Auf dem Nachttisch

Entweder du liest eine Frau, oder du umarmst ein Buch, beides zugleich geht nicht. Jetzt aber ist Junggesellenzeit – umarmen wir ein Buch.

Als da wäre: Friedrich Torberg ›Der Schüler Gerber hat absolviert‹ (erschienen im Verlag Paul Zsolnay in Wien). Ein höchst beachtlicher Autor. Was wird aus dem einmal werden?

Schulbücher sind den Kriegsbüchern sehr verwandt. Beide sind: Abrechnung [116] mit dem Gewesenen, das leider so selten gehaltene Versprechen eines Fluchs: Wenn ich hier mal rauskomme . . . ! Beide Gattungen setzen viel voraus und wirken am meisten auf jene, die es mitgemacht haben. Beide Gattungen haben bereits ihr Schema herausgebildet. Torberg ist, wenn ich richtig informiert bin, ein Prager, hat also bereits von Haus aus alle Finessen des Handwerks in der Schreibmaschine und verfällt dem Schema kaum. Ganz kommt man da nicht herum, denn vieles ist vorgezeichnet: die Herren Lehrer, die Sadisten sind oder Trottel oder allenfalls gutmütig; die Schülerliebe; die Schülertypen – man kann nicht ganz aus diesem Schema heraus. Es steckt in der Sache selbst.

Hier ist aber mehr als Schema. Um mit dem Negativen anzufangen: es ist schade, daß die Äußerlichkeiten zufällig österreichisch sind – die Reichsdeutschen müssen sich manches erst übersetzen. Mit dem Begriff ›Oktavaner‹ verbinden wir kleine Kerle – bei denen sind es unsre Primaner. ›Absolvieren‹ sagen wir nicht; bei uns macht einer sein Abitur. Das sind natürlich nur Äußerlichkeiten, schließlich konnte Torberg das nicht umnennen, nur um uns einen Gefallen zu tun. Ich sags nur. Und käme nicht ein paar Mal das Wort ›Einstellung‹ und ›irgendwie‹ vor, dann wäre das Buch auch stilistisch in bester Ordnung. Was steht nun drin –?

Da ist als Glanzpunkt und Hauptstück ein Lehrer, der heißt Kupfer, genannt ›Gott Kupfer‹. Er kann alles, weiß alles, merkt alles, sieht alles . . . die Figur ist derart einprägsam, vom ersten Augenblick ihres Auftretens an, daß man immer bedauert, wenn sie wieder von der Szene abtritt. Der Kerl ist großartig gesehen, mit einem zischenden Haß, der durch die Seiten brennt – nichts macht ja hellsichtiger als solcher Haß. Gott Kupfer ist weit mehr als ein pittoresker Einzelfall: er ist ein echtes Sinnbild. Wie ist das eingefangen: die Freude des Lehrers, aus den Ferien, wo er nichts zu sagen hat, wieder in die Schule zu kommen, in die Schule, wo sein Wort alles ist. »Nach dieser Verbannung stürzte er sich mit allen Sinnen in sein wiedererstandenes Reich. Das erste ›Setzen‹ war ihm ein glühender Genuß gewesen, er hatte es vorher mit Gaumen und Zunge und Lippen umzärtelt, wie man aus einem Pfirsichkern die letzten Fasern der Frucht saugt, ehe man ihn ausspuckt. Aber Kupfer hatte nichts ausgespuckt. Liebevoll (und darum so leise) war es über seine Lippen gekommen, kein abgetaner Pfirsichkern, eher ein kleiner Diamant von unschätzbarem Werte, den der Juwelenschmuggler glücklich über die Grenze gebracht hat und nun behutsam, voll erschauernder Wonne, aus dem Mund gleiten läßt. Und ähnlichen Wonneschauer fühlte auch Kupfer.« Und nun ganz stark: »Während des Sommerexils peinigte ihn, Jahr um Jahr, die gleiche dunkle Furcht: daß sich, während er nicht da war, alles geändert haben könnte, daß nach seiner Rückkehr auf den Thron plötzlich,[117] unerforschbar wie, Setzen nicht mehr Setzen bedeuten würde und daß die Untertanen, denen er es befahl, etwa stehen bleiben möchten oder umhergehen.« Wenn doch die kleinen Tyrannen der Industrie, der Papiergeschäfte und der Kontore begriffen, daß es hier nicht um einen beliebigen Lehrer, sondern um sie alle geht!

Diese Figur ist bis zum letzten lebendig. Jede Einzelheit sitzt. Einmal: »Er wurde von seiner Tätigkeit ausgeübt.« Das Wirken dieses Mannes, der sich dabei natürlich ›streng gerecht‹ gibt, seine Wohnung, sein Liebesleben, seine Art zu sprechen und zu schweigen – das ist blühendes Leben. Wobei ich mir, im Gegensatz zu der von Thomas Mann stets vertretenen Auffassung, die Frage erlaube, ob diese Figur wohl erfunden oder nur dichterisch fotografiert ist. Ich sage: nur. Denn das schöpferische Element in einem Künstler ist nun einmal größer, wenn er solche Dingerchen ohne klar erkennbares Modell anscheinend hervorzaubert . . . Trotz Shakespeare. Aber das ist eine kleine Anmerkung. Das Buch Torbergs ist ein neuer ›Professor Unrat‹.

Außerhalb dieser kupfernen Lehrperson ist dann was da auftritt, immer noch stark, aber so stark ist es nicht mehr. Die Hauptperson, der Schüler Gerber, bleibt ein wenig blaß – seine Liebesgeschichten sind sehr behutsam gestaltet, sehr zart, sehr hübsch . . . aber es brennt nicht. Wirklich gut sind zweierlei Dinge: gut ist die Darstellung der Klasse als Lebewesen, und gut sind die eingeworfenen Bemerkungen des Erzählers, wie es so ist im menschlichen Leben. »Daß immer alles nur halb so arg ist und darum doppelt so arg . . . « Oder als ein Lehrer einmal sagt: Das werden wir ja gleich haben: »Grenzenlose Schmach: da oben steht ein einziger und sagt ›Wir‹, und unten sitzen so viele und jeder sagt ›Ich‹.«

Seit langen Jahren habe ich kein Buch in der Hand gehabt, in dem etwas, was ich das ›Schulgefühl‹ nennen möchte, so einprägsam ausgedrückt ist wie hier. Da ist eine Periode, in der sich der Schüler Gerber fallen läßt – ich habe das, als ich auf der Schule saß, einmal genau, bis in die letzte Einzelheit genau so empfunden . . . und sicherlich viele andere neben mir und um mich auch. Das ist ein lebendiges Buch.

Es kämpft dadurch, daß es nicht kämpft. Es stellt gar keine Forderungen. Es nimmt die alte Schule durchaus ernst, was sie nicht verdient – was man aber tun muß, wenn man sie abschaffen will. Ist sie nun heute besser geworden? Ich glaube, daß in der deutschen Provinz noch viele solche Autoritäts-Kasperles herumhocken, bei uns nun auch politisch in der schwarz-weiß-roten Wolle gefärbt. Man sollte dies Buch Torbergs allen Vorstandsmitgliedern jener Handwerkskammern in die Hand geben, die nichts Besseres zu tun haben, als für ihre Lehrlinge alle möglichen ›Reifen‹ zu fordern, nur die eine nicht, auf die es ankommt.

[118] Man kommt diesem reaktionären Muff am besten durch frische Hiebe bei.

Die teilt einer aus, ein Arzt, der Doktor Fritz Brupbacher aus Zürich. ›Liebe, Geschlechtsbeziehungen und Geschlechtspolitik‹ (erschienen im Neuen Deutschen Verlag zu Berlin). Hurra!

Es ist nur ein ganz kleines Broschürchen, aber ich wünschte es in hunderttausend Hände. So etwas von frischer Natürlichkeit; von sauberm Empfinden, von Fachkenntnissen ohne Fachprotzerei und Getue – das ist echte und beste Aufklärung. Es vermeidet aufs glücklichste jene entsetzliche und gedunsene Lyrik, jene schwüle Haltung der Liebes- und Ehebücher, die ein gutes Thema so hundejämmerlich schlecht behandeln, Bücher, an denen sich viele unbefriedigte Kleinbürger satt schreiben und andre halbhungrig lesen. Verbieten sollte man das Zeug nicht – auslachen sollte man es. Brupbacher ist alledem aus dem Weg gegangen; er sagt, wie die Dinge wirklich sind. Und er überschätzt die Erotik nicht, er unterschätzt sie nicht: er sieht sie grade richtig. Und belehrt den Leser. Da ist ein Absätzchen über die ewigen Erotomanen, »haltlose Menschen beiderlei Geschlechts, deren Hauptbeschäftigung darin besteht, bei Tag und Nacht, jahraus, jahrein jedermann zu verführen, der überhaupt verführbar ist. Unerfahrene beider Geschlechter fallen auf diese Geschlechts-Reisenden gar oft schwer herein, da diese im Laufe ihrer Wanderungen sich zumeist eine Oberflächenschicht von reizenden Eigenschaften erworben haben, die naiven Gemütern manchmal länger als eine Woche Tiefe, Güte und andre Herrlichkeiten vortäuschen. Man hüte sich, mit ihnen vor Ablauf dieser Woche zu schlafen. Man soll sich zuerst kennen, bevor man sich erkennt. Und nicht erst durch die ›Erkenntnis‹ (im biblischen Sinne) zum Erkennen kommen.« Was mir ein Roman-Thema zu sein dünkt. Lest das Buch und verschenkt es in vielen Exemplaren.

Ein Roman-Thema . . . Ja, was bearbeiten denn heute so die jungen Erzähler? Laßt uns sehen. ›24 neue deutsche Erzähler‹ herausgegeben von Hermann Kesten (erschienen bei Gustav Kiepenheuer in Berlin). Hm . . .

Vielleicht wäre es gut, dieser sehr sauber gearbeiteten Anthologie den Untertitel ›Stufen‹ zu geben. Es ist, wie wenn sich diese Autoren entsagungsvoll zu Boden geworfen hätten, damit ihre Leiber Stufen für jene bilden mögen, die da aufwärtsschreiten sollen zum Parnass. Nach ihnen. Es stehen sehr hübsche Geschichten in dem Band, es ist beinah alles gut und schön – aber ich werde das bestimmt nicht zum zweiten Mal lesen, und das ist ja eigentlich der wahre Wertmesser eines Buches. Aus Furcht vor Pathos und Ergriffenheit schreiben sie einen kühlen Stil, einer wie der andre, ganz kalt, scheinbar unbeteiligt – »Das ist ja grade das Feine« – ja, ich weiß. Nietzsche sagt zu solcher Kunst: »Eine Art chinesischer Malerei, lauter Vordergrund und [119] alles überfüllt.« Nun wollen wir uns gewiß nicht mehr über jene uralte ›Sachlichkeit‹ unterhalten – aber ich glaube: das ist gar keine. So kann jeder, der nicht kann. Ausnahmen zugegeben: der Humor Marie Luise Fleissers sticht hervor; ein brillantes und lebendiges Kapitelchen F. C. Weiskopfs ist da, der Friseur›Cimbura‹ aus Prag . . . einer macht den Joyce nach, daß es zum Erschrecken ist – aber das wissen wir doch alles. Man kann sich das ausraten. Wenn früher die Geschichte eines Schrankenwärters erzählt wurde, dann konnte man darauf schwören, daß die Sache mit einem Eisenbahnunfall enden würde, und wenn heute weibliche Gefangene in der Zelle gezeigt werden, dann endet das auf Lesbos, es ist eins wie das andre. Ich frage mich nur immer: wo haben die Herren eigentlich ihre Augen! Da witzelt sich einer eine kleine Geschichte zusammen, von einer kaufmännischen Angestellten. Keine Schreibmaschine ohne das, was unterhalb der Tischplatte ist. Gut. Und da läuft so ein Satz unter . . . aber ich will doch gleich aus dem Bett fallen, wenn ich diesen Satz nicht einmal aufpuste, daß etwas aus ihm wird. Wie kann man sich das entgehen lassen! »Sie tat sehr stolz«, heißt es von der Stenotypistin, »das Fräulein zählte sich nicht zum Proletariat, weil ihre Eltern mal zugrunde gegangen sind (muß heißen: waren). Sie war überzeugt, daß die Masse nach Schweiß riecht, sie leugnete jede Solidarität und beteiligte sich an keiner Betriebsratswahl. Sie tat sehr stolz, weil sie sich nach einem Sechszylinder sehnte.« Guter Mann, das ist gewiß sehr höhnisch gemeint. Doch der Hohn geht daneben. Natürlich stimmt alles – aber wer hat hier unrecht? Hier hat der Marxismus unrecht, der nicht sieht, daß dieser – sicherlich komische Stolz – auf die Sehnsucht nach dem Sechszylinder eine seelische Realität ist, mit der man zu rechnen hat. Daran ist beinah alles in Deutschland gescheitert: daß ihr die Angestellten als Arbeiter klassifiziert, und sie sind es nicht, sie sind es nicht, sie sind es nicht. Ich weiß, wie und daß man beweisen kann, sie seien es doch. Sie sind es nicht. Ihr erreicht nicht ihr Ohr, weil ihr ihre Sprache nicht sprecht . . . ach, wäre das eine schöne Erzählung geworden, wenn Sie den Angestellten wirklich da gepackt hätten, wo er zu fassen ist! Ein Jammer. Immerhin: die Anthologie verlohnt für den, dens angeht, gelesen zu werden. Was der normale Leser damit anfangen kann, ist freilich eine andre Frage.

Wem nähern wir uns denn nun . . . Ja, da ist etwas. ›Der Vatikan als Thron der Welt‹ von Joseph Bernhart (erschienen bei Paul List in Leipzig). Aus diesem Verlag wird man nicht recht klug, dumm auch nicht, klug auch nicht. Neulich bekam ich einen seiner Verlagsalmanache in die Hand; da gehts kunterdibunter, das Ding hat viele Gesichter, aber kein Gesicht. Wenn man das auf eine Formel bringen sollte, so wäre es etwa: Vornehme Bürgerlichkeit mit weitherzigem Verständnis für sämtliche Lager der Branche. Was übrigens in diesem [120] Fall durchaus keine Konjunkturriecherei ist sondern tiefste Unsicherheit. Ich sehe im Verlagskontor zwei maßvoll gekränkte Gesichter. Thomas Mann hat zum Tode des Verlagsbegründers, des Herrn Paul List, einige sehr schöne und freundliche Zeilen geschrieben . . . Wir wollen uns da nicht streiten. Also: der Vatikan als Thron der Welt.

Ein sehr schönes Buch. Ein ausgezeichnetes und gelb eingebundenes Werk. Zum Lesen ist es eigentlich nicht. Denn man muß den Stoff schon sehr genau beherrschen, um diese mit Seminar-Bildung vollgepfropften Paraphrasen zu verstehen. Es sind nur Variationen, das Thema wird nicht recht hörbar, und wer nicht schon gelernt hat, lernt hier nichts. Die Stellen über Luther sind von einer heitern Komik; wir, die wir diesem Vereinsgezänk fernstehen, bekommen einen Vorgeschmack, wie das wohl im sechzehnten Jahrhundert gewesen sein mag. Immerhin gibt der katholische Propagandist, der dies verfaßt hat, den ›Hexenhammer‹ preis, was ja eine ganz achtbare Leistung für ihn ist. Wie er dann freilich den Mut aufbringt, die Kirche im Weltkrieg einen »Überstaat« zu nennen, der im »Getümmel der Staaten die Begriffe der ewigen Güter wahrt«, das muß er schon mit seinem lieben Gott abmachen. Wenn man ›Güter‹ richtig auffaßt, stimmts übrigens. Ich bin kein Pfaffenfresser, aber wenn man so sieht, was heute in Verlagen, die auf sich halten, als ›katholisch‹ marschiert, dann sind die Männer, die in den siebziger Jahren die Kirche bekämpft haben, denn doch andre Kerle.

Man muß die Kirche aufsuchen, wo sie zu Hause ist. ›Die religiösen Anschauungen der Semang-Zwerge von Malaya‹ von Paul Schebesta (erschienen bei L. Schwann in Düsseldorf), ein dünnes Heftchen. Und eine Fundgrube.

Der Verfasser hat als Missionar diese unwegsamen Urwaldgegenden durchforscht und höchst beachtenswertes Material nach Hause gebracht; das Heft ist nur ein Auszug aus einem größern Werk. Es handelt sich um die kleinen Pygmäenstämme, die nach allgemeinen Begriffen wohl am tiefsten unter allen primitiven Stämmen stehen. (Man sollte nach 1914 nie mehr ›Wilde‹ sagen.) Was an diesem Bändchen für den Psychoanalytiker herausspringt, geht gar nicht in eine Buchbesprechung. Und was an ungewolltem Humor herausklingt, fiele, wenn ich es genau erörterte, gradenwegs in den Rachen des § 166 und vor die Kammern unsrer Unabsetzbaren. Daher nur einige Andeutungen, die sich der gütige Leser selber ausmalen möge.

Von einer Mythe der Urwaldzwerge: »Diese Mythe erklärt dem Kenta-Semang alles zur Zufriedenheit, so daß er kein Bedürfnis mehr fühlt, zu fragen: woher der Schlamm, woher der Mistkäfer, woher der Bär. Die sind eben da.« Guck doch mal rasch nach, wie der kosmologische Gottesbeweis geht . . . Der Missionar hat sich zwar an keiner Stelle aufgeblasen, aber er fühlt auch ebensowenig, wie alle Religionen [121] ein System durchzieht, wie keine davon ausgenommen ist, seine auch nicht. Daß diese Weltanschauung sich Religion nennt, rührt daher, daß sie sich ausgenommen wähnt. Man sagt uns immer nach, wir höhnten. Wir höhnen gar nicht. Wir verbitten uns nur, daß man uns Anschauungen aufzwingt. Auch wir müssen sterben, wie die Semang-Zwerge; das verbindet uns mit ihnen. Wir wollen aber klarer denken als jene – das trennt uns von ihnen. Und nicht nur von ihnen.

Und nun wollen wir zu etwas Ergötzlicherem übergehen. Katzen! Ein ganzes Buch über Katzen! Heißt auch so, ist von Pol Sackarnt zusammengestellt und bei Georg Müller in München erschienen. Ein Buch schönster Fotos.

Wers mög, der mögs, und wers nicht mög, der mags ja wohl nicht mögen. Denn so wie es Gebirgsmenschen und Seemenschen gibt, so gibt es Hundemenschen und Katzenmenschen. Die literarische Anthologie, die den Bildern vorangeht, ist eine Spur zu kühl – aber vielleicht ist das nicht besser zu machen. Das Katzenbuch Eggebrechts, der auch vertreten ist, steht weit über allen diesen Proben. Unter denen sind auch Arbeiten von Katzenzüchtern; diese Fachleute können sich nicht versagen, die Worte ›züchterisch‹ und ›kätzisch‹ anzuwenden – jedem Mann seine eigne Fachsprache. Die wundervollen Bilder lassen nachher alles vergessen.

Ja, das hätten wir nun alles umarmt. Aber das da – herzblutrot gebunden . . . das soll nie wieder weggehen. Das soll bleiben. Und bleibt. Was ist das –?

Proben:

»Nichts ist so schön wie wieder allein zu sein und friedlich und in sich gekehrt durch die Wälder zu streifen, Kaffee zu kochen und die Pfeife zu stopfen und dabei ein wenig und langsam zu denken. So, jetzt fülle ich den Kessel mit Schnee, denke ich, und jetzt mahle ich diese Kaffeebohnen mit einem Stein; später muß ich meinen Schlafsack gut im Schnee ausklopfen, damit die Wolle wieder weiß wird. Darin ist keine Literatur und kein großer Roman und keine öffentliche Meinung.

Ich dachte, welche Tüchtigkeit im Fach bei diesem Lensmann, wie bebte er vor Durchschnittlichkeit!

Waren es schwere Tage? Nein, gute Tage. Meine Freiheit war so groß, ich konnte tun und denken was ich wollte, ich war allein, der Bär des Waldes. Aber selbst mitten im Walde wagt kein Mensch laut zu sprechen, ohne sich umzusehen, lieber geht man stumm umher. Man tröstet sich eine Weile damit, daß es englisch sei, stumm zu sein, daß man königlich schweigen solle; aber einen ganzen Tag ist das zu lang, der Mund fängt an zu erwachen, sich zu strecken, und plötzlich schreit man ein oder zwei idiotische Sätze hinaus: Ziegelsteine für das Schloß! Das Kalb ist heute viel [122] frischer! Wenn man gut schreien kann, hört man es eine Viertelmeile weit – und dann steht man da und fühlt ein Brennen wie nach einem Hieb.

Du wirst sehen, alle diese Felsen sind reine Verschwörungen gegen meine Wanderung, denke ich, riesenhafte gepflanzte Flüche, die mir den Weg versperren. Oder wie, wenn ich einfach in die Gewerkschaft der Felsen geraten wäre? Aber ich nickte einige Male, und das soll bedeuten, daß ich kühn und froh bin. Vielleicht sind die Felsen auch nur ausgestopft.

Dann endlich kamen zwei armselige Engländer. Führer? Führer? riefen sie nur, Sie Führer, ja? Die beiden reisten dumm und ernsthaft den Berggipfeln nach, sie hatten Eile, sie hatten ein Ziel, es war, als reisten sie zum Arzt.

Ich sah keine Süßigkeit an ihr, nur Erregtheit. Sie hatte Grammatik gelernt, aber keinen Inhalt, ihre Natur war unterernährt.

Er habe ja keine Ahnung, auf welchen Meeresmassen ich schon gewesen sei, ohne das geringste Unbehagen davon zu spüren; einmal vierundzwanzig Tage auf dem Ozean, die meisten lagen da und waren unbrauchbar, der Kapitän erbrach sich wie eine Dame, aber ich?«

Neuerscheinung! Soeben erschienen! Nur ja nichts lesen, was schon länger als vier Tage aus der Druckerpresse heraus ist! Neuerscheinung!

Sie haben richtig geraten, wenn Sie es geraten haben. Hamsun. Ein kleiner Roman, einer von den ältern, gar nicht einmal so sehr bekannt, zehn Auflagen. Und eine Perle – aus dem Meer, wo es am tiefsten ist. ›Die letzte Freude‹ (bei Albert Langen in München erschienen. Nicht: ›Das letzte Kapitel‹). Ein Roman, der in Reflexionen eingebettet ist, scheinbar beiläufig erzählt, mit einer Technik, die ans Wunderbare grenzt . . . und welches Herz! Das ist wirklich der Allergrößte. Wofern dies mit dem Respekt vereinbar ist, den ich für ihn hege – er ist der einzige Mensch, vor dem ich den Hut herunterrisse, wenn ich ihn je sähe . . . Komm her, rotes Buch, und laß dich umarmen.


Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1930. Auf dem Nachttisch [3]. Auf dem Nachttisch [3]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-63D1-1