Wo sind die Buchenwälder unserer Jugend?
Hat die Welt um 1890 anders ausgesehen als heute? Das hat sie schon: Autos sind nicht dagewesen und der Rundfunk auch nicht, und so viele große Siedlungen hat es noch nicht gegeben . . . aber das allein kann es nicht sein. Es muß noch etwas anderes die Erdoberfläche verwandelt haben – oder ist es vielleicht nur unser Kopf?
Die Stadt war höher, weil wir kleiner waren; der Kullerball war fettig-rot, es war unser zweiter Ball, und so frisch glänzend wie er waren unsere Eindrücke; der achte Ball war nur noch rot, der zweiundzwanzigste [112] nur noch Ball – wie lange haben wir nun schon keinen mehr in der Hand gehabt! Der Hund war vielmehr Hund als heute – es gibt von den Sachen Komparative und Superlative; und auf dem Land – ja, das war es, was ich sagen wollte.
Das Land war ländlicher. Es roch richtig nach Land, die Wälder blauten am Horizont, aber so weit sahen wir wohl gar nicht: wir hatten so viel mit dem Naheliegenden zu tun! Teich und Plankenwagen und Misthaufen steckten voller Wunder – der Bach war unendlich lang, nie ging man bis an das Ende, das gab es gar nicht, und der Rand der Wiese war bedeckt mit den langen Stengeln der Blumen. Heu deckte alles zu.
Heute ist das Land nicht die Stadt; aber das ist auch alles. Bauer Grimkow hat einen Lautsprecher; die Autos zerrasen die Stille; in der Pension sind die Preise zu hoch, die Kinder zu laut und die Zimmer zu klein – in den Wäldern aber gibt es wohlgepflegte Wege, und wenn es keine gibt, sind wir auch nicht zufrieden, so groß sind die Wälder auch gar nicht, und abgeholzt sind sie, daß sie aussehen wie eine lichte Theaterdirektion – »Hier«, sagen sie gewissermaßen, »hast du dir einen Wald vorzustellen.« Die Wiese stellt sich selber vor: »Das Abreißen von Gräsern sowie das Abbrennen von Feuerwerkskörpern und Jagen ist verboten. 17. August 1903. Die Gemeindeverwaltung.« Wo sind die Buchenwälder unserer Jugend –?
Im Auf und Ab des Lebens muß es, wie ich gelesen habe, nach dem Ende der Jugend und vor dem Beginn der Reife, ein Wellental geben, in dem alles still steht. (»Das kann auch an Ihrer Verdauung liegen, Herr Panter.« Derselbe überhört es vornehm.) Wo waren wir stehen geblieben? . . . richtig: wie ein Wellental. Wir wissen doch, wie ausdehnbar die vom Stahlhelm abgelehnte Relativitätstheorie des Professors Einstein ist – es wird nicht nur an den Buchenwäldern liegen, es muß seinen Grund in uns haben.
Die Natur ist nicht griesgrämig-grau, aber eine Verzauberung ist von ihr gewichen, ein Schleier ist gefallen, wir sehen zu viel. Um mich in altem Latein auszudrücken: Die Vajoldung is runta.
Wir sehen die Zäune und die Verbotstafeln, die haben wir früher nie gesehen. Wir sehen die Schotterung der Straßen und den dummen Sommerweg, der so gefährlich für die Autos ist; wir sehen die alte baufällige Dampferbrücke, wir schmecken schlechtes Bier, und die Natur hat Ringe um die Bäume, die nun bald abgeschlagen werden . . . und alles, alles ist kleiner geworden.
Ein Freund hat mir einmal erzählt, er habe sich die bittere Freude gemacht, seine alten Quartiere im Westen wieder aufzusuchen: das erste, was ihm auffiel, war die Winzigkeit dieser Plätze, die er damals mit aller Kraft vollgelebt hatte; klein der Bahnhof und klein die Dorfstraße; klein die Häuschen und klein die Entfernungen, er ist rasch [113] wieder abgereist. So geht es uns oft in der Natur, oft auf dem Lande. Dahin, dahin.
Dies alles liegt einen Millimeter vom Leierkasten entfernt.
Bleibt als Lebensregel: Die Schönheit liegt im Auge des Beschauers.
So, wie der alte Edison entdeckt hat, daß die Schnelligkeit, auf die wir unser Grammophon stellen, dem Herzschlag analog ist – so fühlen wir wohl die Natur, in der wir unsere Kindheit suchen und niemals finden.
Was uns nicht abhalten soll, vertrauensvoll in den nächsten Sommerurlaub zu blicken.