Wer liest das –?

Meine gute Tante, die im Besitz einiger herrlicher Pleonasmen war, nannte jede Art beschmiertes Papier gern »Schreibenschriften«. Davon gibt es ja nun allerhand . . . Wobei denn zu fragen:

Wer liest das eigentlich alles –?

Da sitzen Sie also in der Bahn, und Ihnen gegenüber sitzt eine Mappe mit einem Herrn. Derselbe zieht aus derselben ein dickes Konvolut Papier. Kein feiner Mann liest, was man ihm in der Bahn darbietet, doch bin ich kein feiner Mann, Zwar gehöre ich nicht zum Klub [281] der Rückenleser, aber immerhin . . . man kann sich dem nicht ganz entziehen. Was hat der Mann da –?

Er hat etwa ein Viertelpfund ehemals weißes Papier, das haben sie mit einem schwarzen Vervielfältigungsapparat ruiniert, und jetzt stehen da Tabellen und Verzeichnisse und Verfügungen und Verordnungen . . . jedermann seine eigene Behörde . . . Liest der Mann das –?

Es fällt ihm gar nicht ein. Ich weiß genau, warum er sich das eingesteckt hat. Das hat er sich eingesteckt, weil er sich dabei gedacht hat: »Hier komme ich ja nicht dazu . . . Ich werde das in der Bahn . . . famos! Ich werde das in der Bahn lesen . . . !« Aber da tut ers auch nicht. Er sieht einmal zerstreut in den Kram, dann guckt er aus dem Fenster, dann reißt er ein Eckchen ab und probiert, sich damit die Fingernägel zu reinigen (Wenn du denkst, du bist allein – mache deine Nägel rein); dann legt er mit einem schweren Seufzer die ganze Geschichte auf das kleine Fenstertischchen und fängt an, endgültig einzuschlafen. So war das.

Aber nimmermüde speit der Apparat Papier aus. Bedrucktes Papier, beschriebenes Papier, betipptes Papier . . . immer noch mehr Papier. Wer liest das?

Es muß wohl so eine Art Selbstbestätigung der zahllosen ›Stellen‹ sein, mit denen wir gesegnet sind; sie glauben: ›Wir vervielfältigen, also sind wir‹ – so einem alten philosophischen Satz einen erstaunlichen Dreh gebend . . . Glauben die Leute, daß das einer lese . . . ? Ich glaube: sie glauben es nicht. Aber sie tuns doch.

Ist nicht viel unproduktive Arbeit dabei? Ist hier nicht sehr vieles Selbstzweck geworden, was einmal Mittel gewesen ist? Ich meine keine bestimmte Branche, es ist ja Allgemeingut, dieser ungeheure Papierverbrauch. Reklame, Mitteilungsbedürfnis . . . aber wird das nicht übertrieben? Hier liegt, glaube ich, ein goldenes Gesetz der Wirtschaft verborgen, das sich immer deutlicher zeigt.

Das Gesetz heißt etwa so:

Was alle tun, hebt sich auf.

Es ist wie mit den Autos; in der City New Yorks kommt man ja wohl schneller vom Platz, wenn man zu Fuß geht. Alle haben ein Auto –

und nun hat keiner mehr ein Auto!

Die ersten Behörden, Dienststellen, Geschäfte, die viel Papier auf die Welt streuten, hatten damit Erfolg; vielleicht auch noch die zweite Schicht . . . aber nun ist es damit vorbei, alle tun es, und es wirkt nicht mehr; man liest kaum noch, was einem die Post und der Betrieb täglich auf den Schreibtisch schütten. Jeder von uns beherrscht ja die Kunst, aus einem Wust von vielem Papier die zehn Briefe und die vier Drucksachen herauszufischen, die für uns wirklich von Wichtigkeit sind. Der Rest . . .

[282] Dieses goldene Gesetz finden Sie überall. (Zum Beispiel auch in der Rüstung der Staaten.) Welcher Aufwand, um das Einfache zu tun. Doch gibt es ja wohl nichts mehr Einfaches hienieden.

Wer aber an die Wichtigkeit des von ihm geschriebenen und herausgegebenen Papiers glaubt, der hats gut und sei gesegnet. Neben den dreißigtausend Büchern, die Deutschland im Jahr gebiert, wieviel Millionen Broschüren, Dienstanweisungen, Propagandaschriften, Aufrufe, Manifeste, Überblicke, Tagesbefehle, Proklamationen . . . wer liest das? Die, dies angeht, bestimmt nicht.

Wer liest das –?


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TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1930. Wer liest das -?. Wer liest das -?. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-64C0-C