Leichenreden

Versehn is ooch verspielt!

Berliner Redensart


»Mensch«, sagt der Berliener, wenn er beim Skat sitzt und der Gegner klaubt ihm gar zu genau auseinander, wie er hätte spielen sollen und wie er nicht hätte spielen sollen, »nu halt dir nich bei die Leichenreden auf! Spiel!« –

Wir halten jetzt bei der Zeit der Leichenreden – die Hasardeure, die das Spiel verloren haben, setzen dem deutschen Volk ausführlich auseinander, [133] warum es hat verlieren müssen, und wie es hätte gewinnen können. Und wir möchten ihnen so gerne zurufen: Haltet euch nicht bei den Leichenreden auf! – Bessert!

Unter dem Wust von Entschuldigungsschriften der Militärs fische ich ein Heftchen heraus ›Das Marne-Drama des 15. Juli 1918‹ von Kurt Hesse (Berlin 1919 bei Mittler und Sohn). Der Verfasser war Oberleutnant und hat viereinhalb Jahr im Felde gestanden. Das Büchlein scheint mir so typisch für den deutschen Offizier und seine Welt, daß ich es hier näher betrachten will.

Ich zitiere: »Unsre Presse hat unendlichen Schaden angerichtet. Wie weit sie auf ›Befehl‹ handelte, weiß ich nicht. Darum erhebe ich auch nur bedingt gegen sie einen Vorwurf. Am Silvestertage schrieb ich nach Haus: ›Die Zeitungsnachrichten bringen immer nur Siegesnachrichten, wir merken hier tatsächlich wenig vom Siegen. Wir wissen nur das zu sagen, daß wir niemals so schwer zu kämpfen gehabt haben, wie in den letzten Wochen.‹«

Wenn ein Pressemann es wagen würde, über militärische Angelegenheiten zu schreiben, ohne zu wissen, daß die Ulanen keine Infanterieformation sind, würde ihn der Offizier mit Recht für unzuständig halten. Daß aber ein deutscher Offizier heute noch nicht weiß, daß wir im Kriege überhaupt keine Presse, sondern nur ein machtloses Druckinstrument hatten, das sich vollkommen in Händen von Militärs, also von Offizieren befand, das ist beschämend. Zugegeben, daß es Zeitungsmänner gab, die der Kriegskoller übermannte – sie sind hier oft genug bekämpft und angeprangert worden. Aber hätte denn die Stimme der besonnenen Anständigkeit und der ruhig überlegenen Vernunft durchdringen können? Wäre nicht die Zeitung sofort verboten worden, die nicht in diesen Siegestaumel mit eingestimmt hätte, ja, sind solche Zeitungen nicht verboten worden? Wir brauchen nicht weit zu gehen, um auf Beispiele zu verweisen . . . Davon weiß der Offizier nichts. Von dieser maßlosen Schuld seiner eigenen Kameraden, die in Deutschland etwas machten, was sie Politik nannten, was aber verbrecherischer Unfug war – davon weiß er nichts.

Ich zitiere: »Viel Schuld, daß zwischen Heer und Heimat nicht die Harmonie bestand, die hätte sein müssen – sie war äußerlich sehr innig, aber nicht tief gefestigt, weil eben einer vom anderen die Wahrheit nicht wußte – sehr viel Schuld daran trug die tägliche Heeresberichterstattung. Gewiß, ihre Sprache war zeitweise stolz, klassisch, deutsch. Aber was nützen die besten Worte, wenn sie über die Wirklichkeit hinwegtäuschen. Lügen enthielten sie zwar nie, aber sie sagten vieles nicht.« Folgen eine Reihe schwerwiegender Beispiele, Verschweigungen, Lügen. Lügen über Fliegerei (»Wir sind die Herren der Luft«), Lügen über das Sanitätswesen, die Aushungerung [134] des Gegners. Und zwei Seiten später: »Ludendorff . . . Da faßten wir fester noch Vertrauen zu ihm, und er täuschte uns nicht.« –

Was uns hier aber besonders angeht, das ist nicht der mangelnde Mut des Verfassers, aus gut beobachteten Einzelheiten nun auch die einzig mögliche Schlußfolgerung zu ziehen, sondern das sechste Kapitel der Schrift ›Vom Offizier, Unteroffizier und gemeinen Mann‹. Hier haben wir den preußischen Ungeist in Reinkultur, und ihn wollen wir uns vornehmen.

»Erzogen zum Führer, war der Offizier der Halt im Gefecht. Um ihn scharten sich die Leute. Sie wußten einfach nicht, wo sie ohne ihn bleiben sollten.« Also waren sie schlecht ausgebildet. Also hatte der nicht zum Erzieher getaugt, der sie unterrichtet hatte: denn was sind das für Soldaten, die nur arbeiten können, wenn der Dresseur neben ihnen stand! Und weil ich das Gefühl habe, daß Hesse einer der Ehrlichen ist, die ihre Sache lieben und um der Sache willen vor der bitteren Wahrheit – soweit sie sie erkennen – nicht zurückscheuen, deshalb freue ich mich, meine alten Behauptungen, wegen deren man mich fast gestäupt hätte, auch hier bestätigt zu finden.

»In erster Linie wird dem Offizier jetzt vorgeworfen, er hätte auf Kosten der Mannschaften gelebt. Man soll offen sein: es ist vielfach geschehen. Es ist aber im Felde energisch dagegen angegangen worden, viel mehr von unten als von oben. Es wurde – das muß ich ehrlich sagen – der eiserne Besen vermißt, der mit dem Wohlleben energisch aufräumte; aber da durfte nicht vorn angefangen werden, sondern hinten war das Übel am größten. Auch nicht mit schriftlichen Verboten, sondern mit der Tat.« Die Tat hat gefehlt, mein Herr Oberleutnant. Die Tat war da, wenn es galt, einen unbequemen Soldaten abzutun, der sich darüber aufhielt, daß Heimatkisten, Wein, Annehmlichkeiten nur für die ›Herren‹ da war. Die Tat blieb aus, wenn irgend ein Etappenkaiserchen das halbe Dorf für sich requirierte. Die Tat blieb aus.

Es ist eine andre Welt, in der die da lebten (und noch leben). »Ich komme zum gemeinen Mann«, steht in der Schrift. »Soll ich noch sagen, daß mein Herz für ihn schlägt?« – Du sollst es nicht sagen. Das Herz soll nicht für ihn schlagen, darauf verzichtet er. Du sollst dazu gehören, als Deutscher zum Deutschen; du sollst dich nicht besser dünken denn er, der den Dreck ausfrißt. Wir pfeifen auf dein Herz. Sei einer von den unsern! Komm heraus aus deiner Kaste!

Denn eine Kaste wars. Eine Kaste, die sich nicht denken konnte, daß gute militärische Erziehung ohne Drill denkbar sei – auch heute noch nicht denken kann. Eben nur durch den Drill kommt keine Disziplin in die Truppe; da kommen wohl jene vielgeliebten strammen Ehrenbezeugungen hinein. Ach! die schlimmen Schieber rissen am knallendsten die Knochen zusammen, und wohlgefällig ruhte das[135] Auge des Herrn Kommandeurs auf ihnen. Durch den Drill entstand jener widerwärtige preußische Kadavergehorsam, mit dem Friedrich der Große noch seine Kriege gewinnen konnte. Die Welt hat ihn überholt und überflüssig gemacht. Seine Zeit ist vorbei.

Und ihr habt den Krieg gewollt. »Der Wille zum Kriege lag in unserm Blut, das einer Reinigung bedurfte.« Eures vielleicht, unsres nicht. Wir hätten ganz gut leben können, ohne halb Europa mit dem Blut unserer Besten zu düngen. Wir haben ihn nicht gewollt.

Ihn nicht und den Popanz eurer fossilen ›Ehre‹ nicht, die ihr noch bei den Unteroffizieren vermißt, die sie weiß Gott nicht hatten.

Wir haben den Krieg nicht gewollt, wie wir eure Welt nicht wollen, die noch heute – 1919 – fest und treu glaubt, ein halbes Jahr Blutvergießen mehr hätte uns genützt, noch weiter, durchhalten, noch zwei Monate, drei, vier . . . Und ihr sammelt mühsam Entschuldigungsgründe: die ›gegnerische Propaganda‹ – als ob ein innerlich gesundes und zufriedenes Heer solchen Dingen zugänglich wäre; – der fehlende Diktator – hatten wir einen? und was für einen – dies und das, dieses und jenes . . .

Und nur das eine seht ihr nicht. Wollt ihr nicht? Könnt ihr nicht?

Daß ein unfreies Volk in gezüchteter Sklaverei gehalten, nimmermehr andre befreien kann, daß Kastenwirtschaft aus dem vierzehnten Jahrhundert nicht den Siegeslauf in der heutigen Welt antreten kann, daß diese Armee, dieser Geist da mit vollem Recht zusammengebrochen sind. Und daß wir uns deutsche Tüchtigkeit, deutschen Stolz, deutsche Geltung ganz, ganz anders denken, als blitzend auf dem Kasernenhof, gleißend emporgereckt auf dem Rücken gebeugter, stummer, wehrloser Tausender! – So nicht.

Das Marnedrama war eine militärische Angelegenheit, über die militärische Sachverständige rechten mögen. Wir sehen weiter als bis über die nächste Nachbarfront.

Der Krieg ist nicht verloren worden, weil der herrschende Ungeist in Deutschland nichts getaugt hat. Der Gründe sind wohl mancherlei. Aber weil er nun einmal verloren ist, laßt uns daran arbeiten, daß dergleichen nicht wiederkehrt.

Das Heftchen ist mir von einem Freund mit dem Bemerken zugeschickt worden: »So ungefähr denke ich mir positive Kritik.« Ich nicht. Salben und Quacksalbereien helfen nichts, wenn das Bein brandig ist. Messer!

Das Spiel ist aus. Die Partner halten aufgeregt Leichenreden und beschuldigen einander des Versehens und der Unterlassungssünden. Sie hätten sich ›versehen‹.

Wir andern zucken die Achseln. »Versehn is ooch verspielt!«


Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1919. Leichenreden. Leichenreden. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-5E7E-6