Die Beamtenpest (I)

Allein vom Staate wurde die Kultur doch in hohem Grade positiv und negativ bestimmt und beherrscht, indem er von jedem einzelnen vor allem verlangte, daß er Bürger sei.

Jeder einzelne hatte das Gefühl, daß die Polis in ihm lebe. Diese Allmacht der Polis aber ist wesentlich verschieden von der modernen Staatsallmacht. Diese will nur, daß ihr niemand materiell entwische, jene wollte, daß jeder ihr positiv diene, und mischte sich deshalb in vieles, was jetzt dem Individuum überlassen bleibt.

Jacob Burckhardt:
›Weltgeschichtliche Betrachtungen‹

Der Versailler Friedensvertrag hat die Kleinstaaterei in Europa stabilisiert. Die europäische Landkarte sieht aus wie ein mit Flicken besetztes Kleid; wo ein Riß ist, sitzt ein Fähnchen. Clemenceau und seine Leute haben zwar begriffen, daß die Unterdrückung von Minoritäten aufhören müsse – aber sie haben niemals begriffen, daß das Jahr 1918 dafür andre Lösungen vorschreibt, als ihnen nach den Idealen ihrer Jugend vorschwebten. Denn es handelt sich nicht darum, die kleinen Staaten aufzubauen, sondern die großen, in dieser Form, abzuschaffen. [271] In den›Weltgeschichtlichen Betrachtungen‹, diesem großen Weltbild eines der letzten liberalen Europäer, zeichnet Jacob Burckhardt die griechische Polis mit liebevollen Strichen. Der Vergleich mit den schweizerischen Städten fällt sofort auf: dort der große, mechanistische Staat, der nur materialistische Interessen vertrete; hier das feine, geistige, oligarchische und fast aristokratische Staatsgefüge, das eben vermöge seiner Kleinheit andern Gesetzen unterliege als die Kolosse . . . es ist wie ein Klageruf um Vergangenes und Vergehendes.

Burckhardt könnte heute zufrieden sein, wie –? Da ist nun ein Europa, in dem es von kleinen und kleinsten Staaten wimmelt; jede kleine Gruppe ist zu einem Staatswesen geronnen, überall flattern neue Fahnen im Wind . . .

Essig.

Der Grundfehler dieser neuen Staatsgründungen liegt darin, daß sie allesamt von ihrer Kleinheit und von dem Vorzug ihrer militärischen Machtlosigkeit überhaupt keinen Gebrauch machen. Sie ahmen vielmehr den großen Staaten in deren bösesten Unarten nach, ohne ihren eignen Wert, der auf ganz andern Gebieten liegen könnte, zu steigern. Das zeigt sich an mancherlei Symptomen.

Man kann bei dieser Staatenbildung en gros einmal recht deutlich sehen, wie das Individuum den Staat wirklich beurteilt, und was der in Wahrheit ist. Nehmen wir ihm einmal die Fahne etwas hoch, und was sehen wir da?

Le pavillon couvre la marchandise. Aber was sehen wir noch?

Wir sehen die Menschen sich wie die Raben auf eine fette Beute stürzen. Hier gibt es: Pension; völlige Verantwortungslosigkeit im Handeln; Autorität; Befriedigung von dumpfen Gelüsten, als da sind: Kollektivrausch minderwertiger Individuen, Sadismus, auszulassen am Nebenmenschen . . . und noch mancherlei. Da sind sie alle da.

In Ungarn ist jeder fünfte Mensch ein Beamter. Das heißt: Ein Fünftel Ungarn lebt von den vier andern Fünfteln, sich mühselig eine Arbeit schaffend, die ursprünglich gar nicht vorhanden gewesen ist. Man hat den immensen Fehler begangen, die Stadt Danzig, eine mittlere Hafenstadt wie hundert andre auch, zu neutralisieren: die Honoratioreneitelkeit schlug hohe Bogen, und dieses Nest, das hundertundfünfzigtausend Einwohner gehabt hat und nun durch Eingemeindungen zweihunderttausend dazu bekommen hat, spielt Staat, wie ein Kind, das Kaufmann spielt. Die Folge ist eine niemals abreißende Krise: die Steuerzahler können diesen Haufen von geschäftigen Nichtstuern nicht mehr ernähren.

Der Staat hat überall die Religion ersetzt, wo die zu schwach ist, die metaphysischen Bedürfnisse von Kinobesuchern zu befriedigen. Es scheint ja, als übten die Worte ›Staat, staatlich und Staats . . . ‹ eine gradezu dämonische Wirkung auf die Träger aus, und wer einmal mit [272] angesehen hat, wie ein Beamter auf eine Beamtenbeleidigung wartet, in sich, dem Herrn Lehmann, plötzlich die große Kollektivität spürend, der wird wissen, wie sich die Eitelkeit des Privatmannes hinter die Wand des Staates verkriechen kann. Daß die wahre Macht der Staaten im Verhältnis zu ihrer sich ständig mehrenden Aktivitätsausdehnung ebenso ständig durch die Internationale der Kapitalisten gemindert wird, braucht jene nicht zu stören. Wer sich in seiner Straße nicht durchsetzen kann, weil er einen Buckel hat, der zieht sich eine Uniform oder einen Titel an –: Alle sehen nur noch die Uniform, niemand sieht den Buckel.

Die meisten dieser kleinen Staaten sind von Bolschewistenfurcht geschüttelt, die ja fast überall ein Zeichen schlechten sozialen Gewissens ist. Es ist Deutschland das Zeugnis auszustellen, daß es zu Rußland, auch da, wo es die russischen Methoden ablehnt, aus zum Teil dunkeln Gründen immer noch eine viel bessere Haltung einnimmt als etwa die Randstaaten, was verständlich ist, oder die Weststaaten, was weniger verständlich ist.

Man sollte nun annehmen, daß die kleinern Staaten so denken:

So groß wie Rußland sind wir nicht; so volkreich wie Deutschland sind wir nicht; so mächtig wie England sind wir nicht – also treten wir auf einem Gebiet an, auf dem uns niemand schlagen kann: nämlich auf dem des friedlichen Wettbewerbs der Kultur. Aber davon ist keine Rede.

Das starrt von Waffen; das starrt von Imperialismus, von dummen und nichtigen Minoritätsfragen, deshalb dumm und nichtig, weil die aufgewendete Energie meist in gar keinem Verhältnis zur Bedeutung dieser Minderheiten steht, es sind oft weniger Prätentionen von Völkern als solche ehrgeiziger Sekretäre; das erlaubt sich Rechtsbrüche genau wie die großen; das stabilisiert die Macht der legalen Polizei-Illegalitäten genau wie die großen; das rast gegen Fremde genau wie die großen – kurz: die ganze Klasse mauschelt schon.

Da gibt es Abstufungen: in Estland ists sicherlich nicht so schlimm wie in Ungarn; Jugoslawien benimmt sich anständiger als Bulgarien – aber im großen ganzen toben sich doch in diesen kleinen Staaten Unvernunft, privater Geltungswahn und übelster Kapitalismus aus, der um so schädlicher und gefährlicher ist, weil er sich intensiver bemerkbar macht. In Deutschland rutscht schon einmal jemand durch – in Lettland ist das schwerer. Und keiner sieht, daß Größenunterschiede Qualitätsdifferenzen zur Folge haben, und daß es gar nicht die Aufgabe der kleinen Staaten ist, in Kleidern herumzulaufen, die ihnen acht Nummern zu groß sind.

Sie äffen die Großen, und wenn die sich lausen, lausen sie sich auch. Sie haben ihre ›Geschichte‹, und wenn sie sie erst konstruieren mußten, so haben sie sie konstruiert; sie haben ihre ›Traditionen‹, und wenn [273] die erst zehn Jahre alt sind, so riechen sie doch schon, als hätten sie ein Alter von hundert; sie haben ihren Staatsdünkel, ihre Selbstgefälligkeit, ihren Gruppenwahnsinn und ihre eigenstaatlichen ›Belange‹ wie die großen. Sie haben überhaupt alles. Nur eins haben sie nicht.

Es fehlt ihnen völlig die Existenzberechtigung. Man weiß gar nicht, wozu das da ist. Der Föderalismus ist nicht abzulehnen – diese Staaten-Spielerei ist abzulehnen.

Sie schnüren mit lächerlichen und albernen Paß-und Zollschikanen den Handel ab und ihre murksige Industrie ein; dann sind sie gezwungen, Arbeitslosenunterstützungen in Form von Beamtengehältern auszuzahlen, und die also Unterstützten revanchieren sich, indem sie der ›nichtbeamteten Bevölkerung‹ Schwierigkeiten machen, die ebenso groß wie überflüssig sind. Sie komplizieren die Weltwirtschaft und die Geldwirtschaft, und Kompliziertheit ist, wie Wieland Herzfelde einmal ausgeführt hat, das Ideal des Bürgers, denn im Dunkeln ist gut munkeln. Sie verstehen ihre Zeit nicht, ihren Kontinent nicht, ihre Lage nicht.

Was das zaristische Rußland mit den Minoritäten getrieben hat, ist eine Schande gewesen. Was die Deutschen mit den Polen unter dem Kaiser getrieben haben, und wovon die Republik nie, niemals abgerückt ist, ist eine Schande gewesen. Aber heißt das nun, daß man den ehemals Unterdrückten die Möglichkeit geben soll, es ihrerseits gradeso zu machen? Und sie machen es fast überall genau so, genau so wie ihre Unterdrücker.

Wer schon den großen Staaten das Recht abspricht, so zu tun, als sei jeder von ihnen allein auf der Welt –: was hat der erst zu diesen Staatsgebilden zu sagen, die oft nicht mehr als zwei, drei mittlere Städte und ein paar hundert Bauernhöfe umfassen! Sie sind uneuropäisch, wenn man an die zu postulierende Zukunft denkt; sie sind im tiefsten und schlechtesten Sinne europäisch, wenn man an dieses Europa denkt.

Ihre Tragikomödie sehen sie nicht. Sie wollen nicht sehen, daß ihr Kapital fortwährend über die Grenzen fluktuiert; daß ganze Wirtschaftsgebiete ihnen nicht nur nicht gehören, sondern daß sie machtlos zusehen müssen, wie damit in und an andern Börsenplätzen gehandelt wird, man sagt es ihnen nicht einmal, und sie merkens erst an den Folgen. In Sachen Petroleum, Jute, Gerste, Leder haben sie nicht viel zu melden – denn ihre Zölle können zwar viel hindern, aber wenig bewirken. Dies Manko gleichen sie aus. Welcher Stolz in ihren Proklamationen! welch großes Maul dem Armen gegenüber! welche Pfauengrandezza vor den Fremden, die nicht zurückschlagen können! Es sind Helden – nur da nicht, wo es etwas kostet.

Das haben sie von den Großen gelernt, die es ebenso machen, von Berlin über Paris nach London.

[274] Was aber hält sie so? Was füllt immer wieder die Reihen ihrer Beamtenschaft? Was veranlaßt die Menschen, sich solchem Treiben hinzugeben, hörig, gierig, nimmer ermüdend?


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TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1928. Die Beamtenpest (I). Die Beamtenpest (I). Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-619F-3