Später

Eine Eiche überschattet mich; wenn sie wüßte, wer ich bin, täte sie es sicherlich nicht, aber es ist eine schwedische Eiche, also ist sie nicht organisiert . . . die Hummeln besuchen die Blumenbüros, trinken in jeder Blüte einen kleinen Schnaps und machen ein ungeheuerliches Gesumm . . . wenn sie nachher nach Hause kommen, werden sie wahrscheinlich erzählen, wie furchtbar sie an diesem Mittag-Morgen zu tun gehabt haben . . . die Zigarre setzt schöne, weiße Asche an. Das macht immer sehr nachdenklich; so nach Tisch hat man die vernünftigsten und unfruchtbarsten Gedanken.

Da erzählt uns Emil Ludwig von Bismarck, wie er sich in Göttingen als Student und in Berlin als Auskultator und in Aachen als Regierungsreferendar – nein, in allen drei Städten als Mann heiter durch die Gegend geliebt hat. (Da diese Zeitschrift in Deutschland erscheint, muß ich hinzusetzen: »Bravo! Hurra! Nochmal lieben!«) Bismarck war damals um die Zwanzig.

Das geht uns gar nichts an. Aber nun war da im Jahre 1870 sein großer Tag, das Werk seines Lebens stand aufgebaut, sein Name ging über die Welt. Die kleinen Damen, die er damals geliebt hat, waren um diese historische Zeitenwende etwa Mitte Fünfzig, soweit sie noch lebten. Wenn sie, was zu hoffen steht, nicht untergegangen waren, so hatten sie vielleicht geheiratet oder waren ältere Fräulein geblieben . . . Und nun lasen sie seinen Namen in der Zeitung, sahen sein Bild, überall . . . was denken sich Frauen in solchen Augenblicken –?

Otto . . . Blicken sie träumerisch in den Kamin? Wenn sie aber keinen haben: schreiben sie einen Brief? Nicht anzunehmen, wenn der Klassenunterschied schon in Aachen bestand, und um wieviel ist er nun gewachsen! Was denken sie? Denken sie an Einzelheiten? sind sie [137] stolz? Lesen sie: » . . . in den erblichen Fürstenstand erhoben . . . «, und denken sie: er hatte solche geringelten Socken an, die mochte ich immer so gern . . . was denken sie –?

Das werden wir nie wissen. Sie denken auch nicht den hundertsten Teil dessen, was ein Mann denkt, sie dächten es – und der hundertste Teil sieht auch noch ganz anders aus. Jetzt läßt sich von der unorganisierten Eiche eine Made an einem Faden herunter und will sich auf die Zigarre setzen – die Hummeln – Bismarck – »Typisch zersetzender Gedanke! Kulturbolschewismus! Am Heros nur die irdischen Leidenschaften sehen . . . Bismarck als Mensch . . . ihm eben der reine Gedankenflug versagt . . . klassenbewußte Arbeiter sieht, daß der Adlige die Mädchen des unterdrückten Volkes aussaugt . . . vom theosophischen Standpunkt . . . schon vom rein sportlichen Standpunkt . . . zersetzender berliner Geist . . . Kulturbolschewismus dieser Epoche . . . « Antenne geerdet, aus.

Was mögen sie aber wirklich gedacht haben –?


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TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1929. Später. Später. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-6731-5