzt einen großen, unermeßlich reichen Schatz liegen, den die Jungfrau hatte verwahren müssen. Den nahm er zu sich, und er wurde für sein Leben lang ein reicher Mann.
Man erzählt auch, daß, einige Zeit vor ihrer Erlösung durch den Jäger, an einem Johannistage ein Bauer mit einem Fuder Holze bei ihr vorbeigekommen sey. Den hat die Jungfrau freundlich angeredet mit den Worten:
Freyberg, Pommersche Sagen, S. 10-13. Acten der Pomm. Gesellschaft für Geschichte.