Henri Barbusse und die Platte
›Lord help me –!‹

Jack (kommt nach einer Weile zurück und setzt die Schale auf den Blumentisch): Das war ein Stück Arbeit! – (sich die Hände waschend): Ich bin doch ein verdammter Glückspilz! –

›Die Büchse der Pandora‹


Das erste Mal, daß ich Menschenblut habe fließen sehen, und nicht das meine, das ist in der Dorotheenstraße zu Berlin gewesen. So etwas bleibt, nicht wahr: ich stak grade bei ›Dusche‹, meinem Schulfreund, heute ein Nervenarzt vor dem Herrn, als auf der Straße Stimmen laut wurden, wir rissen die Fenster auf, da lief ein brüllender Kerl mit großem, gelbem Schnurrbart über den Damm, er blutete im Gesicht und schrie immerzu . . . Menschen strömten zusammen, es gab einen Tumult, das Gesetz erschien; laufende Schutzleute der damaligen Zeit sahen immer aus, als fiele der Staat zusammen; was dann geschah, weiß ich nicht mehr. Aber wie mein Gefühl gewesen ist – das weiß ich noch ganz genau.

Es war zunächst der große Schock, natürlich. Für uns Kinder ist ja die Haut, die das bißchen Blut von der Außenwelt trennt, nicht dünn gewesen; ein Gesicht war ein Gesicht, daran konnte man doch nichts ändern . . . Und nun war das auf einmal offen, zerfetzt, mißgestaltet, blutig! Ein furchtbarer Schreck.

Und dann etwas andres. Mir ist das damals nicht bewußt geworden, es kündigte sich nur dunkel an, so dunkel, wie es eigentlich bis heute geblieben ist. Ich gebe es am besten wieder, wenn ich sage: es war um einen Ton dumpfer als ein Gefühl; es regte sich etwas, das neben der Wollust wohnte, aber durch dicke Wände von ihr getrennt. Immerhin waren die Wände nicht so dick, daß die benachbarte Lust [250] sich nicht unmerklich aufrichtete . . . nein, sie wachte nicht auf, mir war das scheußlich, der Mann litt, schrie, ich wollte das nicht . . . aber weil in der benachbarten Gefühlskammer so ein Rumor war, legte sich die Wollust gewissermaßen auf die andere Seite, faulig, leicht geschreckt; es ging sie noch nichts an . . .

Als ›Blaise, der Gymnasiast‹, eine Schöpfung Philippe Monniers, von seinem Kameraden auf einer Bank im genfer Park sexuell aufgeklärt wird, klopfen Mägde auf einem Nachbargrundstück Teppiche. Blaise fügt hinzu: »Ich werde dieses Teppichklopfen hören, solange ich lebe.«

Ich werde diesen blutenden Mann sehen – solange ich lebe.


Bei Flammarion in Paris ist vor einiger Zeit ein Buch von Henri Barbusse erschienen ›Faits divers‹. (Die deutsche Übersetzung heißt ›Tatsachen‹ und ist im Neuen Deutschen Verlag, Berlin W 8, erschienen.)

›Faits divers‹ ist sehr schwer zu übersetzen: es ist jene Sparte der französischen Zeitungen, in der bei uns ›Lokales und Vermischtes‹ zu stehen pflegt. ›Aus aller Welt‹ – das heißt: wo das früher gestanden hat; heute machen ja die Umbruchredakteure, einer alten, lieben Kriegsgewohnheit folgend, jeden Mord als Schlagzeile auf der ersten Seite auf – damit das Publikum ja nicht glaube, es könne an einem Tage auch einmal nichts geschehen sein. Früher kamen die Ereignisse in die Zeitung; heute werden die Ereignisse von der Zeitung ereignet. Ja also: faits divers . . .

Barbusse, einer der wenigen Europäer, die es nach Björnson und außer Fritjof Nansen gibt, hat nichts weiter getan, als aus vielen Ländern, hauptsächlich aus Frankreich und vom Balkan kleine Ereignisse zu sammeln – Dinge, die in der Zeitung mit drei Zeilen abgetan werden: eine Verhaftung . . . der wegen Hochverrat eingesperrte X ist aus dem Gefängnis Y nach Z überführt worden . . . gar nichts, wie –? Eine Hölle stinkt auf.

Alles, was er erzählt, ist wahr und authentisch.

Erstes Kapitel: ›Der Krieg‹. Da nimmt er sich, wie es recht und billig ist, zunächst einmal seine eigene Nation vor. Das Gebrüll vom ›beschmutzten Nest‹ zieht ja nicht mehr – es gibt nur wenige Ausländer, denen wir das Recht einräumten, Deutschland so heftig zu kritisieren, wie wir es tun. Dieses Recht muß man sich erwerben. Barbusse hätte es – er hat es nie getan. Er beginnt also mit seinem Frankreich im Kriege.

Nun gibt es da einen Zug in der französischen Armee, dem ich merkwürdigerweise noch niemals, in allen Hugengebirgen, in allen nationalen Zeitschriften niemals begegnet bin – und das wird wohl seinen Grund haben.

Die französische Heeresdisziplin ist nach allen meinen Informationen [251] manchmal laxer als die deutsche – was die Form angeht. ›Rouspéter‹ – ›meckern‹ . . . etwas dem deutschen Feldwebelgehirn völlig Unvorstellbares – das ist drüben in gewissen Grenzen und bei kleinen Anlässen erlaubt. »Sie gehen heute abend auf Patrouille!« – Aber nun legt der los: »Ah . . . mais des fois – non, mais . . . tout de même . . . ah, ça . . . voyons . . . « Und so in infinitum. Dann geht er vielleicht doch. Oder auch nicht: wenn sich der Feldwebel das abhandeln läßt. Dieses kleine Scharmützel von Mensch zu Mensch findet natürlich nur gegen die unteren Chargen statt, aber da kräftig. Und da sagt auch keiner etwas. Der Deutsche wird dann ›dienstlich‹ (eine der schauerlichsten Sprachschöpfungen dieses Stammes) – der Franzose nimmt das hin, er weiß: dies ist ein Ventil, überschüssiger Dampf muß heraus, und nachher funktioniert die Maschine viel besser. Soweit gut und schön.

Hat es aber geregnet, ist das Wetter schlecht, ist der Druck von oben aus irgendwelchen Gründen besonders stark, oder steht eine besondere ›brute‹ (eigentlich: unbehauenes Holz, im übertragenen Sinne: Rohling, ungeschlachter Kerl) am Kommando: dann kann es geschehen, daß die Militärbestie zupackt. Und wenn sie drüben einmal zugepackt hat, läßt sie sobald nicht mehr los. Und dann endet es meist sehr schlimm.

Ehe ein deutscher Soldat standrechtlich von Deutschen erschossen wurde, mußte er wirklich schon allerhand getan haben. (Ich sehe hier von dem politischen Justizmord an Köbis und Reichpietsch ab, dessen Täter zum Teile heute noch, wie zum Beispiel Herr Dobring, in Diensten dieser Republik stehen.) Vor die Gewehrläufe der Eigenen . . . in Österreich ja, in Deutschland sehr, sehr schwer. Zuchthausstrafen, die gemeinsten Schikanen in den Strafanstalten für ›Soldaten zweiter Klasse‹ (was ein Pleonasmus ist), alles – aber Tod: selten. In Frankreich: häufig. Nach den Feststellungen der französischen Liga für Menschenrechte, die sich – nachher – sehr verdient um die Aufdeckung dieser Verbrechen, begangen durch die »conseils de guerre«, gemacht hat, scheinen etwa 6000 (in Worten: sechstausend) Menschen als ›Spione‹, ›Verräter‹, ›Feiglinge‹ etcetera von den Franzosen im Laufe dieses Krieges erschossen worden zu sein. Diese Fälle erzählt Barbusse.

Einmal traf der Herr Boutegourd, als General der 51. Division verkleidet, einen Haufen Soldaten, deren Marschroute er sich nicht zu erklären wußte. »Sechs Mann raus und an die Wand!« Es gab sehr verständige, sehr anständige Offiziere seiner Umgebung, die diesen Feigling von seiner Untat abzubringen versuchten – vergeblich. Die sechs Mann wurden aufgebaut und abgeknallt. Einer wurde schlecht getroffen (so, wie es damals einem der zweiunddreißig Matrosen in der Französischen Straße geschehen ist), er entkam. Und fiel dann später. Dann ist da der Herr Mathis, der sich laut rühmt: »Zweihundert [252] Deutsche hatten wir geschnappt, aber ich habe nur zwanzig nach hinten gebracht. Die übrigen . . . « und dann eine sehr genaue Schilderung dieses ekelhaften Schlachtens; die Franzosen wollten erst nicht recht heran; sie mußten, Herr Mathis befahl es ihnen . . . Dann eine gradezu grauenerregende Geschichte, und alles das gut belegt, von einem ganzen Trupp: da waren 250 (in Worten: zweihundertundfünfzig) französische Soldaten, die angeblich gemeutert hatten . . . das war 1917 . . . diese Meutereien sind niemals ganz aufgeklärt worden. Damals hatte die Sûreté Générale, die französische politische Polizei, Spitzel in die Regimenter gesteckt, und wieweit die Spitzel den Brand, den sie löschen sollten, vorher noch ein bißchen schürten, wollen wir nicht untersuchen . . . kurz: die zweihundertundfünfzig wurden für schuldig befunden. Sie wurden fortgeführt, durch die Nacht, man sagte ihnen nichts von einem Urteil, nichts von einer Untersuchung, nichts. »Halt.« Halt. »Hinsetzen.« Hinsetzen. Tiefschwarze Nacht . . . »Seht mal grade aus . . . !« Die Begleitmannschaften entweichen im Dunkeln . . . niemand achtet darauf . . . Und dann, von hinten: die Maschinengewehre. Dies sind Söhne französischer Mütter gewesen. Die Mörder auch.

Dann die Geschichte vom Soldaten Olivier Bonnoron, der 1925 als Freiwilliger nach Marokko ging, um dort die Interessen der französischen Kapitalisten zu verteidigen und auszubauen – und der unterwegs auf einem Schiff von einem tropenkollrigen und ewig besoffenen Unteroffizier erschossen wurde. Das kann vorkommen. Und dann kann vorkommen, daß das Kriegsministerium der Mutter des Soldaten einen Brief schreibt, den Barbusse wörtlich abdruckt; eine verlogene Amtsflegelei – mit einer dicken Lüge in der Mitte. »Ein Unglücksfall . . . «

Dieses Kriegsministerium wird von Herrn Paul-Prudent Painlevé geleitet, noch heute, wenn ich nicht irre, irgend eine Art Ehrenpräsident der französischen Liga für Menschenrechte. Man kann ihr zu diesem Mitglied nur gratulieren. (»Que voulez-vous! Il faut être en bons termes avec l'administra-a-ation!« Ja, ich weiß.)

Zweites Kapitel. ›Der weiße Terror‹. Hier wird einem schlecht.

Barbusse, der in seiner Broschüre ›Was man aus Georgien gemacht hat‹ (ebenfalls im Neuen Deutschen Verlag) diesen Balkan-Terror ausführlich geschildert hat, gibt hier Proben. Der Rumäne Boujor, den die Rumänen eingesperrt haben, sechs Jahre lang im Halbdunkel, sechs Jahre lang zum Schweigen verurteilt, ohne Bücher, ohne Kameraden, ohne die geringste Zerstreuung, sechs Jahre. Eine Genossin, die sich als seine Geliebte ausgab, um ihn zu sehen, hat ihn gesehen. Seine erste Frage war: »Sind die Bolschewisten noch an der Macht?« Die Frau wurde gleich von der Türe gerissen. Sechs Jahre . . .

Die Geschichte, in der die rumänischen Emigranten die Arten der [253] gebräuchlichen Polizei-Foltern aufzählen – man mag das nicht abschreiben, lest es selbst. Doch, lest es – es ist lehrreich, oh, so lehrreich! Es sind gradezu raffinierte Martern dabei, seelische . . . mit asiatischer Grausamkeit ausgedacht . . . es ist ganz grauenhaft. Bewußte Übertragung von Typhus auf Gefangene ist noch eine der mildesten.

Wundert es einen, daß der König – der verstorbene Ferdinand von Rumänien – dieselbe Peitsche geschwungen hat? Es wird dort die Geschichte erzählt, wie er den Ehemann seiner Freundin, als der Krach machte, von zwei ›Geheimen‹ auf die Erde werfen ließ; dann trat er ganz langsam auf den keuchenden Wehrlosen zu und zerdrückte die Spitze seiner brennenden Zigarre auf der Nase des Brüllenden. Es ist immerhin ein geistreicher Einfall.

So der König. Ich habe es nicht gern, wenn man über ein ganzes Volk herfällt – die Grenzen unter den Menschen laufen ja nicht so, wie dieses geistesverwirrte Europa sie auf der Landkarte gezogen hat . . . sie laufen anders: quer durch die Nationen. Aber wenn man von dem unterdrückten bäurischen Proletariat Rumäniens absieht, dann darf man, und besonders aus eigner Anschauung, sagen: die Bürger, die Advokaten, die falsch französierten Beamten, die da in den Städten Rumäniens herumregieren: das ist wohl der letzte Dreck dieses Kontinents. Solche Verkommenheit mag man sich noch einmal suchen. Ich weiß nicht, wo das Haupt Europas sitzt; aber welcher Körperteil an diesem Organismus die herrschende Klasse Rumäniens ist, das weiß ich ganz genau.

Drittes Kapitel: ›Et le Reste‹. Darunter einer der erschütterndsten Abschnitte – noch viel stärker als bei Zola –: über die Minenpferde in französischen Bergwerken. Da arbeiten Tausende und Tausende von Pferden unter Tag, bis zum Verrecken, unter den elendsten Bedingungen; ihre Hufe verfaulen, die Augen sind ausgelaufen, blind, lahm geprügelt, fast ohne Pflege, nie einen Strahl Licht . . . Produktion! Produktion! Das Herz krampft sich einem zusammen. Und das ist heute noch so.


Und warum ist das alles so? Die Sache ist mit dem Marxismus nicht erklärt; hier steckt eine gewaltige Unterlassungssünde im Denken der Kommunisten. Hier ist noch etwas andres.

»Ich sah«, erzählt bei Barbusse ein ungarischer Flüchtling, »diesen ungarischen Edelmann, immer ruhig, immer aufrecht, und eines Tages kam er an mir vorüber, er wurde zum Untersuchungsrichter geführt, und durch die Türen konnte man alles hören – ich mußte im Vorzimmer warten, bis ich dran war. Und weil er nicht lügen wollte, weil er keine ›Verschwörung‹ gestehen wollte, keine Namen nennen, nichts, weil er nicht einmal sprechen wollte – da brachten sie ihn eben zum Schreien. Wir hörten die Säbelscheiden durch die Luft pfeifen und auf seinem[254] Körper aufschlagen . . . und dann wurde es auf einmal ganz still (un brusque silence pendant lequel se faisait un travail qu'on n'entendait pas) – dann wurde es auf einmal ganz still; was sie nun machten, konnte man nicht hören. Und dann: ein entsetzlicher Schrei. Die Tür öffnete sich, schwere Stiefel polterten, dann wurde er herausgebracht. Noch vor einer halben Stunde war er so kerzengrade dahergegangen, jetzt lag er, zusammengeschrumpft, auf einer Bahre; er, der nicht hatte sprechen wollen, heulte; der Speichel rann ihm aus dem Mund. Um den Hosenbund war alles aufgerissen, sein Leib lag da nackt, und unten klaffte ein großes, rotes Loch . . . Der Beamte, der ihm die Hoden herausgeschnitten hatte, hatte das mit einem rostigen Messer besorgt, wie er sich nachher rühmte . . . ›Ich hatte so eine schwere Hand an dem Tag‹, sagte er.«

Was ist das –?

Hier, in dieser Pause, während der etwas getan wurde, was man draußen nicht hörte und was den Herzschlag des Zuhörenden in wildes Klopfen brachte: in dieser Pause ist es ganz. Es ist der tiefe Grausamkeitsdrang des Menschen, der einen gesetzlichen Ablauf findet. Diese rumänischen Beamten werden niemals einen Lustmord verüben. Sie haben das nicht mehr nötig.

Die Möglichkeit, schrankenlos und verantwortungslos Böses zu tun, steigert den vorhandenen Trieb – aber zu unterst ist er in allen. Er manifestiert sich auf zweierlei Weise: sie wollen leiden oder leiden machen, das sind Korrelate, die sich ergänzen. Es beginnt mit dem legalen und natürlichen sozialen Geltungsdrang, der in jedem Männchen, in jedem Menschen ist – die zuschauende Öffentlichkeit ist seine Geliebte, vor der der Pfau sein Rad schlägt. Unter anderm getrieben von diesem Motiv, tun sie viel Gutes und Nützliches. Steigert sich das aber, dann rühren sich die Tiefen und geraten in gärende Bewegung – Wollust, Wille zur Macht und der Trieb, zu quälen, kommen durcheinander; plakatiert wird das als: Patriotismus, die Nation muß leben, der Klassenkampf, die Ordnung muß wiederhergestellt werden, und was man so trägt. Aber hier sitzt es; hier ist der blutige Quell dieser kollektiven Raserei. Und was masturbierende Sadisten sich ohnmächtig stöhnend in stiller Stube ausdenken, das, was sie tun möchten, wenn sie nur die Kupplerin und die Straflosigkeit bezahlen könnten: hier ist es herrliche Wirklichkeit. Hier ist: Verantwortungslosigkeit des Beamten, der ja in Wirklichkeit nie eine trägt; Straflosigkeit; Verschwiegenheit – und dazu noch die Gloriole sozialer Nützlichkeit. Hier ist alles. Wehe den kleinen Mädchen, den kleinen Jungen, den einsam auf den Feldern wandernden Schnitterinnen, wenn der Staat diesen legalen Ablauf nicht hätte: Polizei, Zuchthausbeamte und den Krieg. Hier werden Verbrechen begangen, die keine sind. Die es sind.

Dieses fürchterliche Buch ist in einem glasklaren, meisterhaften [255] Französisch geschrieben: eine Niederdruckdampfmaschine, fast nirgends entweicht zischend die Empörung über die Untaten, ganz ruhig ist das erzählt, Grad auf Grad wird im Druckmesser des Lesers aufgespeichert, solcherart wertvolle Energien aufstauend – und während ich es lese, habe ich fortwährend einen Klang im Ohr. Es ist der Klang einer Stimme: eines Negers.

Und wenn Sie das Buch von Barbusse ganz verstehen wollen, dann kaufen Sie sich die Grammophonplatte Columbia Nummer 14180 D.›Lord, help me!‹ heißt sie. Da betet der schwarze Reverend Herr J. C. Burnett zu seinem Gott. Das hören Sie sich an.

Es ist kein Kunstgenuß – es ist ganz, ganz etwas andres. Er psalmodiert; er wiegt sich in diesen monotonen Tönen, um die Gemeinde in den gewünschten Massenrausch zu versetzen – das sind uralte Mittel. Er steigert sich – er brüllt – er kreischt; zwei plärrende Frauenstimmen sekundieren. »I will tell you my sins!« Aber es ist kein Bußfertiger, der da zum Himmel schreit. Das, was Sie hören, klingt, als ob ein Mensch geschlachtet werden soll – und das soll er auch, wenn auch nur geistig. In diesen quetschenden Kopftönen erkennen Sie das ewige Schlachtfest der Menschen: es heult aus dem zivilisierten amerikanischen Bürger der Urahne heraus, der am Niger die Menschen geopfert hat; die Gongs polterten dazwischen – pom – pom – pom –, und um das Feuer tanzten die Vorfahren dieses Reverends und schrien und brüllten und warfen Arme und Beine nach streng bewegtem Rhythmus in die Luft, sich steigernd zur herrlichen Mordlust: der da, der Geschnürte, der Feind – er soll langsam getötet, gebraten, zerstückelt und gefressen werden, auf daß man sich seine Kraft einverleibe. Und auch darum, weil dies, nach der Zeugung, das Schönste ist, das es auf Erden gibt: den Mitmenschen leiden zu machen. »Lord, help me!« Amen.


Selbstverständlich kommen in zivilisierten Ländern derartige Schreckenstaten nicht vor.


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TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1929. Henri Barbusse und die Platte 'Lord help me -!'. Henri Barbusse und die Platte 'Lord help me -!'. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-654C-A