Wohlanständige Wohltätigkeit

Ihr kennt alle den deutschen Sammelunfug. Wofür wird gesammelt? Für die Erhaltung des Deutschtums in Nieder-Honolulu; für ein Bismarck-Wöchnerinnenheim an der Oberspree; für die vertriebenen Mitglieder des Kegelklubs Ludendorff in der Oberlausitz; für weiß der Teufel was. Und viele geben. Was geschieht mit dem Geld?

Vor dem Kriege lebte in Paris ein Fräulein Hedwig Bürke als wissenschaftliche Hilfsarbeiterin. Sie hatte es nicht leicht, sich durchs Leben zu schlagen. In Paris lernte sie eine Größe bei einem deutschen Hilfsverein kennen, eine Frau K. Diesem Inbegriff aller germanischen Tugenden gab Fräulein Bürke aus der Gefangenschaft einen Brief nach Deutschland mit, als Frau K. Frankreich verlassen konnte. Die K. beging hier eine strafbare Handlung: sie öffnete den Brief. Der Brief war an den katholischen Seelsorger von Fräulein Bürke gerichtet; er enthielt, was die K. erwartet hatte, einige unfreundliche Äußerungen über die Tätigkeit des deutschen Hilfsvereins. Der Hilfsverein in Paris arbeitete so, wie die ›bessern‹ Auslandsdeutschen gemeinhin arbeiten, wenn sie sich in Rudeln vereinigen – unter Anwendung aller deutschen Untugenden, als da sind: kriechen nach oben; treten nach unten. Fräulein Bürke kehrte im Dezember 1915 nach Deutschland zurück.

Die K. war inzwischen tätig gewesen. Sie hatte hier in Berlin sämtliche in Betracht kommenden Stellen gegen Fräulein Bürke mobil gemacht. Erfolg: die Gesuche des Fräulein Bürke wurden überall abgeschlagen. Insbesondere ihr immer wiederholtes Gesuch um Beschaffung einer Schreibmaschine, damit sie wieder arbeiten könne. Aber wozu Details . . .

Der Fall ist kein Einzelfall. Ich habe mit Fräulein Bürke lange und oft verhandelt, ich habe ihre Arbeiten über das Wirken dieser Fürsorgestellen gelesen, und ich habe gelesen, was Schwester Henriette [455] de Matringe-Arendt über diesen Skandal geschrieben hat. Mein Eindruck ist der: In den kommunalen Fürsorgestellen wird schematisch, also herzlos gearbeitet. Bei den privaten Fürsorgestellen glaube ich eine deutliche menschliche und politische Tendenz zu erkennen. Insbesondere sind noch aus dem Kriege her manche Stellen des Roten Kreuzes mit ungeeigneten Personen besetzt. Darunter befinden sich adlige Damen, deren schrankenloser Egoismus nur durch ihre Hochnäsigkeit übertroffen wird. Verhalten, Ton und Manieren der Fürsorgedamen, des untersuchenden Arztes: unsachlich, hart, undiszipliniert. Menschliche Tendenz: Kriecher werden bevorzugt. Politische Tendenz: Monarchisten und Bigotte werden bevorzugt. (Gespräch in einer Fürsorgestelle: »Herr Dryander . . . « – »Bitte: Herr Geheimer Konsistorialrat Dryander.«) Das hält zusammen wie die Kletten, betrachtet vertriebene Auslandsdeutsche und Hilfesuchende als unangenehme Eindringlinge und bildet sich ein, die Unterstützungsmittel flössen als Gnade aus eigner Machtvollkommenheit in die Taschen von Lumpenproletariern. Das nationale Solidaritätsgefühl, von dem diese Kreise sonst überquellen, wenn es gilt, andre Menschen in den Tod zu schicken, ist ausgelöscht.

»Vertraulich. Armendirektion. Abteilung für Flüchtlingsfürsorge. Geschäftsnummer B. 142 A. Fl. An die Volksspende für die vertriebenen Auslandsdeutschen, Berlin W. 62, Kleist-Straße 43.

Anliegend übersenden wir die beiden uns Zuständigkeits halber überwiesenen Befürwortungsgesuche für Fräulein Bürke, ergebenst wieder zurück. Wir bemerken, daß wir Fräulein Bürke eine laufende Unterstützung von 60 Mark gewähren, aber nicht gewillt sind, ihr zur Anschaffung einer Schreibmaschine etwas zu geben. Wegen dieser Schreibmaschine wendet sich Fräulein Bürke schon seit zwei Jahren oder auch schon länger an alle möglichen Stellen und Persönlichkeiten. Fräulein Bürke gehört überhaupt in die Klasse der hysterischen Querulanten. Unsre Akten sind voll von Gesuchen an die verschiedensten Herren Reichskanzler, den Prinzen Max von Baden, Herrn Kommerzienrat Manasse, Herrn Bürgermeister Reicke undsoweiter. Sie befindet sich, wie unsre Prüfungen ergeben, jetzt wohl zweifellos in bedürftigen Verhältnissen. In der deutschen Kolonie in Paris hat sie sich aber, wie wir von verschiedenen Seiten zuverlässig gehört haben, eines recht schlechten Rufes erfreut . . . Die Anschaffung einer Schreibmaschine halten wir aber, noch dazu bei den heutigen hohen Preisen tut durchaus unangebracht, da Fräulein Bürke unsrer Ansicht nach gar nicht in der Lage sein kann, sie nutzbringend zu verwenden. Sie kann, zum Beispiel, eine Hand wegen rheumatischer Schmerzen kaum gebrauchen, so daß sie jedenfalls frühere mit Schreibmaschine geschriebene Gesuche nur mit kleinen Anfangsbuchstaben schreiben konnte. Wir sind im [456] übrigen der Ansicht, daß die Schreibmaschine zu einem erheblichen Teil wohl dazu benutzt werden würde, um neue Gesuche an alle möglichen Persönlichkeiten loszulassen.«


So viele Sätze, so viele Unrichtigkeiten. Fräulein Bürke hat nie an den Reichskanzler und nie an den Prinzen Max von Baden geschrieben. Fräulein Bürke hat sich nicht an Herrn Manasse gewandt. Der schlechte Ruf beruht auf einer Verleumdung und ist nicht bewiesen. Fräulein Bürke ist, wie ich selbst festgestellt habe, fähig, ordentliche Schreibmaschinenmanuskripte herzustellen. Die Vermutung, sie würde die gewährte Schreibmaschine nur zur Anfertigung neuer, also unbequemer Gesuche benutzen, ist eine unsachliche Unterstellung und eine Vermutung, nach der die Armendirektion niemand gefragt hat.

Querulantin? »Warum schreien Sie so? Sie liegen auf der Folter? Aber es ist gesellschaftlich nicht fein, so zu schreien!« Man stelle sich nur einmal vor, welche Nervenkraft, Selbstüberwindung und Geduld dazu gehört, sich von Stelle zu Stelle schicken zu lassen, immer wieder auf sachlich nicht begründete Ablehnung zu stoßen, herausgeworfen zu werden, man stelle sich nur vor, wie geknickt das bißchen Menschheitsstolz durch solche Besuche wird, und man denke daran, daß dieser Feldzug um das nackte Leben nicht von einem satten und ausgeruhten, sondern von einem zermürbten Menschen geführt werden muß. Querulantin?

Ich würde es bedauern, wenn nun etwa der Tschin in verbissener Rechthaberei auf seinem falschen Schein bestehen bliebe. Er hat sich geirrt, hat Unrecht getan und kann nichts Besseres und Schöneres tun, als es wieder gut zu machen.

Ihr aber, die ihr Wohltätigkeit unterstützt, seht danach, wer sie ausübt!


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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1920. Wohlanständige Wohltätigkeit. Wohlanständige Wohltätigkeit. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-5C95-B