Dr. Dolittle und seine Tiere

Die Geschichte des Kinderbuches ist – von wenigen Ausnahmen abgesehen – eine Geschichte der Enttäuschungen und der Kindereien. Schon Karl der Große . . . (folgen acht Spalten über die Geschichte des deutschen Kinderbuches. Der Leser überschlägt sie mit Recht. Darauf:) ›Dr. Dolittle und seine Tiere‹ von Hugh Lofting aber ist ein gutes Kinderbuch – auch für Erwachsene.

[279] Wenn ein Buch Tiere sprechen läßt, so gibt es dafür nur ein Kriterium: ob mans glaubt. Diesem Dolittle-Bericht glaubt man nach der zweiten Seite alles – es ›hat‹ den Leser sofort, und selbstverständlich sprechen Dab-Dab, die Ente, Jip, der Hund, Göb-Göb, das Ferkel, Polynesia, der Papagei, und die Eule Tuh-Tuh. Sie sind bei dem Doktor Dolittle, dem kleinen Landarzt, in Behandlung, es ist so eine Art Tier-Sanatorium, das sich der Mann da aufgebaut hat, und langsam verscheucht er sich die menschliche Kundschaft. Und als er nun nichts mehr zu essen hat, ernähren ihn die Tiere, und sein Ruf breitet sich aus, und die Affen aus Afrika rufen ihn, denn sie haben die große Affenkrankheit, und er zieht mit seinen Tieren dorthin, erlebt, was es zu erleben gibt, und kehrt wieder heim. Eine ganze kleine Welt von Güte ist in diesem Buch.

Um nicht mißverstanden zu werden:

Wir werden in letzter Zeit mit Tierbüchern etwas reichlich versorgt. Jeder Verlag, der etwas auf sich hält, hat mindestens einen Norweger oder Amerikaner oder Australier, der ihm einen rührenden Roman über das Seelenleben der Rentiere, über die Hochzeitsfeierlichkeiten bei den Küchenschwaben liefert – und je übler es auf der Welt zugeht, desto bereitwilliger flüchtet sich das deutsche Gemüt in die Tierbücher. Es ist eine so schöne Ablenkung . . . Der geniale Kipling hat die Tür aufgemacht, und nun wimmelt das nur so von Tierbüchern. Sieht man von den wenigsten guten ab, so bleibt eine literarische Mode – und je anthropomorpher sie sind, desto besser ziehen sie. Ein Fall des Übels geht auf Konto des maßlos überschätzten Hermann Löns – aber die andern sind auch nicht viel schöner. Also so ist das hier nicht.

Das macht: Herr Lofting hat Herz und ist ein Dichter. Ich kenne nur die deutsche Ausgabe, die mir von E. L. Schiffer meisterhaft übersetzt zu sein scheint, weil sie einen einheitlichen Stil hat, weil sie die Andersen-Töne auf das glücklichste vermeidet, und weil man ihr Wort für Wort glaubt, weils wahr ist, was da steht – weil die Tiere natürlich so und nicht anders sprechen. Alles ist so selbstverständlich.

»Der Papagei Polynesia saß im Fenster, sah dem Regen zu und sang ein Matrosenlied vor sich hin.« Es ist das Jungenhafte im Engländer, das diesen Humor so bunt und farbig macht – in dem ganzen Buch ist kein Witz, aber alles strahlt vor Humor, Ob den Kinder empfinden, ist fraglich – Kinder haben keinen Humor. Sie werden sich an die tausend und eine Einzelheit halten, von denen eine immer schöner ist als die andere – an das, was geschieht, und daran, wie es geschieht.

Es wird beraten, was auf das Afrika-Schiff mitgenommen werden soll. »Eine Glocke brauchst du«, sagte der Papagei. »Warum?« fragte der Doktor. »Um die Zeit zu messen«, sagte der Papagei. »Du läutest sie jede halbe Stunde, und dann weißt du, wie spät es ist.« Das ist ganz logisch. Bemerkenswert scheint mir ferner, wie dieser kluge Papagei[280] – dem Namen nach ist es ja eine Mamagei – immer hinterher sagt, wie das, was soeben geschehen ist, heißt. »Das nennt man einen Trick«, sagt sie nach einem gut geglückten Streich. Und: »Das nennt man einen blinden Passagier« sagt sie. Sie ordnet alles ein. Und wenn die Tiere nicht sprechen, spricht der Autor – so still und ruhig, wie der englische Humor oft geartet ist, spricht auch er. Vor der Abreise hatten die Mäuse in der Schreibtischschublade gewohnt – denn wo sollten sie sonst wohnen! Als er zurückkommt, bringt er alles in Ordnung. »Er kaufte ein neues Klavier für die weißen Mäuse – denn sie sagten, daß es in der Schreibtischschublade zöge.«

So ist das. Und an einer Stelle erhebt sich die leise Prosa zu dichterischer Höhe – als Jip, der Hund, auf dem Verdeck des Meerschiffs liegt und wittert, wo der verlorene Onkel wohl sein könnte. (Es ist da ein Onkel verloren gegangen.) Er stellt sich hin, zieht die Luft ein und analysiert. Dabei murmelt er: »Teer, spanische Zwiebeln, Petroleum, nasse Regenmäntel, zerquetschte Lorbeerblätter, brennender Gummi, Spitzengardinen, die gewaschen werden – nein, ich irre mich, Spitzengardinen, die zum Trocknen aufgehängt worden sind, und Füchse – zu Hunderten – junge Füchse – und –« Eine Welt, durch das Nasenauge des Hundes gesehen. »Ziegelsteine«, flüsterte er ganz leise, »alte gelbe Ziegel, die vor Alter in einer Gartenmauer zerbröckeln; der süße Geruch von jungen Kühen, die in einem Gebirgsbach stehen; das Bleidach eines Taubenschlages – oder vielleicht eines Kornbodens – mit daraufliegender Mittagssonne, schwarze Glacéhandschuhe in einer Schreibtischschublade aus Walnußholz; eine staubige Straße mit Trögen unter Platanen zum Pferdetränken; kleine Pilze, die durch verfaultes Laub hindurchbrechen; und – und – und –« Das ist nicht gemacht – das ist gefühlt.

In dem Buch (das im Verlag Williams u. Co., Berlin-Charlottenburg, erschienen ist) sind viele Zeichnungen, und die hat der Verfasser selbst gemacht. Es ist ein ganz merkwürdiger Illustrationsstil, es sind nur die Sachen gezeichnet, die im Text vorkommen – manches, wie zum Beispiel das kleine Blatt auf Seite 34 »Und eines Abends, als der Doktor in seinem Stuhl eingeschlafen war«, könnte geradenweges aus einem alten Kinderbuch stammen, und das ist ein Kompliment. Auch in diesen Zeichnungen ist die Beobachterfreude: Güte. Woher rührt sie?

Der Verfasser hat diese kleinen Märchen als Brieferzählungen seinen Kindern nach Hause geschrieben – denn er war nicht zu Hause. Er war an der Front, da, wo geschlachtet wurde. Und es war wohl die letzte Ecke, in die damals das Gefühl eines anständigen Menschen flüchten konnte: in die Natur – im tiefen Bewußtsein, daß gegenseitige Hilfe ein ebenso primärer Zug in dieser Natur ist wie der Drang, den Nachbarn aufzufressen. Und so entstand dieses Buch in seiner fast biblischen Einfachheit und Herzlichkeit.

[281] Ich sah Lofting in Paris, in einer stillen Abendstunde. Er zündete die kleine Lampe in dem großen kahlen Atelierraum an, in dem er gerade an einem neuen Dolittle arbeitete – es sind in England und Amerika noch viele Dolittle-Bände desselben Autors verbreitet –, er sprach leise und war freundlich. Und es ist wohl seinem Wesen gemäß, wenn er diesen Satz »Wie ich dazu kam, den Dr. Dolittle zu schreiben« gesetzt hat: »Etwas aber erzwang sich mehr und mehr meine Aufmerksamkeit: die Rolle der Tiere im Weltkrieg, wo sie gleich den Menschen mit der Zeit Fatalisten zu werden schienen . . . Aber ihr Schicksal war anders als das der Menschen.«

Ja, es war anders, Hugh Lofting. Es war noch schwerer. Doch war es auch wiederum gleich: beide wurden von ihren Besitzern in den qualvollen Tod geschickt, sie verstanden den Schmerz nicht und ihr verlöschendes Auge fragte: Warum? Sie setzen hinzu, Hugh Lofting, was die Qual der Tiere betrifft: »Das schien mir nicht ganz gerecht zu sein.« Nein, ganz gerecht war es nicht. Es war die größte Schmutzerei der Menschheit.

Dolittles Tiere aber sollten viele Kinder erfreuen.


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TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1925. Dr. Dolittle und seine Tiere. Dr. Dolittle und seine Tiere. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-6739-6