Der Fremde

Wenn Frau Kulicke auf der Treppe einem Chinesen begegnet, dann kommt sie ganz aufgeregt nach Hause und erzählt: »Wohnt eigentlich ein Chinese im Haus? Eben bin ich auf der Treppe . . . « Da klingelt es. Sie öffnet: der Chinese. Um Gottes willen! Was –? Der Chinese möchte ein Zimmer mieten. Etwas mißtrauisch läßt sie ihn herein, der Chinese sieht das Zimmer an, es gefällt ihm (er hat noch nicht das berliner Guckauge für solche Dinge; wäre ich dabei gewesen, hätte ich ihm einiges zeigen können) – er mietet, er zieht ein. Der Chinese wird ein unerschöpfliches Gesprächsthema.

Der Chinese vertritt für Frau Kulicke China. Ungeahnte Möglichkeiten erwägt sie in ihrem Hirn, Opiumhöllen, ausgerissene Seeräuberzöpfe, kleine Geishas (die liegen bei Frau Kulicke in der chinesischen [450] Schublade); aber inmitten dieses asiatischen Brodelns ist eines sicher: China und dieser Chinese – das ist ein und dasselbe.

Und Frau Kulicke ist nur eines von hunderttausend Exemplaren: jeder Fremde vertritt für die meisten Menschen sein ganzes Land, seine Regierung und seinen Fürsten. Die Franzosen in Deutschland haben bekanntlich alle noch vor kurzer Zeit Privat- und Spezialaufträge von Herrn Poincaré gehabt; die Deutschen vor dem Kriege waren Abgesandte des Kaisers; auf jedem Russen lag früher der Abglanz des Zaren (den er vielleicht nie gesehen hatte) – der Fremde vertritt für die meisten Leute immer noch seinen Staat.

Und keiner kommt auf den naheliegenden Gedanken, daß der Fremde zu Hause genau so ein unnützes, beiseite geschobenes Ding sein könnte wie der Betrachter; daß sich sein Staat so wenig aus ihm macht wie der unsre aus uns (neulich war in einem Erlaß über die Befeierung dieser Verfassung zu lesen: »Es sind auch Kreise der Bevölkerung hinzuzuziehen . . . «); jeder tut immer noch so, als käme der mächtige Volksgenosse eines völlig geschlossenen fremden Stammes zu uns – und nicht der kümmerliche Bestandteil einer anachronistischen Gesellschaftsform. Und je ohnmächtiger die Einheimischen sind, desto größere Fähigkeiten trauen sie dem fremden Mann zu.

Europa hat noch nie so viel Nationen und Staaten gesehen wie heute. Innerhalb der Staaten geht das Spiel weiter – oder wollen etwa die Franken dulden, daß die Stammeseigenart der Mittelfranken bei ihnen unterdrückt werde? ›Die thüringischen Belange‹ (was man am besten wie ›Melange‹ ausspricht); die Pfälzer verlangen; die Hannoveraner drohen – je eine halbe Million, wenns viel ist. Europa spielt. Es scheint die Idee kurz vor dem Höhepunkt ihres Umkippens in das Gegenteil zu sein, wie zu hoffen steht. Statt wirklich zu sehen, wie die Schichtgrenzen laufen, amüsieren sie sich mit Fahnen, Grenzpfählen, Ministerpräsidenten – und spielen ›fremd‹.

Gott segne diesen Erdteil! Er hat es nicht anders verdient.


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TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1924. Der Fremde. Der Fremde. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-6468-1