[322] 276. Die Steinprobe.
In der Stubnitz auf Rügen, nicht weit von dem Herthasee, findet man einen Stein, in welchem man deutlich die Spuren eines großen Fußes und eines ganz kleinen Kinderfußes abgedrückt sieht. Davon erzählt man sich Folgendes: Zur Zeit als noch der Dienst der Göttin Hertha auf der Insel bestand, war unter den Jungfrauen, die der Göttin zu ihrem Dienste geweihet waren, ein junges und sehr schönes Mädchen; diese, obgleich sie der Göttin ewige Jungfrauschaft hatte geloben müssen, hatte eine Liebschaft mit einem fremden jungen Ritter, mit dem sie allnächtlich heimliche Zusammenkünfte an den Ufern des heiligen Sees hielt. Sie hatte ihre Liebe aber nicht so geheim halten können, daß nicht dem Oberpriester der Göttin Kunde davon geworden wäre. Diesem wurde es hinterbracht, daß eine der Jungfrauen strafbarer Liebe pflege: nurwelche es sey, konnte man ihm nicht sagen. Der Priester stellte alle Jungfrauen zur Rede; aber keine bekannte, auch die Schuldige nicht, obgleich sie die Folgen ihres verbotenen Umgangs schon verspürte und sich Mutter fühlte. Da rief er die Göttin an, daß sie ihm die Schuldige durch ein Wunder entdecken möge, und er führte nun sämmtliche Jungfrauen in den Wald zu einem großen Opfersteine. Dort befahl er ihnen, daß sie eine nach der andern mit nacktem Fuße auf den Stein treten mußten. Das thaten sie, und als die Schuldige den Stein betrat, da offenbarte sich plötzlich ihr Vergehen; denn nicht nur ihr eigner Fuß drückte in dem harten Steine sich ab, sondern auch der Fuß des Kindes, das sie unter ihrem Herzen trug. Dies sind die Fußspuren, die man zum ewigen Wahrzeichen noch jetzt in dem Steine sieht. Der Priester soll darauf die Sünderin oben von der Stubbenkammer [323] haben in das Meer stürzen lassen; aber ein Engel hat sie, wie die Leute sagen, in seine Arme genommen und sanft hinuntergetragen; und unten hat ihr Geliebter schon auf sie gewartet und sie in seinem Schiffe mit sich genommen in seine ferne Heimath.
Einige erzählen, der Priester habe die Schwangerschaft der Priesterin entdeckt, und wie er sie vergebens zu einem Geständniß ermahnt, habe er sie zuletzt jene Probe bestehen lassen, worauf dann das Wunder sich begeben. Das Mädchen soll darauf in dem heiligen See ertränkt seyn.
Mündlich.
Ein Rügenscher Dichter hat übrigens diese Sage in folgende Verse gebracht, welche auf der Insel Rügen ehr verbreitet sind:
Die Steinprobe.
(Eine Rügische Sage.)
Auf der Stubnitz waldumkränzten Höhen,
In des Haines stiller Dunkelheit,
Stand, wo wir noch jetzt die Stätte sehen,
Eine Burg, dem Hertha-Dienst geweiht.
In der Götter schauerlichen Hallen
Sah man Rügens schönste Mädchenschaar;
Eine mußte ihr zum Opfer fallen
Von den Priesterinnen jedes Jahr.
Aus den edelsten Geschlechtern strebten
Holde Jungfrau'n dieser Ehre nach;
Wonnetrunken ihre Herzen bebten
An der Weihe feierlichem Tag.
Aber Allem mußten sie entsagen,
Was des Lebens Lenz uns Schönes beut,
[324]Durften kaum entfernt zu ahnen wagen
Treuer Liebe stille Seligkeit.
Wie die Sonne alle andern Sterne
Weit an Glanz und Schönheit überstrahlt,
Glänzt von Rügens Jungfrau'n nah und ferne
Wunna, kaum erst sechszehn Sommer alt.
Früh bestimmte schon der Aeltern Wille
Sie zum Dienst der Göttin; aber ach!
Gumbert liebte sie, und in der Stille
Hingen Beide ihrer Liebe nach.
Als sie nun in Hertha's finstern Hallen
Ihren Dienst mit trübem Sinn versah,
Wagte Gumbert oft dahin zu wallen,
Jeden Abend stand er lauschend da.
Wunna schlich, wenn Alle um sie ruhten,
Leise durch die Pforte in den Hain
Und genoß dort selige Minuten
Bei der Sterne mildem Dämmerschein.
Bald vernahm der Priester schon die Kunde,
Daß der Jungfrau'n eine ihn betrog
Und in stiller mitternächt'ger Stunde
In die Arme eines Jünglings flog.
Drob ergrimmt' er sehr und ließ erscheinen
Alle Priesterinnen, solche That
Streng zu rächen an der schuld'gen Einen;
Wunna bebte, als sie vor ihn trat.
Doch die Schuld'ge wußt' er nicht und fragte;
Alle schwiegen, Wunna schöpfte Muth;
Keiner hielt sie für die Angeklagte,
Denn sie war so fromm und schön und gut.
[325]Laut erscholl des Priesters zornig Wüthen,
Gleich dem Donner durch den öden Thurm,
Und die sonst so bleichen Wangen glühten
Wie der Abendhimmel vor dem Sturm.
»Folget mir hinaus!« rief er, und Alle
Thaten schweigend, wie sein Wort gebot.
»Eh' ich diesen Frevel dulde, falle
Diese Burg und gebe mir den Tod!«
Hundert Schritte aufwärts in dem Haine
Steht er still und winkt der Mädchen Schaar.
»Hier,« ruft er, auf diesem breiten Steine
»Wird die Schuldige uns offenbar.«
»Nackten Fußes tretet auf die Mitte
Dieses Steines nach einander hin;
An dem deutlich eingeprägten Tritte
Kennen wir die freche Sünderin.«
Sprach's, und Alle schritten kühn hinüber;
Wunna blieb zuletzt. Noch keine Spur.
Ach da wurden ihre Augen trüber
Und sie wankte, bleich und zitternd, nur.
Trat hinauf. Doch wehe! schallt's im Haine
Aus des Priesters und der Jungfrau'n Mund.
In dem wunderhaften Göttersteine
Thaten sich zwei Spuren deutlich kund.
Von dem eig'nen Fuße war die eine
Und die and're zart wie Kindestritt.
Deutlich war die Schuld, als sie vom Steine
Bleich und überrascht herniederschritt.
Was sie selbst sich nicht gestehen wollte,
Ja, was ihr vielleicht noch Räthsel war,
[326]Daß sie nämlich Mutter werden sollte,
Lag nun Aller Augen offenbar.
Gleich dem Aar, der mit gespreizten Klauen
Pfeilschnell auf die Beute niederfährt
Und das Lamm von unbewachten Auen
Mit sich führt, weil ihm kein Schäfer wehrt,
So umfaßt mit grimmig-starken Armen
Schnell der Priester Wunna's zarten Leib;
Reißt sie fort ohn' jegliches Erbarmen,
Fast zerdrückend das ohnmächt'ge Weib.
Droben auf der hohen Stubbenkammer
Hält er an, und mit gewalt'ger Wucht
Stürzet er, – o unerhörter Jammer! –
Wunna in die tiefe Bergesschlucht.
Doch mit ew'ger Liebe und Erbarmen
Schützet auch den Sünder Gottes Hand;
Engel trugen Wunna auf den Armen
Sanft hernieder an des Meeres Strand. –
Als aus langem Schlummer sie erwachte,
Lag sie an des Jünglings treuer Brust;
Und der Liebe goldne Sonne lachte
Ihrem Leben nun in reiner Lust.
Wenn Du auf der Stubbenkammer weilest,
Wandle doch zum alten Götterhain,
Ehe Du von Jasmunds Fluren eilest;
Noch erblickst Du dort den Wunderstein. –
Welch ein Glück, daß wir in unsern Tagen
Sicher auf den breiten Steinen stehn,
Und daß unsre Tritte nicht mehr sagen,
Wie viel stille Sünden wir begehn.