Hat Mynona wirklich gelebt?
Ich klingelte.
– »Wohnt hier Herr Mynona?«
– »Wer?« sagte die Haushälterin, die mir geöffnet hatte.
– »Mynona«, sagte ich; »Mynona, über den wir so viel und mit so viel Nachdenken gelacht haben – ein lachender Philosoph, denken Sie, was das in Deutschland heißt! Ein Mann, der auf dem Grunde seines Wissens bunt angemalte Gebäude errichtet hat: runde Würfel, siebenundzwanzigeckige Theater, Mädchenschulen aus durchsichtigem Gummi . . . Mynona! Der auf der Bank der Spötter saß! Mynona! Nein?«
– »Kommen Sie herein!« sagte die Haushälterin. Ich kam. Sie öffnete eine Tür –
Ein aufgeregter Greis mit flatternden Haaren begrüßte mich mit einem donnernden:
– »Guten Tag, Herr . . . « sagte ich. »Herr Mynona?« – Der Greis fuchtelte mühselig mit Armen und Beinen. »Ha!« rief er. »Ich habs ihm besorgt!« – »Wem?« sagte ich. – »Remarquen«, sagte er. »Hier: seine alten Feuilletons aus von vor dem Kriege – und hier: polizeiliche Meldeformulare! und hier: alte Zeitschriften! und hier: eine dolle Geschichte! ein Monokel, das er getragen hat, obgleich er keinen Monokel-Erlaubnisschein gehabt hat – und hier . . . « Erschöpft sank das glückliche Stück Unglück in sich zusammen. »Beruhigen Sie sich, Herr . . . « sagte ich. »Herr Mynona?« – »Ich will auch einmal bei den Erfolgreichen sein!« sagte der Greis. »Ich habe ihn enthüllt! Ich enthülle ihn. Ich werde ihn enthüllen! Ich habe ein dickes Buch gegen ihn geschrieben! Und hier – hier habe ich einen Nachttopf; auf dem Grund dieses Nachttopfes habe ich sein Bild gezeichnet, und jedesmal, wenn ein neues Hunderttausend seines Buches herauskommt, dann setze ich mich auf diesen Topf und – –«
Ich ging. Mynona? Es scheint: unser Mynona hat nie gelebt.
Nachdem sich die Aufregung über Remarque etwas gelegt hat, sehen wir wohl klar:
[282] Das Buch hat nicht als Kunstwerk die Millionen erregt sondern wegen seines Stoffes und wegen der Behandlung dieses Stoffes. Das Buch ist kein großes Kunstwerk, aber ein gutes Buch. Das Buch hat durch die unsagbare Dummheit der Rechtskreise einen pazifistischen Dunstkreis erhalten; diese Tendenz war von Remarque höchstwahrscheinlich nicht beabsichtigt. Die aktive pazifistische Wirkung des Buches ist sehr fraglich; die Einwände von Sclutius, die hier gestanden haben, scheinen mir höchst beachtenswert. Remarque kann und wird nie wieder einen solchen Erfolg haben; auf seinem nächsten Buch steht unsichtbar – wie das in früheren Jahrzehnten üblich war –: »Vom Verfasser von ›Im Westen nichts Neues‹.«
Gegen das Buch läßt sich vielerlei sagen.
Man darf den Stilisten Remarque angreifen. (Ich tus nicht – aber so ein Angriff ist denkbar.) Man darf sagen: so ist der Krieg nicht gewesen; der Krieg war edel, hilfreich und gut – die Soldaten haben sich mit Schokoladenplätzchen beworfen und in den Pausen ihrem Kaiser gehuldigt. Man darf sagen: Der wahre Mann beginnt erst, wenn er seinem Gegner eine Handgranate in die Gedärme geworfen hat. Man darf vieles über, für und gegen das Buch sagen, fast alles.
Aber eines darf man nicht.
Man darf nicht den Kampf verschieben und sich die bürgerliche Person des Autors vornehmen, dessen Haltung nach einem in der Geschichte des deutschen Buchhandels beispiellosen Erfolg mustergültig ist. Der Mann erzählt uns keine dicken Töne, er hält sich zurück; er spielt nicht den Ehrenvorsitzenden und nicht den Edelsten der Nation – er läßt sich nicht mehr fotografieren als nötig ist, und man könnte manchem engeren Berufsgenossen soviel Takt und Reserve wünschen, wie jener Remarque sie zeigt. Was hat Mynona getan?
Mynona hat eine Unanständigkeit begangen.
›Hat Remarque wirklich gelebt?‹ bei Paul Steegemann, Berlin.
Es ist eine Unanständigkeit, einem Schriftsteller, der sich sein Leben mit der Schreibmaschine verdient, vorzuwerfen, er habe einmal Reklameverse für die Pneumatikfirma Continental gemacht. Man hat neulich Shaw und einigen andern großen englischen Schriftstellern dergleichen angetragen; sie haben alle abgelehnt, und einer von ihnen – wenn ich nicht irre, war es Wells – hat geantwortet: »Ich täte es. Aber es ist bei uns nicht üblich – dergleichen wird falsch aufgefaßt; ich kann es nicht tun, weil es nicht üblich ist.« Nun war Remarque, als er diese Reklamearbeit machte, ein ganz unbekannter, junger Schriftsteller, und wenn es Herrn Mynona für sein nächstes Buch interessiert, so will ich ihm enthüllen, daß ich vor dem Kriege einmal einen solchen Antrag bekommen habe – die Sache kam nur darum nicht zustande, weil ich zu teuer gewesen bin. Ich halte es für keine Schande, wenn ein Schriftsteller seine stilistischen Fähigkeiten in den Dienst [283] einer anständigen Firma stellt (was viel, viel schwerer ist, als die meisten ahnen); ich machte das heute auch nicht mehr – weil es nicht üblich ist. Aber täte es einer von uns: eine Schande ist das nicht.
Mynona hat des weiteren alte Romane Remarques ausgegraben. Zum Glück ist die Schrift des streitbaren Philosophen unlesbar und von einer altbacknen Langeweile mit Wasserstreifen: soweit ich aus dem Kram klug geworden bin, scheinen die Romane, die Remarque damals geschrieben hat, minderwertig gewesen zu sein. Vielleicht unterrichtet sich Mynona einmal über die Anfänge Zolas, der seinen jungen Leuten nicht nur gesagt hat: »Faites du reportage! – Machen Sie Reportage! Brandberichte, Rohrbrüche, Morde und Diebstähle – es übt!« – sondern der selbst mit unsäglichen, heute gar nicht mehr lesbaren Romanen begonnen hat – einer Arbeit, deren er sich niemals geschämt hat. Er tat das, pour se faire la main – um in Übung zu kommen.
Die spezifisch deutsche Widerwärtigkeit, die die Luft unserer Politik so verpestet, weht durch dieses Buch Mynonas. Hierzulande werden Einwände damit erwidert, daß man sagt: der Einwendende habe einen roten Bart und eine verstopfte Schwiegermutter. Statt Breitscheid und Hilferding als geistige Typen zu verhöhnen und zu bekämpfen, wird argumentiert: »Und dann hat sich Breitscheid im Jahre 1897 eine Goldplombe machen lassen, aber nur für Amalgam bezahlt!« Anathema sit. (Wobei übrigens die wirklichen Schieber meist ungestraft davonkommen.) Die deutsche Politik riecht nach Kommunalstunk.
Der entscheidende Einwand gegen das Kriegsbuch Remarques dürfte also der sein, daß sich Remarque in Wahrheit mit einem k schreibt und Remark heißt. Wenn das die Leser gewußt hätten, hätten sie das Buch nicht gekauft . . . Und der Philosoph, der offenbar Jahre seines Lebens Kant studiert hat, um in seinen alten Tagen einem Anfall von Neid und Niederträchtigkeit zu erliegen, folgt dem kategorischen Imperativ der Pflicht, wärmt diesen alten Quarque auf und enthüllt.
Er enthüllt, daß der Urgroßvater Remarks 1793 geboren ist – arme Leser, was dachtet ihr? – Daß der Großvater in Kaiserswerth im Jahre 1840 geboren ist – betrogene Käufer, was dachtet ihr? Daß Remark selber geboren ist. Daß er eine Frau hat. Daß er nicht im Infanterie-Regiment 91 gedient hat. Und so fort. Und so fort.
Bleibt ein Punkt, ein einziger. Remarque soll – wie Mynona behauptet – bei Kriegsende und noch im Jahre 1919 unberechtigterweise eine Leutnantsuniform und Orden getragen haben, die ihm nicht verliehen worden sind. Ich habe keine Achtung vor dieser Uniform, und es ist mir unbegreiflich, wie man sie anziehen kann, wenn man das nicht muß. Hat Remarque das aber wirklich getan, so hat er nicht recht getan. Und zwar hat er an seinen Kameraden nicht recht gehandelt; dergleichen wirkte unter den damaligen Umständen außerordentlich aufreizend.
[284] Ich kenne diese Geschichte nicht; ich weiß nicht, ob Remarque sich einen falschen Baronstitel zugelegt hat, die Uniform, die Orden . . . Es ist billig, zu sagen: »Lassen Sie doch . . . Ein Jugendstreich . . . « Solche Streiche können sehr aufschlußreich sein. Ich glaube: dieser zählt nicht dazu. Für den Wert des Buches ist das etwa so gleichgültig, wie wenn erwiesen wäre, Remarque hätte einmal in seinem Leben gestohlen. Was besagt das für und gegen seine Kriegsschilderungen? Kann ein Dieb nicht die Wahrheit sagen? Hat Remarque sich jemals als Apostel und Märtyrer der Sittlichkeit aufgespielt? Es hat einen Sinn, einem wilden Abstinenzler vorzuwerfen, er saufe heimlich Moselwein; es hat einen Sinn, einem Sittlichkeitsschnüffler vorzuwerfen, daß er mit Huren schlafe – es hat aber gar keinen Sinn, einem Kriegsschilderer vorzuwerfen, er habe sich gedrückt, er sei ein schlechter, ein mittelmäßiger, gar kein Soldat gewesen, er habe eine falsche Uniform getragen, zwei nicht verliehene Orden und drei Monokel. In dem Buch ist keine Stelle, die, selbst wenn die Vorwürfe wahr wären, damit widerlegt ist. Was weiß Mynona vom Krieg?
Es hat keinen Wert, dem Gegner nur die bösesten Motive unterzuschieben. Aber es ist gar kein Zweifel, daß Mynona auch nicht die Feder gerührt hätte, wenn das Buch Remarques in der zwanzigsten Auflage stecken geblieben wäre. Neid . . . ? So einfach ist das nicht, obgleich es ein bißchen seltsam anmutet, wie sich der Verleger Paul Steegemann hier an die Konjunktur anhängt. Tatsächlich muß aber Remarque vor diesem wild gewordenen Philosophen den Erfolg entgelten.
Literarische Erfolge beweisen zunächst nicht viel für den Wert eines Werkes. Überschreiten sie aber ein gewisses Maß, so zeigen sie etwas an: nämlich nicht so sehr die Qualität des Buches als den Geisteszustand einer Masse. Und es gibt – von Thomas Mann bis herunter auf die Courths-Mahler – keine unverdienten Erfolge. Das hat es niemals gegeben. Wenn ›Gentlemen prefer Blonds‹ die englisch-sprechende Welt im Lachen durcheinander schüttelt, so ist da zweierlei: eine zweifellos vorhandene Kraft der Verfasserin und eine Denkart der Massen, die dieser Kraft in diesem Augenblick entgegenkommt. Wer wird da kläffen? Ein Neidischer wird kläffen. Bei großen literarischen Erfolgen, die man für gefährlich hält, muß man die Leser angreifen – nicht den Autor.
Es ist auch nicht richtig, daß »Ullstein dieses Buch gemacht« hat. Wer die Entstehungsgeschichte der Vorverhandlungen kennt, wird darüber lächeln. Wer nur einen Funken von Gefühl für Massenwirkung hat, wird nicht solchen Unsinn behaupten: mit Recht hat Monty Jacobs darauf hingewiesen, daß schon bei dem Vorabdruck des Romans in der ›Vossischen Zeitung‹ ein Raunen begann – es war damals bis nach Paris deutlich zu hören. Der Vorgang ähnelt sehr jenem, der sich begab, als man ›Jettchen Gebert‹ in Fortsetzungen las – der Erfolg war sofort [285] da. Dieses Buch ist also von seinem Verlag nicht ›gemacht‹ worden; der Verlag hat nur sehr berechtigterweise das vorhandene Echo aufgefangen, und er hat mit seinem Apparat den Erfolg geschickt unterstützt. Gemacht hat er nichts.
Gemacht hat nur Herr Mynona etwas: wohin, hat er uns ja oben selbst erzählt. Und zum Glück ist es keine Parodie geworden; sondern eine aufgeschwollene Literaturpolemik aus dem Jahre 1905.
Und wenn es etwas gibt, was noch unanständiger ist als dieses herzlich lederne Buch, dann ist es sein Verlagsprospekt. Darin ist so ziemlich alles, was gut und teuer ist fürs Geld. Daß Mynona mit Voltaire, Heine und Lichtenberg verglichen wird, nur nebenbei; billiger tun wir das heute nicht mehr. Da ist die Reverenz vor der Provinz und der Fußtritt gegen ›Berlin‹ – Herr Steegemann hat lange in Hannover gelebt, und das muß ihm nicht gut bekommen sein. Da wird versprochen, die »ganze herrschende Mittelmäßigkeit höllisch zu demaskieren« – ach, täte das doch einer! Aber es ist nichts damit: die kindischen Vorwürfe gegen Remarque werden aufgezählt, aber von der Not der Soldaten und vom Schmutz, vom Leid und vom Jammer, von Tod und von Verwundung, von Roheit und Brutalität kein Wort. Remarque schreibt sich mit einem k! mit einem k! k! k! –
Unten vor dem Haus des Philosophen lag ein einsames Gebiß. Schaum haftete den Zähnen an, Zeichen von Ohnmacht und Wut. Mit dem Fuß stieß ich es beiseite. So haben wir uns den kategorischen Imperativ immer vorgestellt.