[72] XII.
Der Geliebte.

Kamst du, geliebtester Knab'? Nacht ward es und Morgen dreimal!
Kamst! Ach ein einziger Tag macht Sehnsuchtsvolle zu Greisen.
So viel süßer als Winter der Lenz, als die Schlehe der Apfel.
So viel dichter bevließet das Schaf als sein saugendes Lämmchen,
So wie die Jungfrau ragt ob dreimal vermähletem Weibe,
So viel rascher das Reh als das Kalb, wie der Nachtigall klangvoll
Lied vor allem Gevögel am sangdurchdrungensten tönet,
Also erhob mich in Jubel dein Kommen, und unter der Buche
Schatten aus dörrender Sonne, wie müde ein Wand'rer, enteilt' ich.
– Daß einträcht'ge Eroten das Herz durchhauchten uns Beiden,
Und wir würden zum Lied für alle Gebor'nen der Zukunft:
»Wie doch lebeten einst in der Vorzeit Jene zusammen!
Einer der Odemumwallte, wie's nennt die lakonische Sprechart,
Aber den Andern würd' ein Thessalier nennen den Lauscher.
Beide sie liebten einander mit gleichem Gewichte; von Neuem
Blühte die goldene Zeit als der Liebende war der Geliebte!«
– Würd' doch dieß, o Kronion, o würd', nie alternde Götter,
Dieß mir gewährt! und einst nach zweimal hundert Geschlechtern
Käm' an des Acheron Ufern, des rückkehrlosen, mir Botschaft:
»Noch ist dein Lieben und jenes des anmuthvollen Geliebten
Allen im Mund, vor Andern den Jünglingen aber am meisten!«
Doch fürwahr, deß werden die Himmelsbewohner, die hohen,
Walten, wie's ihnen gefällt; ich aber erheb' dich, den Schönen,
Und nie wächset das Zeichen der Lüge mir über die Nase.
[73] Wenn du mich etwa verletzt, gleich heiltest du wieder die Wunde,
Daß ich doppelt gewann und Zuwachs hatte im Weggehn'.
Megara's Söhne in Nisa, ihr Meister in Führung des Ruders,
Segen euch her um das Haus! weil hoch ihr den attischen Gastfreund,
Weil ihr Diokles geehrt, deß Brust für den Knaben erglühte.
Immer ihm her um das Grab im beginnenden Lenze geschaaret
Streiten die Jünglinge dort, zu erringen im Kusse den Siegspreis.
Wer am süßesten da an Lippen geheftet die Lippen,
Schwer mit Kränzen behängt kehrt solcher zurück zu der Mutter.
Glücklicher, welcher den Knaben der Richter ist über die Küsse!
Traun, oft ruft er wohl an Ganymedes, den Strahlenden, flehend,
Daß wie der lydische Stein ihm der Mund sei, welcher unirrend
Ob unlauter das Gold andeutet dem prüfenden Wechsler.

N.

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TextGrid Repository (2012). Theokrit. Lyrik. Idyllen. 12. Der Geliebte. 12. Der Geliebte. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-4FC2-0