Nachher

Wir saßen auf der Wolke und ließen die Beine baumeln.

»Was am schwersten war, dieses Mal?« sagte er und blies nachdenklich den Meteorstaub in die Luft, »am schwersten . . . Am schwersten war der Knacks.« – »Welcher Knacks?« sagte ich. »Der zwischen Jugend und dem andern, was dann kommt«, sagte er. »Manche nennen es: Mannesalter. Es hätte sollen ein Übergang sein, ein harmonisches Gleiten, ich weiß schon. Bei mir war es ein Knacks.« Der alte Herr probierte einen neuen Meteor aus, der sich emsig bemühte, die höhere Astronomie gänzlich durcheinanderzubringen – es war etwas ziemlich Hilfloses. Wir sahen erhaben zu, denn es ging uns so schön gar nichts an. »Ein Knacks, sagten Sie?« fing ich wieder an. »Ein Knacks«, sagte er. »Es war so:

Sie hopsen da herum, alles ist einfach klar – wenigstens scheint [135] es Ihnen so. Was Sie nicht richtig durchschauen können, das umkleiden Sie mit einem herrlichen Nebel von Lyrik, Pubertät, Nichtachtung, Sorglosigkeit, tapsig hingehuschten Wolken; der tote Punkt in Ihrem Blickfeld ist eine Fläche, dahinein geht viel. Alles ist nur Spaß, wissen Sie, das macht die Sache, wenn auch nicht angenehm, so doch sehr erträglich. Alles ist nur Spaß.« – »Und dann –?« sagte ich. »Und dann –«, sagte er, »und dann ist das eines Tages – nein: nicht eines Tages, eines Tages ist es nicht aus. Viel schlimmer. Erst ist es nur ein leises Unbehagen, die Räder quietschten doch früher nicht? Dann wird Ihnen das Quietschen zur gewohnten Begleitmusik, dann schmeckt dies nicht mehr und dann jenes nicht, und dann fangen Sie auf einmal an, zu sehen.« Jetzt machte der Meteor einen Bogen, der Verfasser versprach sich wohl von diesem Kunststück etwas, das er ›majestätisch‹ genannt wissen wollte. Es war ein rechter Ausverkauf an Majestät.

»Sie sehen –«, sagte er. »Aber es ist doch schön, klar zu sehen –?« sagte ich. »Sie tun so«, sagte er, »als wären Sie nie unten gewesen. Es ist grauenhaft. Sie sehen: daß es gar nicht so ist, wie Sie bisher geglaubt haben, sondern ganz anders. Sie sehen: daß es wirklich nicht so schön einfach ist, wie es Ihre Bequemlichkeit und Eselei sich zurechtgemacht haben. Sie sehen: schräg hinter die Dinge, niemals mehr, das ist besonders aufreizend, jedenfalls sehen Sie nicht mehr glatt von vom. Und dann die andern –! Bis dahin haben sie Sie noch begleitet, man hat sich ganz gut verstanden, es ging gewissermaßen erträglich und verträglich zu. Nun heiraten die, nun haben sie Kinder, hören Sie: richtige lebende Kinder! die nehmen sie ernst; erst hatte jeder eine Frau, jetzt hat das, was da neu entstanden ist, beide, und auf einmal, eines Tages, bekommen Sie einen freundlichen Rippenstoß von nebenan: ›Nicht wahr, Alter – wir wollen uns doch nichts vormachen, das da: Samtvorhänge, Warmwasserspülung, Behäbigkeit, das ist doch das Wahre, was?‹ Es ist wie ein Donnerschlag. Ihre Ideale bewahren sie sich getrocknet auf, im Herbarium ihrer Gefühle, manchmal, sonntags, sehen sie sich das an. Und lachen darüber, verstehen Sie das? sie lachen darüber. So ziehen sie an Ihnen vorbei.« – »Blieben Sie denn stehen?« sagte ich.

»Ich blieb stehen«, sagte er. »Ja, ich blieb wohl stehen. Alle kamen an mir vorüber, der ganze Zug mit Roß und Mann und Wagen und allen Reisigen. Zum Schluß die alten Weiber, und dann wackelten da welche, die ich noch als kleine Kinder gekannt hatte: sie hatten den ganzen Nacken voll seriöser Sorgen und waren ehrgeizig und verdammt real. Sie brachten es alle zu etwas, sehr ernsthafte Leute. Beinah hätten sie mir einen Groschen in den Hut geworfen. Ich hatte aber keinen Hut. Und da stand ich, ganz allein.« – »Waren Sie denn kein Mann?« sagte ich und mühte mich, das sehr neutral zu sagen. »Ein Mann?« sagte er. »Doch auch, ja. Ich kroch auch später den [136] andern nach, und was früher Ideal gehießen hatte, hieß jetzt einfach: Zuspätkommen. Ein Mann erwachsen . . . Aber in einer Ecke meines Herzens, wissen Sie, da wo es am hellsten und dunkelsten zugleich ist – da bin ich doch immer ein Junge gewesen.«

Wir schwiegen. Und als ich mich nach ihm drehte, da war er nicht mehr da. Er hatte sich fallen lassen, vermutlich aus Scham, denn so etwas sagt man nicht.


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TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. Nachher (1925-1928). Wir saßen auf der Wolke und ließen die Beine baumeln [2]. Wir saßen auf der Wolke und ließen die Beine baumeln [2]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-652B-3