118. Von dem Leben der Vereinigung

1.
Wenn die Seel' versammelt stehet,
Ganz entbunden, ganz allein
In ihr'n Mittelpunkt eingehet,
Von den Sündenflecken rein,
Klar und heiter und im Frieden
Und von allem abgeschieden,
[580] 2.
Dann vergisset sie zu merken,
Wie und wo der Leib mag sein,
Und in dessen Stand und Werken
Läßt der Geist sich dann nicht ein;
Tür und Fenster sich verschließen,
Daß nichts hindre dies Genießen.
3.
Dies Gebot gilt allen Sinnen,
Daß sie feiern in der Ruh,
Daß sie sich versammeln drinnen:
Augen, Ohren, schließt euch zu!
Euer Sehen, euer Hören
Würd' die stille Seele stören.
4.
Der Einbildungskraft Geschäfte
Muß allda ganz stille sein;
Ja, der Seele edle Kräfte
Sinken als in Ohnmacht ein.
Das Geschaffne bleibt indessen
Alles fern und wie vergessen.
5.
Die Vernunft nicht diskurieret,
Weil man hemmet ihren Lauf;
Der Verstand die Ruhe spüret,
Sein Verstehen höret auf,
Daß die Liebe ganz alleine
Wirken möge sanft und reine.
6.
Gleichwie Mose dort geschahe,
Bleibt sie auf dem Berg allein
Ihrem Gott im Geiste nahe,
[581]
Läßt das Volk dort unten sein;
Das Gepöbel fremder Sachen
Darf ihr da nicht Unruh machen.
7.
Daselbst sie ganz abgeschieden
Mit Gott handelt still und stumm,
Voll Vergnügen, Freud' und Frieden;
Dort im dunkeln Heiligtum
Sie genießet ohn' Betrüben
Ihres Schönen, ihres Lieben.
8.
Er in ihr sich süß ergötzet,
Sie in ihn wird transformiert,
Er an seinen Tisch sie setzet,
Sie wird göttlich da traktiert
Mit so manchen Traktamenten
Von des Liebsten milden Händen.
9.
Sie bleibt als verschlungen stehen
Im Bewundern solcher Gnad',
Sie kann ihn in allem sehen,
Was nur immer Wesen hat;
Ja, für alles und in allen
Dankt sie ihm mit Wohlgefallen.
10.
Sie fühlt hier in ihrem Herzen
Wegen Widerwärtigkeit,
Wegen Unlust, Last und Schmerzen
Keinen Schmerz zu solcher Zeit;
Sie will nichts, als was sein Wille,
Sie wirkt nur mit ihm ganz stille.
[582] 11.
Auch kein'n Augenblick noch Stunde
Überläßt der Höchste sie
Ihres eignen Willens Grunde;
Nein, der Bräut'gam will es nie,
Daß sich die von ihm soll trennen,
Die er liebt und Braut will nennen.
12.
Der Braut Wollen ist 'was Reines,
Weil's Gott selbst in ihr gewollt,
Weil's mit seinem Wollen eines;
Eh' sie davon weichen sollt'
Einen Blick, sie gäb' sich lieber
Tausend Töden willig über.

Aus dem Spanischen der Johanna Rodrigues

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Tersteegen, Gerhard. Gedichte. Geistliches Blumengärtlein. Drittes Büchlein. Übersetzungen. 118. Von dem Leben der Vereinigung. 118. Von dem Leben der Vereinigung. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-4861-F