Die Sicherungsverwahrung

»Für die Ablehnung der Todesstrafe stimmten die Sozialdemokraten, die Kommunisten, Frau Lüders (Demokrat) und Doktor Kahl (Deutsche Volkspartei). Vor der Abstimmung hatte der Vorsitzende des Ausschusses, Doktor Kahl, erklärt, daß er nur unter der Voraussetzung für die Abschaffung der Todesstrafe stimme, daß die Annahme seines Antrages zur Sicherungsverwahrung erfolgen werde.«

Im Strafrechtsausschuß geht ein Kuhhandel vor sich, so gemein, so niedrig und so empörend, daß wir dagegen aufstehen. Die Fürstenabfindung ist ein Verbrechen am deutschen Volk gewesen; der Panzerkreuzer eine konsequente Inkonsequenz der Sozialdemokratie, deren Führer nun offenbar den letzten Rest von Vernunft und Scham eingebüßt haben – aber was hier vorbereitet wird, darf nicht Gesetz werden. Die Dinge liegen so:

Die Diskussion über die Beibehaltung der Todesstrafe wogt hin und her. Wir sind Gegner dieses staatlich konzessionierten Mordes – ich halte nicht jeden Anhänger dieser Strafart für einen Sadisten; [326] die meisten Menschen, die dafür stimmen, machen sich die Folgen ihrer Stimmabgabe nicht klar, und die Berechtigung eines Gemeinwesens, über das Leben seiner erzwungen eingeschriebenen Mitglieder zu verfügen, ist höchst diskutabel: zum mindesten ist die religiöse und philosophische Seite der Sache einer Untersuchung wert, die höher zu sein hätte als die kümmerlichen Unterhaltungen im Ausschuß. Hier steht Meinung gegen Meinung: man soll in solch subtilen Fragen seine Gegner nicht beschimpfen, sondern man soll seinen eigenen Standpunkt klar und sauber darstellen. Soweit gut.

Der alte Kahl war vor dem Krieg das Urbild juristischer Reaktion, wird aber heute von den Sozialdemokraten recht geachtet und geehrt, denn alte Leute verstehen sich untereinander gut, und weil jene nach rechts gerückt sind, glauben sie, er sei nach links gegangen, ein beachtliches Beispiel Einsteinscher Relativitätstheorie.

Der alte Kahl, der gesehen hat, daß er die Todesstrafe kaum durchbekommen würde, schon gar nicht, nachdem im Falle Jakubowski und in andern Prozessen die verantwortungslose und schludrige Arbeit der Kriminalpolizei und der Gerichte nachgewiesen worden ist, zog sich langsam zurück. Nicht, ohne das Feld der Diskussion sachte zu verschieben. Die Diskussion über die ›Sicherungsverwahrung‹ ist ausgesetzt worden.

Vorläufig halten sie noch bei der Todesstrafe und ihrem mordenden Ersatz. Die Frage der ›Sicherungsverwahrung‹ ist noch gar nicht angeschnitten – noch ist gar nicht entschieden, ob es sie überhaupt geben soll: da finden sich bereits 9 (in Worten: neun) Sozialdemokraten, die dem alten Kahl um den mit Paragraphen besetzten Bart gehen und ihm alle Mühe abnehmen. Hier ist die Stelle, wo jener seine Sicherungsverwahrung einschmuggelt – die Sozis immer mit. Kommen nun die grundsätzlichen Paragraphen später zur Beratung, so ist sie schon da! man kann schon darauf hinweisen, man kann sagen: »Meine Herren, Sie haben diese Strafart für den Mord als Ersatz der Todesstrafe angenommen – nun brauchen wir sie noch in andern Fällen . . . «, und wieder werden sich die neun und, wie wir die Partei kennen, wird sich die ganze Partei bereit finden, für diesen Wahnsinn zu stimmen. Was sie davon hat? Der SPD ist es vorbehalten geblieben, einen neuen Verrätertypus in die politische Geschichte eingeführt zu haben: den Judas ohne Silberlinge.

Die Sicherungsverwahrung ist viel, viel gefährlicher als sie zu sein scheint. Warum –? Was ist die Sicherungsverwahrung –?

§ 59: »Wird jemand, der schon einmal zum Tode oder zu Zuchthaus verurteilt worden war, nach § 78 als ein für die öffentliche Sicherheit gefährlicher Gewohnheitsverbrecher zu einer Strafe verurteilt, so kann das Gericht daneben auf Sicherungsverwahrung erkennen.«

§ 60: »Die Unterbringung dauert so lange, als es ihr Zweck erfordert.«

[327] Das heißt: lebenslänglich. Und die weiteren Absätze des § 60 geben das auch, sanft verklausuliert, zu. Lebenslänglich.

Wer ist nun ein Gewohnheitsverbrecher? »Das«, sagt eine berliner Redensart, »bestimmst du mit deinem schmutzigen Hals.« Der § 78 sagts uns nicht. »Hat jemand, der schon zwei Mal wegen eines Verbrechens oder eines vorsätzlichen Vergehens zum Tode oder zu Freiheitsstrafe von wenigstens sechs Monaten verurteilt worden ist, durch ein neues Verbrechen oder vorsätzliches Vergehen eine Freiheitsstrafe verwirkt, und geht aus der neuen Tat in Verbindung mit den früheren Taten hervor, daß er ein für die öffentliche Sicherheit gefährlicher Gewohnheitsverbrecher ist . . . « Das ist keine Erklärung – das ist eine Handhabe.

Danach können also Bettler und herumlungernde Arbeitslose zu lebenslänglicher ›Sicherungsverwahrung‹ verdonnert werden. Keine Gewähr gibt es, daß diese in einem ›Arbeitshaus‹ zu verbüßende Strafe nicht unter viel grausameren Bedingungen abgemacht wird als im Gefängnis – die öffentliche Kontrolle dieser ›Erziehungsanstalten‹ ist sehr gering, und was sich da an privatem Sadismus, an wahnsinnig gewordenem Geltungsbedürfnis breit macht, wissen nur die, die unter den Direktorial-Subalternen leiden.

Viel schlimmer, viel gefährlicher aber ist der politische Mißbrauch, der mit dieser Strafe getrieben werden wird.

Die Delikte ›Hochverrat‹, ›Landesverrat‹, ›Störungen der Beziehungen zum Ausland‹ und ›Angriffe gegen die Wehrmacht oder die Volkskraft‹ haben nicht nur den von den Franzosen erfundenen Begriff ›potentiel de guerre‹ in das neue Strafgesetz eingeschmuggelt, sondern sind derartig formuliert, daß ihre zu befürchtende Anwendung zu einer völligen Knebelung der freien politischen Meinung führen wird, soweit die noch frei ist. Es ist für jeden Reichsgerichtsrat eine Spielerei, aus einem konsequenten Politiker einen ›Gewohnheitsverbrecher‹ zu machen und damit einen, den man – hei! – lebenslänglich einsperren kann. Er kann froh sein, wenn man ihn nicht, wie Herr Böters das neulich im ›Berliner Tageblatt‹ vorgeschlagen hat, kastriert.

Auf diese Richter ist nicht der leiseste Verlaß. Eine solche unerhörte Erweiterung ihrer Ermächtigung ist unangebracht, gefährlich und ein Verbrechen an der politischen Entwicklung Deutschlands, die, wenn es mit diesem Gesetz ernst wird, damit aufgehört haben wird, zu existieren. Dann ist es aus.

Über die ›Begründung‹ dieses Anschlags ist, wie über die gesamte Begründung des Entwurfs, kein ernsthaftes Wort zu verlieren. Seine Begründung begründet gar nichts – in traurigem Deutsch wird dort der Gesetzestext wiederholt, breitgewalzt, kommentiert –: von einer echten Begründung ist auch nicht ein Hauch zu spüren. Die ›Sicherungsverwahrung‹ darf in keiner Form Gesetz werden – in keiner.

[328] Wenn die Sozialdemokratie wiederum – zum wievielten Male! – ihre Anhänger verraten will, so ist das deren Sache. Wenn diese Partei aber glaubt, höchst listig gehandelt zu haben, so muß ihr gesagt werden, daß sie, wie immer, höchst dämlich handelt – sie hat bisher bei allen Koalitionen kein Kompromiß, sondern immer nur Kompromittierungen erreicht – und was sie dieses Mal vor hat, ist schlimmer als das.

Da haben sich im Dunkel der Ministerien ein paar Ärzte, wie der Doktor Heindl, dieser Schädling der Kriminalistik, ein paar Jugendpfleger, die weder wissen, was Jugend ist, noch imstande sind, jemand zu pflegen, ein paar Pastöre und ein paar Professoren etwas ausgeknobelt, über dessen Folgen sich nur die sehr gerissenen Juristen vom Bau klar sind. Das wird in fast unannehmbarer Form den Volksvertretern vorgeworfen. Nun wird geschachert.

Und diese Hammel lassen sich wirklich auf den Handel ein, der um ihre eigenen Hälse geht – um die ihrer Auftraggeber, um das Leben ihrer Wähler. Sie glauben ganz im Ernst, sie hätten etwas erreicht, wenn sie ein paar Ornamente entfernen, und weil die Referenten am Reichswehr-Etat gelernt haben, wie man das macht, so bleibt das Fundament unverändert. Denn das kann kein Deutscher: zu einem Entwurf, der von der Regierung kommt, schlicht Nein sagen. Mit Feuerfaulheit stürzt er sich darauf, blättert, macht sich Notizen, schwätzt und tut der Regierung den Gefallen, zuzustimmen, nachdem er stolz seinen kleinen Antrag eingebracht hat: »Im zweiten Absatz wird das Wort ›und‹ durch ›oder‹ ersetzt.« Sieg auf der ganzen Linie.

Nämlich auf der andern. Die lachen sich ins Fäustchen. Die paar Tage, in denen dieses finstere Werk überhaupt dem ›Volk unterbreitet‹ ist, gehen rasch vorüber, und mit vollen Mappen und zufriedenen Mienen verlassen die Vertreter der Bürokratie das Schlachtfeld, auf dem kaum gekämpft worden ist. Ihre Scheuern sind voll. Ein paar Brocken hat auch die Opposition zugestanden bekommen, denn dem Ochsen, der da drischet, soll man das Maul nicht verbinden.

Der Kuhhandel: hie Todesstrafe – hie Sicherungsverwahrung ist eine Schande. Die arbeitenden Massen, die Angestellten, die oppositionellen Politiker, die Pazifisten – sie alle sollen wissen, was ihnen blüht. Die lebenslängliche Deportation ins eigne Land.

Mit diesem Gesetz kann jeder Esel regieren; wie sollte Leipzig damit nicht fertig werden! Gibt sich die Sozialdemokratie zu diesem Schimpf her, so hat sie damit das letzte, mögliche Maß überschritten, das ihr auch der Nachsichtigste einräumen kann.

Wir andern aber stehen gegen einen Versuch auf, dessen Autoren selber mit Sicherungsverwahrung zu strafen sind, und zwar mit der umgekehrten: das Betreten öffentlicher Gebäude hat diesen Männern untersagt zu sein.

[329] Die herrschende Klasse schmiedet sich eine Kette, die ein neues Patent darstellt: man kann sie beliebig verlängern, verkürzen, verstärken – wie man sie braucht. Schlagt diese Kette in Stücke! Nieder mit Kahl! Nieder mit der Sicherungsverwahrung –!


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TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1928. Die Sicherungsverwahrung. Die Sicherungsverwahrung. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-5E05-3