Die Wanzen

Die Wanzen saßen oben an der Tapetenborte und ärgerten sich, daß es Tag war, ein strahlender, heller Tag. Der konnte noch lange dauern, und so berieten sie inzwischen, bis die liebe, dunkle, graue Nacht herankam, was sie nachts zu tun gedachten. Ab und zu kroch eine an den Rand der Borte, hinter der sie saßen, und sah auf das weiße Bett herunter, das da unten stand. Sie wußten, daß ein dickes, also liebes Mädchen in diesem Bette nächtigte. Von ihr sprachen sie jetzt.

»Ich«, sagte die älteste Wanze, »krieche ihr auf dem Kopf herum und sauge ihr das Blut aus den Schläfen. Hinter den Schläfen sitzt der Verstand, und ich bin eine gebildete Wanze. Ich glaube, ich werde mit jedem Tag klüger. Das machen die klugen Gedanken der Menschin da unten. Ich bin eine politische Wanze.«

»Ich«, sagte die zweite Wanze, »halte mich mehr an die fleischigen Partien. Das macht mich fett, ich bin die fetteste von euch allen. Handel und Wandel müssen sein – ich sauge ihr das Blut aus den Adern, sie hat ja genug. Ich bin eine ökonomische Wanze.«

»Ich«, sagte die dritte Wanze, »laufe hierhin und dorthin, wenn ich da unten bin. Ich brauche nicht viel zum Fressen, ich fühle mich wohl, wenn ich da herumkriechen kann, und ich sehe alles und kümmere mich um alles. Ihr schlagt euch die Leiber dick, ich aber bin über alles orientiert, was an diesem Mädchen vor sich geht. Ich bin eine lokale Wanze.«

»Ich«, sagte die vierte Wanze, »fresse überhaupt nichts. Ich genieße nur den Anblick der gelösten Mädchenglieder, wie sie so im Schlaf daliegen und herrlich für meine Künstleraugen anzuschauen sind. Ich bin eine ästhetische Wanze.«

»Und wohin kriechst du?« wurde die letzte der Wanzen gefragt. [73] »Ich . . . « sagte die kleine Wanze . . . »Pfui!« machten die andern Wanzen.

Und so saßen sie und unterhielten sich und rührten die Fühler und bewegten die platten Leiber. Und da sprach die älteste unter ihnen:

»Kinder!« sagte sie, »der Tag ist noch so lang, und wir haben nichts zu tun, aber wir haben jede unser Programm. Gründen wir doch eine Zeitung!«

Und also geschah es, und wenn Wanzen so vom Schriftsteller mißbraucht werden, nennt man das eine Allegorie.


Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1919. Die Wanzen. Die Wanzen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-6574-0