[160] Was man andern übel nimmt
»Daß er mir das Geld nicht zurückgegeben hat; daß er mit meiner Frau durchgebrannt ist; daß er den Artikel über mich veröffentlicht hat – das nehme ich ihm alles nicht übel. Aber daß er mich auf der Straße nicht zuerst gegrüßt hat – das – – –«
Warum man andere Leute haßt, hat vielerlei Gründe, die meisten lassen sich finden. Warum man sie verachtet: desgleichen. Aber was man den Leuten ›übel nimmt‹ . . . das muß man erst auseinanderverposamentieren.
Da ist also zum Beispiel die Platte Accordeon 0022, das ist deine [160] allerliebste Lieblingsplatte. Auf ihr singt Miss Sylvania Koschuby (Alaska) den erschütternden Song »Why am I so blue – –!« und du hast sie dir schon 34 mal vorgespielt. Und nur im Freundeskreise andeutungsweise davon Mitteilung gemacht; denn gute Platten sind ein Geheimnis, man soll sie hüten. Du hast sie gehütet. Eines Tages aber ist Anton mal heraufgekommen, hat gesagt: »Na, alter Junge – was machst du immer –?« hat auf deinen Zigarren geraucht und in deinem Whisky herumgetrunken . . . und in einer Minute der Seelenweichheit spielst du ihm vor: »Why am I so blue – –« Und bevor du die Nadel ansetzest, sagst du: »Anton. Paß auf. Du stehst an einem Wendepunkt deines Lebens, So was hast du überhaupt noch nicht gehört – laß mal jetzt den Quatsch mit der Katze und hör zu –!« Accordeon 0022 beginnt dahinzugleiten . . . Anton läßt natürlich die Katze nicht, hört aber zu. Platte aus. Du: »Na?« Anton: »Also – was du daran findest –« Diese Freundschaft hat ein Loch. Das nimmst du ihm übel.
Wir nehmen mancherlei übel.
Zum Beispiel, wenn der andere eine listig ins Gespräch gesetzte Pointe, auf die du ungeheuer stolz bist, glatt überhört. Du hast von Onkel Paul, fein, geistreich und zugleich charmant, nicht gesagt »Paul Kleff«, auch nicht »Onkel Paul«, sondern »Paul beziehungsweise Irmchen«, was für den, der die Verhältnisse kennt, eine tödliche Bosheit ist . . . Dein Gegenüber tut nichts dergleichen. Hat er gar nicht gehört. Hört ja nie zu, der Mann. Das nimmst du ihm übel.
Generell übelgenommen wird den ›Auch-Sagern‹. Es gibt ja bekanntlich einen wilden Volksstamm, der aus solchen besteht, die du gar nicht kennst, die aber hinter dir an den Schalter kommen, nach dir beim Kellner bestellen, alles mit ›auch‹. – »Mir auch 'n Mokka –!« Wieso: ›auch‹? Hängt sich der Kerl vielleicht an meinen Königlichen Mokka an? Übel nimmst du es ihm.
Du nimmst übel, wenn du von einem ganz kleinen, ganz, ganz unbekannten Nest in Südfrankreich erzählst, so klein und so billig und so sonnig und so südfranzösisch – und, na, überhaupt! »Kenn ich«, sagt der andere. »Da war ich im vorigen Jahr mit meiner Frau!« – Du nimmst übel, wenn du einem Mann mit Zahnweh deinen Zahnarzt empfiehlst und er geht zu einem andern, bei dem er nun hoffentlich bald eingehen wird; du nimmst übel, wenn du bei einer frisch kennengelernten Familie den Hund streichelst (weil du die Tochter süß findest), der Hund aber wendet den Kopf ab, ganz langsam dreht er ihn nach der andern Seite, das heißt auf hündisch »Geschenkt«. Das nimmst du erst dem Hund übel, danach auch ein klein wenig der Familie, es überträgt sich. Du nimmst übel, wenn der andere ein schweres Wort beim Kreuzworträtsel viel schneller heraus hat als du, und dann auch noch so tut, als ginge er mit dem verdammten Wort schlafen. Bildungsprotz, infamer . . . ! Du nimmst übel, wenn du, nicht Tennis spielend, mit einem guten Freund [161] zusammen bist, der plötzlich an einen Tennis-Trainer gerät und auf einmal die Fachworte schwirren läßt . . . das hat man nicht gern, man steht so draußen, und außerdem ist es affektiert – wenn man es selbst nicht sagen kann. Du nimmst übel, du nimmst übel.
Kennen Sie den, der so satt zufrieden ist? Dem das Glück aus allen Knopflöchern leuchtet? Wir mögen das nicht, wir verübeln ihm sein Glück ein wenig, es ist nicht Neid, das wäre sehr einfach – er ist so frech und fett glücklich . . . Wir nehmen ganz besonders übel, wenn wir, vor der Macht zitternd, bei der wir unser Geld verdienen, einen treffen, der auf diese Macht pfeift, auch das nehmen wir aber übel! Dem neu einsteigenden Mann im Coupé nehmen wir überhaupt alles übel: seinen niedrigen Kragen, seinen neuen Koffer, seinen Apfel, seinen Hut und seine Existenz . . . wir nehmen es dem Nebenmann beim Friseur übel, daß er so frech zu dem Barbier ist, und nun gelingt es ihm, sein Haar genau so geschnitten zu bekommen, wie er das wünscht (bekanntlich das Zeichen höchsten Mannesmutes), ein böser Blick geht da hinüber . . . Wir nehmen übel, wenn uns jemand geistig abstempeln will: »Sie sind eben Freudianer!« – »Ich bin gar kein Freudianer!« sagst du, denn er hat dich nicht in einen Kasten zu legen, mit einem Etikett oben drauf, wir sind komplizierte Naturen, das wäre ja noch schöner . . . ! Wir sind wie die Tante auf dem Sofa: wir nehmen überhaupt übel.
Warum –?
Weil die winzig-kleinen Demütigungen, die nadelfeinen, manchmal stärker pieken als die großen, niederschmetternden; weil nichts so schmerzt wie verletzte Eitelkeit – und weil etwa Dreiviertel von dem, was geschieht und nicht geschieht, auf den sozialen Geltungstrieb zurückzuführen ist, der viel, viel stärker ist, als wir ahnen. Die Welt ist eng, leicht haben wir Tuchfühlung mit dem Nebenan, noch leichter stößt der Nachbar, bewußt oder aus Versehen, dir den spitzen Ellenbogen in die Seite deiner Seele . . . und dann steht das Ich auf: Wir sind doch auch noch da! Hat das etwa einer gesehen? Und nehmen übel.
Der Mensch besteht aus Knochen, Fleisch, Blut, Speichel, Zellen und Eitelkeit.