Was aus der großen Zeit

des Krieges geblieben ist, sieht so aus:

Wir erinnern uns mit Schaudern der Folgen jener Nationalmonomanie, die ein ursprünglich gesundes Zusammengehörigkeitsgefühl in den Abgrund des Wahnsinns kippen ließ: es gab keine Lüge, von der Obersten Heeresleitung ausgegeben, vom Auswärtigen Amt geduldet, von der gehorsamen und unter ihrer Knebelung wollüstig stöhnenden Presse nachgestottert, es gab keine solche Lüge, die nicht blindlings von der ganzen Nation geglaubt wurde. Von den Bomben über Nürnberg bis zum Ruhrkampf eine Linie.

Ein geistig so isoliertes Volk sprach nicht mehr die Sprache der Welt – übereinstimmend berichten alle klugen und anständigen Leute, die während des Krieges und während der Inflation ins Ausland gelangen konnten, daß es ihnen jenseits der Grenzen wie ein Reif von der Stirn fiel – aber es war kein Königsreif, es war ein dicker Stahlhelm, der herunterfiel. Sie sahen draußen plötzlich, wie die gesamte übrige Welt, so sehr sie ihrerseits in Irrtümern befangen sein mochte, ihre eigne Denkweise anwandte, die mit der deutschen überhaupt nichts mehr zu tun hatte – so weit fort waren die Deutschen von aller Realität.

Das ist besser geworden. Ohne großen Nutzen und mit vielem Wortschwall reisen nun die deutschen Politiker, und wo sie hintreten, da wächst der Superlativ, und wenn sie drei Tage in London gewesen [133] sind, so wird ihnen niemand mehr etwas über englisches Wesen erzählen, ihnen nicht. Immerhin: die zwanzig Ohren, die an hundert deutschen Köpfen befestigt sind, hören doch etwas vom Brausen der Welt, die immer noch nicht an deutschem Wesen genesen ist.

Aber geblieben ist die fatale Disziplin der Presse, der Parteien und des unsäglichen Reichstages. Man muß nur einmal sehen, wie selten da einer aus der Reihe tanzt, wenn die Regierung ihnen was bläst, wie schauerlich einstimmig das patriotische Geheul klingt, wenn es gegen Rußland, für England, gegen Frankreich, für den Anschluß geht. Sie sind wie narkotisiert: Hühner, mit einem offiziellen Kreidestrich vor der Nase. Ich glaube, daß im Blut der Deutschen die weißen und die roten Blutkörperchen getrennt im Parademarsch dahinfließen, das Herz schlägt dazu den Takt, bum ist links, und wenn das Gebäude eines Tages einen Granatsplitter im ersten Stock findet, so wird es noch im Zusammensturz murmeln:

»Es kann der Beste nicht im Nachbarn leben,
wenn es dem bösen Frieden nicht gefällt.«
Disseplin muß sind.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1928. Was aus der großen Zeit. Was aus der großen Zeit. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-6465-7