»An alle Frontsoldaten!«

Der Verfasser (eines gleichnamigen Pamphlets des Scherl-Verlages) greift meine Arbeiten, die ich in der›Volkszeitung‹ und in der ›Weltbühne‹ über das böse Thema Offizier und Mann veröffentlicht habe, heftig an. Nicht deshalb nehme ich hier das Wort, um ihm zu antworten. Wir kennen alle diese läppischen Einwände: »Ich kenne Ihre Kriegsstammrolle nicht im einzelnen.« – »Die republikanische Staatsgewalt aber regt sich heute mit keinem Finger, wenn ein Judasgeist von dem Popanz der Ehre eines Führerkorps zu sprechen wagt . . . « – »Hetzartikel«. – »Judas Ischarioth«. – Es ist, wie wenn ein gefaßter Dieb dem Schutzmann sagt: »Sie haben aber mal früher eine Disziplinarstrafe gehabt!« – Die steht nicht zur Diskussion. Es geht um den Dieb.

Und ich glaube, wir haben ihn. Bilden sich diese Herren ein, noch heute einem gescheiten Mann einreden zu können, daß es etwa im Felde nicht ungerecht und verlogen hergegangen sei? Glauben sie, wir wüßten nicht alle, wie sich der deutsche Offizier immer und immer wieder einen guten Tag gemacht hat – auf wessen Kosten denn? Glauben sie, saubere und anständige Leute ließen sich noch jemals eine ›geistige Mobilisation‹ gefallen, wie sie eine Wiederaufrichtung der empörendsten Unfreiheit zu nennen belieben? Sie wünschen einen Wahrheitsbeweis?

Es ist behauptet worden, daß die Offiziere unverhältnismäßig besser gelebt hätten als der Mann. Der Einwand, daß es im Schützengraben demokratischer hergegangen sei, ist nicht stichhaltig. Sollte der Bataillonsstab vielleicht im Stollen ein Kasino aufmachen? (Übrigens ist das vorgekommen.) Es handelt sich um die Fälle, in denen die Möglichkeit zu besserem Leben vorlag – diese Möglichkeit ist von den sogenannten ›Herren‹ in vollem Umfange ausgenutzt worden. Das ist durchaus keine Äußerlichkeit, wie der Verfasser gern glauben machen möchte. Essen ist für einen kräftigen Mann im Felde fast die Hauptsache – und es mußte mit Recht verbittern, wenn die Truppe in ihren [168] Offizieren Leute sah, die mit keinem Mittel zu bewegen waren, das gleiche harte und entbehrungsvolle Leben zu führen, wie man es vom Mann verlangte. Ludendorff schreibt in seinem (übrigens belanglosen) Buch, er habe den ›Herren in Berlin‹ versprochen, dann aus der Feldküche zu essen, wenn sies selbst täten. Das ist eine Ungezogenheit. Die Staatssekretäre waren keine Soldaten und verlangten von anderen nichts Übermenschliches. Ihr konntet in den höheren Stäben mit dem Soldatenessen nicht auskommen? Ihr hattet so viel zu tun? Vom Mann, der häufig genug im Frieden gutes Essen gewöhnt war, wurde es verlangt, schwere Anstrengungen bei dürftigem Essen zu ertragen.

Bezeichnend für diese Schichten ist es, daß sie niemals die Schuld an den verrotteten Umständen in ihren Reihen suchten, schuld waren die anderen. Man höre: »Die mittlere Führung vom Divisionskommandeur bis zum Gruppenkommando aber, mit wehem Herzen muß es ausgesprochen werden, die allerhöchste Spitze haben die Front in den ernstesten Lagen oftmals, und gerade zuletzt am Ende schwer enttäuscht. Hier, und nicht in dem Verhältnis zwischen Frontmann und Frontoffizier, klaffte die Kluft. Man gebot uns Frontoffizieren immer, nach unten aufzuklären, man gestattete es aber nicht, nach oben ein offenes Wort zu sprechen, und wenn sich doch einmal über die aus dem Rücken nahenden Sturmzeichen eine warnende Stimme erhob, so wurde diese im Gefühle der eigenen Unfehlbarkeit in den Wind geschlagen oder gar als Unbotmäßigkeit vermerkt.« Das kommt mir alles so bekannt vor –! Genau so, genau so war das Verhältnis vom Mann zum Offizier – hier klaffte die Kluft und klafft sie noch. (Und auch die getadelten Stabsoffiziere waren Offiziere.)

Alles andere im Buch ist dagewesen, aber dafür falsch. Der falsche Einwand, nicht der Offizier sei verderbt gewesen, sondern nur einige (die andern) – viele seien doch gefallen, und viele seien doch anständig gewesen . . . Wir haben den Typ des deutschen Offiziers gewogen und zu leicht befunden. Der falsche Einwand von der ›radikalen Wühlarbeit‹ – alle rechtsstehenden Schriftsteller fußen hierbei auf der großsprecherischen Erklärung des Sozialdemokraten Vater aus Magdeburg, der behauptet hatte, die Unabhängigen hätten die Front zermürbt. Man müßte doch einmal – besonders in der Etappe – etwas davon gemerkt haben. Nichts. Nein, wir brauchten keine Unabhängigen: die Wühlarbeit wurde mühelos von den Offizieren selbst betrieben. Als mich im Jahre 1918 ein Unterrichtsoffizier befragte, was man denn gegen die Gerüchte über das gute Leben der Offiziere unternehmen könnte, durfte ich ihm die rechte Antwort nicht geben. Heute kann ich es. Ihr hättet eben anständiger leben sollen – dann wären die Gerüchte unterblieben.

Ich glaube, wir verstehen uns nicht recht. Hier stoßen zwei Welten aneinander, und es gibt keine Brücke. Was wir wollen, ist dieses:

Wir wollen nicht, daß sich Leute unterfangen, von obenher vom [169] Himmel zu steigen und nun gnädig und loyal uns andre mindere Sterbliche zu regieren. Wir wollen nicht auf die Schulter geklopft werden. Wir wollen nebeneinander arbeiten. Das schließt gar nicht aus, daß es Leute gibt, die sachliche Weisungen erteilen, daß es gute und schlechte Kerls gibt . . . aber wir wollen nicht, daß ein geschneidertes Achselstück für 29,50 Mark einen Menschen abstempelt.


So war es:
Der Offizier
bekam nicht unter 300 Mark
Gehalt, meist bedeutend mehr
(Zulagen, Tagegelder usw.);
Der Mann
erhielt ein paar Pfennige und im Bedarfsfalle unzureichende Familienunterstützung;
hatte Bewegungsfreiheit, ritt
aus, besah sich das fremde
Land, in dem er stand, und führ-
te ein ziemlich freies Leben;

war eingeschnürt im Dienst. Spaziergänge in seiner dienstfreien Zeit wurden erschwert; er war immer im ›Dienst‹;

hatte die Möglichkeit, dauernd
Einkäufe zu machen und Einge-
kauftes mit nicht immer ein-
wandfreien Transportmitteln
nach Hause zu schicken;

konnte wenig einkaufen, weil ihm die Preise verdorben wurden; stellenweise wurde ihm die Transportmöglichkeit erschwert;

aß gut und fast immer aus-
reichend; in der Etappe
ausgezeichnet, dort niemals
aus der Feldküche. Sein Essen
war billig;

aß mäßig und manchmal monatelang das gleiche, schlabbrige Essen. Kantinenpreise durch dunkle Berechnungen nicht billig. Andere Aufbesserungsmöglichkeiten nicht vorhanden;

wurde von seinesgleichen in jeder
Weise unterstützt: bei Urlaubs-
sperre, Dienstfahrten, kleinen
Schiebungen aus der Kammer in
Bekleidungsangelegenheiten,
ärztlichen Attesten;

wurde herumgestoßen, und es wurde ihm das Leben in jeder Weise erschwert. Der Vorgang eines Stiefeltausches war meist eine Qual durch drei Instanzen mit vielen Anschnauzern;

wurde in allen kleinen Äußerlich-
keiten, die das Leben so sehr
beeinflussen, unterstützt, das
berüchtigte Schild ›Nur für
Offiziere‹ beherrschte die
Kriegsschauplätze.
sah in den Mond.

Und so soll es nie wieder sein!

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TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1919. »An alle Frontsoldaten!«. »An alle Frontsoldaten!«. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-6074-B