Das flüsternde Sanatorium

Alles haben sie mir verboten: Schmalz und Gänsebutter und Kalbsgrieben und Zucker und Brot und Suppe und Wein und Aal und alles –; mein Essen wird in kleinen Vogelnäpfen serviert, und morgens beim Masseur stoße ich schon immer den Atem aus, damit ich leichter scheine; bald bin ich gar nicht mehr vorhanden, dann wiege ich minus drei Pfund und bekomme beim Weggang vom Sanatorium noch etwas heraus . . . Alles haben sie mir verboten. Ich nähre mich von Luft, Musik und Liebe.

Die Luft weht lind auf dem Zauberhügel, von der Liebe darf ich nichts sagen, denn die braune, kleine Frau ist zur Zeit an einen Berufsboxer gekettet – aber die Musik habe ich in einem Grammophon mitgebracht. Heute nachmittag sind die neuen Platten gekommen, die ich bestellt habe. Lasset uns hören.

[190] Zu oberst liegt der ›Empfang Lindberghs in New York‹, etwas ganz und gar Blödsinniges. Dann Jack Hylton. Dann ›Miss Annabelle Lee‹ geflüstert von Herrn Jack Smith, dem Oberflüsterer, begleitet von einem flüsternden Orchester. »Bariton in 78 Umdrehungen« steht auf der Platte zu lesen.

Das Orchester hört sich an, wie wenn jemand ein gutgestimmtes Gummiband zupft . . . dann streichelt jener mit der Stimme. Übrigens ist es drei Viertel neun, und so spät darf man in diesem Klapskasten keine Musik mehr machen. Und die Platte ist so schön – – ich möchte sie noch einmal spielen, und noch einmal. Was nun –?

Nun stopfe ich eine kunstseidene Unterhose in das Grammophon und zwei Handtücher, drehe auf – da ist nichts mehr zu hören als ein Gewisper, dem Geräusch einer Nähmaschine nicht unähnlich, Miss Annabelle Lee! » . . . pretty little baby« – über den Apparat gebeugt sitzt ein König Ludwig des Grammophons und läßt sich etwas vorspielen, königlich allein. Keine Schwester kann mich hören und keine Oberschwester, kein Unterarzt, kein Oberarzt und kein Chefarzt . . . Miss Annabelle Lee –! Woran erinnert diese getuschelte Musik? Sie erinnert an die berliner Nachtlokale der Inflationszeit, wo man heimlich, scheu und leise von den Schleppern, die sich erst wie Intriganten nach allen Seiten umsahen, in eine Vier-Zimmer-Wohnung am Bayrischen Platz geführt wurde, und da gings hoch her, dideldumdei: nackte Nutten tanzten bei Sacharinsekt und Bratkartoffeln um den emsig steigenden Dollar . . . Und alles war geflüstert: die Mädchen flüsterten und die dicke Wirtin, die die Konfiskation der Wohnung riskierte; das Grammophon oder die Geigen, die eine Sordine aufgelegt hatten, die Gäste flüsterten und die Kellner – welch diskretes Amüsement! – So eine Musik ist das.

Und plötzlich greift das Flüstern auf das ganze Sanatorium über, es steckt an, alles flüstert, leise, leise, fromme Weise . . .

Es flüstern die massierten Bäuche, die morgens unter den Händen des männermordenden Masseurs klatschen; es flüstern die Patienten, die überfressenen Männer und die leeren Frauen, es flüstern Hysterie, falsche Gesundheit und eingebildete Krankheit; die Rothaarige im Park flüstert: »Sehe ich so aus?« und man möchte zurückflüstern: »Ja, mein Kind, so siehst du aus!« – es flüstert Schwester Gertrud und Schwester Elise; es flüstert der durchaus sächsische Friseur, und es flüstert die Intrigantin mit der Brille; es flüstert der alte Geheimrat, der sich an einer jungen blonden Frau entzündet hat, es ist vielleicht das letztemal in seinem Leben, und nun hat er sich den Hut schief aufgesetzt und geht mit fröhlichen Beinen umher, nicht bedenkend, was geschehen könnte, wenn sie Ja sagt; es flüstern die Bücher in der Sanatoriums-Bibliothek, in sechsundzwanzig Bänden flüstert dort Onckens Weltgeschichte ihre Weltgeschichtslügen; es flüstern die Patienten im[191] Raum der Höhensonne, wo alle aussehen wie gepuderte Leichen; Generaldirektoren spazieren dort und schlaue Notare, mit nichts als ihrer Würde und einer schwarzen Brille bekleidet, das ist nicht viel; es flüstert Jumbo, der Sanatoriumsdackel, der grundsätzlich gegen alle Gäste ist (mit Recht); nur ein Liebespaar, das sich kaum gesucht und gleich gefunden hat, flüstert nicht mehr – es verhaucht.

Es flüstert die saure Ehefrau, die im Geist ununterbrochen zählt, was sie alles besitzt und die böse auf Leute ist, die sie nicht beneiden; es flüstert das Badewasser, das nolens, volens die fetten Glieder der Syndici umspülen muß, es flüstert die Schaukel im Luftbad, es tuschelt im Brauseraum, und flüstert der kluge Chefarzt, dessen Rolle mit Viktor Schwannecke zu besetzen wäre – es flüstert im Büro, in den Schwesterzimmern, es flüstert die treue Oberin, die an einen Landsknechtweibel gemahnt, und es flüstert der Portier und zählt, wieviel Flaschen verbotenes Bier er noch hat, der bootlegger. Das Wasserband der Elbe schimmert herauf, das lichterbestickte Dresden blitzt und glitzert, und es flüstern sächselnd die Winde – kurz, es flüstert das ganze Sanatorium. Und das hat mit ihrem Singen Miss Annabelle Lee getan.

Horch, ein Gongschlag!

Nun ist es wieder Mittag, am andern Tag, das Leben in der Stoffwechselfabrik geht seinen gewohnten Gang, und wir nehmen ab und zu zu und ab und zu ab, und werden mene mene tekel, gewogen, gewogen und zu schwer befunden – Miss Annabelle, Annabelle Lee!


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TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1928. Das flüsternde Sanatorium. Das flüsternde Sanatorium. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-5CB7-1