Schuldbuch

Die Reichskanzlei hat im Auftrage des Reichsministeriums amtliche Urkunden herausgegeben: ›Vorgeschichte des Waffenstillstands‹ (bei Reimar Hobbing in Berlin). Dieses Buch sollte auf keinem deutschen Familientisch fehlen.

Es gibt zwei Bücher, bei Eugen Diederichs in Jena erschienen: ›Der Fenriswolf‹ und ›Das Weltreich und sein Kanzler‹, worin ein namenloser Autor den Versuch gemacht hat, moderne Geschichten aus der Finanzwelt nur durch die Wiedergabe von Aktenstücken, Protokollen, Telegrammen und Briefen zu erzählen. Das geht schließlich auch (obgleich es keine Umwälzung der Epik bedeutet). Aber diese Werke wirken nicht, sind von schläfriger Langsamkeit, gehalten gegen dieses Meisterwerk der Weltgeschichte, gegen eine Kasperliade, die nur deshalb keinen Heiterkeitserfolg haben kann, weil sie mit Blut geschrieben wurde.


Die ›Vorgeschichte des Waffenstillstands‹ ist ein Meisterwerk. Wie plastisch erscheinen alle Gestalten! Wie lebendig sind die Menschen, die Heerführer, die Beamten, der Kaiser, die Staatssekretäre – wie lebendig die Formung der wirbelnden Dinge, die sich hinter der Scheinruhe der trocknen Aktenstücke abrollen! Das alte Gesetz der Kunst hat sich hier einmal erfüllt: leidenschaftliche Aktivität der Ereignisse, objektive Ruhe der Darstellung.

Bevor ich loslege, will ich zur Sprache bemerken, daß sie abgehackt ist – Protokollstil; dadurch ist genau der Jargon des potsdamer Gardeoffiziers erreicht. Generale haben Kram geschmissen – aber leider janze Porzellankiste kaputt.

Am vierzehnten August des gottgesegneten Jahres 1918 wetterleuchtete es zum ersten Mal offiziell. Man gesteht es sich zum ersten Mal im [145] internen Kreise ein – anwesend: der Kaiser, der Kronprinz, der Reichskanzler, Hindenburg, Ludendorff, der Staatssekretär des Äußeren, Generaladjutant, zwei Hofbeamte – man gesteht sich zum ersten Mal ein, daß es nicht so recht klappt. Bis dahin hat man sich wohlig in den Lügen der Militärnachrichtenabteilungen gebadet – jetzt gehts nicht mehr weiter. Es ist dies die einzige Sitzung dieses Buches, in der der Kaiser zu Worte kommt. Man muß sagen: kläglich. Man sieht ordentlich die aufgebürsteten Schnurrbartspitzen. Ganz die Marionette aus Heinrich Manns ›Untertan‹, der dergleichen nicht hätte bringen dürfen, ohne den Vorwurf der Übertreibung einzuheimsen. Mehr Ordnung! Besser auskämmen! (Das ist der Ausdruck, dessen sich die Götter bedienten, um anzudeuten, daß man mehr Leute zur Schlachtbank bringen müsse. Die Deutschen scheinen also so eine Art Läuse gewesen zu sein.) »In Berlin laufen noch eine Menge junger Leute frei herum.« (Und seine Söhne? Er ist wahrscheinlich der einzige Deutsche, der sechs kräftige Jungens in dienstpflichtigem Alter nebst einem genau so beschaffenen Schwiegersohn kerngesund aus dem Kriege zurückbekommen hat.) Aber auch vom Feind spricht das kaiserliche Ingenium: es würden ihm eine Menge Menschen totgeschlagen. (Der Mann wußte alles.) Dann sagt er auf, was man ihn gelehrt hat: wie schlecht es England ginge und so. Aber immerhin: Notwendigkeit, sich mit dem Feind zu verständigen. Dann, ganz Wilhelm: »Flammende Reden müßten gehalten werden von angesehenen Privatpersonen (Ballin, Heckscher) oder von Staatsmännern.« Das war es, was der deutsche Kaiser in der Stunde höchster Not seinen Führern zu sagen hatte. Jeder Zoll ein Denkmalstandbild. Undder hat Deutschland dreißig Jahre lang regiert.

Aber die andern sind auch nicht ohne. Schon in der ersten Sitzung klingt in Leitmotiven wie in einer Ouvertüre alles an, was nachher das Werk durchbebt: die verlogene Unfähigkeit, die Lage zu erkennen; die Fähigkeit, sie vor sich selbst mit Redensarten zu verschleiern; die kleine Stirn; das große Mundwerk.

An der Spitze Ludendorff.

Grundlegend für die Beurteilung dieses Mannes ist das Telegramm, das der Kaiserliche Legationsrat Lersner am ersten Oktober 1918 an das Auswärtige Amt schickte: »General Ludendorff erklärte mir, daß unser Angebot von Bern aus sofort nach Washington weitergehen müsse. Achtundvierzig Stunden könne die Armee nicht noch warten.« Vier Jahre sind vergangen; vier Jahre hat er Zeit gehabt. Wie nennt man einen Feldherrn, der für die wichtigste letzte Entscheidung achtundvieizig Stunden Frist gibt?

Das war am ersten Oktober. Schon am zweiten aber läßt er durch seinen Abgesandten, den Major Freiherrn von dem Bussche, den Parteiführern des Reichstags sagen: »Noch ist das deutsche Heer stark genug, um den Gegner monatelang aufzuhalten, örtliche Erfolge zu [146] erringen und die Entente vor neue Opfer zu stellen.« Und er selber sagt in der Großen Sitzung vom siebzehnten Oktober: »Wenn die Armee über die nächsten vier Wochen hinüberkommt und es in den Winter geht, so sind wir fein heraus.« Man macht ihn auf seine damalige Eile aufmerksam. »Es ist auch heute so, daß wir jeden Tag eingedrückt und geschlagen werden können. Vorgestern ist es gut gegangen; es kann auch schlecht gehen.« So sind seine Antworten; nach dem Wetter gefragt, antwortet er regelmäßig: »Kräht der Hahn auf dem Mist, ändert sich das Wetter oder es bleibt, wie es ist.« Der Hahn krähte etwas viel, und das Wetter änderte sich.

Habt ihr einmal Quallen in der Hand gehabt? So muß dem armen Prinzen Max zu Mute gewesen sein, als er mit diesem Menschen verhandelte. »Ich habe schon dem Herrn Reichskanzler gesagt, ich halte einen Durchbruch für möglich, aber nicht für wahrscheinlich. Innerlich wahrscheinlich halte ich den Durchbruch nicht. Wenn Sie mich auf mein Gewissen fragen, kann ich nur antworten, ich fürchte ihn nicht.« Hatte er ihn zu fürchten? Im Hauptquartier? Aber die politische Leitung, oder was sich so nannte, fürchtete ihn; denn sie besaß wenigstens ein klein wenig Verantwortlichkeitsgefühl für das Land. Der Reichskanzler: »Und wenn er sie erkämpft hat, wird er uns dann nicht noch schlechtere stellen?« General Ludendorff: »Schlechtere gibt es nicht.« Der Reichskanzler: »O ja, sie brechen in Deutschland ein und verwüsten das Land.« General Ludendorff: »So weit sind wir noch nicht.« Wenn ein Gefreiter seinem Feldwebel solche Antworten gab, bekam er – rechtens – einen Anschnauzer, daß ihm Hören und Sehen verging. Aber so unterrichtete der oberste Heerführer den obersten Staatsbeamten. Und blieb straflos.

Was war das nun für ein Mensch? Hatte er Charakter? Und welchen? Auch darüber gibt das unschätzbare Buch Auskunft.

Die Reichsleitung will nach trüben Erfahrungen ihre Entschlüsse nicht auf Ludendorffs Angaben allein stellen und hat die Absicht, auch noch andre Heerführer zu befragen. Ludendorff erfährt dies. »Der General habe in großer Erregung geantwortet, dann würde er sofort seinen Abschied nehmen und mit ihm General Hindenburg.« Man nennt das eine Erpressung. Und vielleicht vergleichen die hochpatriotischen Herrschaften von heute einmal dieses Verhalten ihres Abgotts mit dem der Eisenbahner. Ich habe den Eindruck: der General hat sich wesentlich unanständiger benommen. Und blieb straflos.

Was ist das für ein Mensch? Und die Antwort lautet: ein ergrauter Kadett. Sein Jargon, seine Weltanschauung: Kadettenhaus. »Noch im Juni glänzender Eindruck der Bulgaren. Sprachunkenntnis erschwert Eindringen in bulgarische Psyche.« Der Protokollführer, gewiß kein Sprachfuturist, hat durch die Abkürzungen den Ton Ludendorffs wundervoll getroffen. Ach! erschwerte nur die Sprachunkenntnis dem [147] General, in die Psyche fremder Völker einzudringen? Ich habe das Gefühl, daß er in die deutsche Seele so wenig eingedrungen ist wie in die bulgarische. Er kannte beide nicht.

Aber vielleicht war er ein großer Feldherr? Der nur den Umständen unterlag? Ganz abgesehen davon, daß ein Feldherr eben dazu da ist, auch über die Umstände zu siegen – so spricht kein Stratege von Format: »Wir müssen das Vieh haben; woher wir es bekommen, darüber kann ich mir nicht den Kopf zerbrechen.« Das hat auch niemand von ihm verlangt – aber so rechnet kein genialer Stratege. Er rechnet nicht mit dem, was er ›bekommen muß‹ – sondern mit der Realität. Aber die war hart, unbequem und gar nicht gedrillt.

Er für sein Teil blieb, was er war: ein Kadett bis zu allerletzt. »Ich kann Ihnen nur meine Überzeugung sagen. Die Verantwortung dafür, was ich sage, trage ich und habe sie getragen vier lange schwere Jahre.«

Dann zieht ihn jetzt zur Verantwortung! Dann nehmt sie ihm heute ab, die Verantwortung! Er berief sich auf sie, als es nichts kostete – und kniff, als die Gefahr bestand, daß wir ein revolutionäres Deutschland bekamen, floh nach Schweden und kehrte erst zurück, als es hier wieder gut bürgerlich zuging. Er trägt die Verantwortung! Er trägt sie nicht, läuft frei herum und ist straflos geblieben – bis auf den heutigen Tag.

Wer wie der gewohnt war, mit Menschenleben zu spielen, und schlecht zu spielen – der gehört nicht ins Hotel Adlon. »Die Division hat am achten August völlig versagt. Das war der schwarze Tag in Deutschlands Geschichte. Jetzt schlägt sich dieselbe Division glänzend auf dem Ostufer der Maas. Das ist Stimmungssache. Die Stimmung war damals schlecht. Die Division hatte Grippe, es fehlten ihr Kartoffeln.« Die Division hatte Grippe? Die ganze Division? Ich hätt es in diesem Augenblick nicht sagen können, und wenn es das Wohl meines ganzen Vaterlandes betroffen hätte. Die Division hatte Grippe! Es geht mir durch die Seele, dieses gräßliche: Die Division hatte Grippe! Ein Lebewesen, vieltausendköpfig, angesetzt, verpflegt und zur Ruhe beordert – ein Tier aus Menschenleibern. Und Mütter weinten. Und Ludendorff blieb straflos.

Wie der Herr, sos Gescherr. Sie standen nicht einmal bei den Zivilbehörden in bestem Geruch: »Herr von Lersner telefoniert mir . . . Auf Grund seiner langjährigen Erfahrung im Großen Hauptquartier und seiner über die gegenwärtige militärische Lage gemachten Beobachtungen . . . könne er nur auf das dringendste davor warnen, etwaigen Versprechungen der OHL Glauben zu schenken.«

Sie bildeten sich aber ein, ein wichtiger politischer Faktor zu sein, und man nährte sie in diesem Glauben. Wirft man den Arbeitern von heute vor, sie trieben Erpresserpolitik? Nun wohl: diese da verrichteten [148] ihren Dienst nur, wenn sie mitbestimmen durften über Dinge, die sie nichts angingen. Man höre: » . . . Waffenstillstandsbedingungen. Dann folgte die Erklärung, diese seien für das Militär unannehmbar.« Wer ist das: das Militär? Hat Ludendorff seine Soldaten befragt? Wird ein Friede mit einem Lande und mit dessen Streitkräften abgeschlossen? Trieb das Heer Politik? Das Heer durfte keine Politik treiben. Seine Führer mißbrauchten ihre Stellung dazu.

Das Militär hatte zwei Feinde. Einen berufsmäßigen, der lag vorn. Hätte es seine ganze Kraft gegen den verwendet – wer weiß, wie es abgelaufen wäre . . . Einen grimmigen und bittern, den Todfeind: der lag hinten und war die Heimat. Das Militär haßte die Heimat. Es hat immer im Kriege – instinktiv einmal richtig – da hinten die große Gefahr gewittert. Da war Unordnung, Auflehnung, Menschlichkeitsgefühle, Allotria, Nebendinge neben dem Kasernenhof – ja, es gab sogar Leute, die den preußischen Offizier nicht recht für voll nahmen. Von Gallwitz: »Ebenso habe oft der Heimaturlaub schlecht gewirkt. Die Leute seien oft in schlechterer Stimmung aus der Heimat zurückgekommen, als sie dahin gegangen seien. Ungünstig habe sich auch bemerkbar gemacht, daß wir die Presse aller Richtungen ungehindert hätten im Heere verbreiten lassen.« Das ist mein Preußen, das Land der Offiziere! Daran erkenn ich meine Pappenheimer!

O sie wußten, was sie wollten! Sie wollten für sich und nur für sich! »Dazu ist aber erforderlich, daß auch in der Heimat alles getan wird, um die Stellung und das Ansehen des Offiziers wieder zu heben und jeder verhetzenden Propaganda scharf entgegenzutreten.« Er selbst aber, der Offizier, hob sich weniger. Im Gegenteil: er sank immer tiefer. »Bei der Zurücknahme der Front ist es nicht zu vermeiden, daß ein großer Teil Belgiens wieder schwer geschädigt wird. Wenn auch durch schärfste Befehle jede Verwüstung des Landes verboten ist, so sind die aus militärischen Gründen notwendigen Zerstörungen und Härten für die betroffene Bevölkerung nicht zu vermeiden.« Sind militärische Zerstörungen überhaupt noch Zerstörungen? Und die Offiziere des 64. Pommerschen Infanterieregiments gingen hin und trösteten die Frauen und Mädchen von Lilie, die sittenpolizeilich untersucht und zur Zwangsarbeit geschleppt wurden, und sprachen: »Seht, es ist militärisch notwendig, was wir tun! Freuet euch und jubelt mit uns!«

Die Stimmung! Diese vielzitierte Stimmung! Was mußte nicht alles getan werden, um sie aufrechtzuerhalten! Stimmung gradeeeee – aus! Aber sie wollte nicht. Immer neue Klagen kamen. Die Kerls erdreisteten sich sogar, durch diese Bonzen im Reichstag auf die mangelhafte Verpflegung und auf die Kasinos hinzuweisen. Ludendorff stand auf. Am siebzehnten Oktober 1918. »Daß der Stab sich die Sache besser zubereiten läßt, ist doch zu verstehen – man wird uns nicht zumuten, [149] aus der Feldküche zu essen.« Nein – man wird euch nicht zumuten! Den Mut hatte keiner: die Zivilisten nicht und ihr auch nicht. Es war eine große Zeit.

Man hatte immer das rechte Wort am rechten Ort. Ludendorff: »Die Flieger der beiden Heere verhalten sich schon jetzt wie 1:3. Trotzdem ist die Überlegenheit bei uns.« Oberleutnant Kurt Hesse im›Marne-Drama des fünfzehnten Juli 1918‹: »Wir sind die Herren der Luft! – wie oft habe ich das auf Urlaub in der Heimat gehört. Ich möchte nicht Lügen strafen, aber was ist grade hier verschwiegen worden! Ganz selten nur, für Wochen, haben wir tatsächlich die Luftherrschaft gehabt! Meist waren wir völlig unterlegen.«

Die Pausen wurden durch die Clowns ausgefüllt. Aber das Schmierentheater barg nicht nur Exzentriks edelster Art, sondern auch krumme Intriganten. »Das neue Kabinett soll alle Kräfte des Volkes auf breitester nationaler Grundlage zusammenfassen und der Verteidigung des Vaterlandes nutzbar machen. Die auf diese Weise neu gebildete Regierung würde im gegebenen Momente an den Präsidenten Wilson heranzutreten haben . . . « Hannemann, geh du voran! Du hast die langem Stiefel an! Eine dünne Maske.

Sie spielten alle Karten aus – nach innen. »Militärische Lage ist stärkstes Druckmittel gegenüber unsinnigen und anspruchsvollen Parteien.« Wozu hat man einen kleinen Weltkrieg, wenn man ihn nicht zu benutzen weiß?

Und sie verzichteten sogar, wenns zum Klappen kam, auf Flandern und auf alles – nur noch weiter Krieg führen! Nur dieses herrliche Spiel nicht einstellen, bei dem Orden und Sektflaschen heraussprangen, Gehälter, Ehren und – wer weiß? – auch volle Waggons aus Flandern. Admiral Scheer: »Der Ausfall der beiden U-Boot-Basen in Flandern und im Mittelmeer hat auf unsern U-Boot-Krieg nach meiner Auffassung und der meiner Mitarbeiter keinen Einfluß.« Ich besinne mich, dieses Lied schon mal in einer andern Melodie gehört zu haben.


Lest dieses Buch! Ihr lernt was fürs Leben! Darin ist alles: das Deutschland, wie es sich zugrunde gerichtet hat, seine Führer, sein Ressortkrieg, sein nervöses Hin und Her, die Kopflosigkeit und die Weltfremdheit seiner Soldaten und Diplomaten.

Die Regierung, die dieses kostbare Material in Händen hat, wertet es nicht voll aus. Warum nicht?

Man wird das Gefühl nicht los, als schone man – entfernte Verwandte. Als sei Noske irgendwie der Fortsetzer von Ludendorffs Tradition. Als schlage man nur deshalb nicht fest zu, weil man selbst beteiligt war, ist und sein wird.

Gott segne sie alle miteinander! Um so mehr wollen wir tun, was sie in berechtigter Scham unterlassen.


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TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1919. Schuldbuch. Schuldbuch. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-5B6B-4