In des Waldes tiefsten Gründen

Seinem lieben Offenbach gewidmet


»Ich geh jetzt morden«, sagte der Räuberhauptmann Nickel Kernbeißer und zog den Lederkoller fester. Warf das gute, alte Schießgewehr über die Schulter, steckte die Trichterpistolen in den Gürtel, den Räubererlaubnisschein ins Wams – »Velleda, mein Weib, leb wohl! Mich siehst nimmer!« – »Aber zum Nachmittagskaffee bist du doch wieder da?« entgegnete die Hausfrau treuherzig, indem sie sich mit einem kräftigen Armschwung die Nase putzte. »Stell ihn warm, wenn ich nicht zur Zeit zurück bin«, sprach Nickel düster. Und schritt fürbaß.

Die Männer des Dorfes hatten sich schon an der großen Eiche versammelt. Als Nickel sich näherte, standen sie stramm. »Guten Morgen, meine Herren!« sagte der Hauptmann, »heute gilts! Die Post kömmt um 4 Uhr 40 durch den Auchenauer Wald; mein Brudersohn, der Postillon, berichtet von drei gutsituierten Fahrgästen. Meine Herren! Das vorige Mal sind leider Ausschreitungen vorgekommen, die doch im Interesse unseres Standesansehens besser vermieden werden, nicht wahr? Ich bitte also, alles unnötige Lärmen zu unterlassen. Das wird ein heißer Nachmittag! Munition nehmts mit und ein Kartenspiel für den Waldesschatten.« Und unter Absingung des Liedes: ›Zieh hinab ins stille, stille Tal‹ setzten sie sich in Bewegung, in den Wald hinein.


Die Zweige schlagen über ihnen zusammen. Es ist ein sehr dichter Wald, und man sieht nur hier und da durch die Bäume ein kleines Stückchen blauen Himmels. Viele moosige Wege laufen an Gestrüpp und Baumstrünken vorbei, auf das Räuberdorf zu. Dort ist man unterdessen nicht müßig. »Julchen«, sagt die Gattin des Räuberhauptmanns, »geh üben, mein Kind! Du kannst deinen Kullack noch nicht. Wenn der Herr Mellini zur Stunde kommt, wird er schelten!« Und Julchen geht üben, und durch den Frieden des stillen Dorfes perlen die süßen Töne der F-Dur-Sonatine Satz 1-4, Opus 63.

Derweilen schafft die Frau im Haus: sie putzt die Türschlösser, sie besprengt die Topfblumen am Fenster, sie staubt die Mordwaffen ab, sie frischt die grauslichen Blutflecken auf der Schwelle ein bißchen auf, daß sie nur so blinken. Sie ist tätig. Eine gute Frau und Mutter! »Adelgunde«, spricht sie zur Jüngsten, »lauf einmal hinüber zu Frau Räuber Voß und frag, ob sie uns ein wenig Milch ausleihen kann! Der Milchmann ist heut ausgeblieben.« Das folgsame Kind geht durch das Dorf, den schweren irdenen Topf in Händen haltend, und seine Augen sind überall. Es plaudert mit den Frauen, die auf den Bänken vor ihren Häuschen sitzen, es grüßt den alten Räubervater, der heute [203] seinen längsten Umhängebart angelegt hat und brummelnd dankt. Und holt schließlich bei Vossens seine Milch und macht sich auf den Heimweg. Unterwegs bleibts ein bißchen vor der Schule stehen und hört zu, wie die Klassen im Chor Gedichte aufsagen. Jede Silbe ist deutlich zu hören.

»Mor-den – und – Steh-len
ist – un-se-re – Lust . . . «

Dann hüpfts nach Haus.


Aber nun ist Mittag, und die schwere brütende Hitze lagert über dem Walddorf. Stille. Da rascheln Schritte im sandigen Laub des Weges. Es ist der Geldbriefträger. Er will zu Mausche Maynzer & Feibisch Pollack Räuber en gros. Haben sich selbständig gemacht; ein feines Haus! Der Briefbote geht durch den niedrigen Flur zum Büro, gleich rechter Hand. Er klopft. »Herein! In Gottes Namen!« sagt jemand. Er tritt ein. Niemand ist im Zimmer. »Hier ist«, sagt er in die leere Stube, »ein Lösegeldbrief für Herrn Pollack, genannt der edle Jude!«–Nichts. Nur die alte Küchenuhr tickt pick, pack, pick, pack . . . »Heda!« Dem Boten wirds unheimlich. Da rührt sich wer hinterm Ofen. »Mei Sohn is nischt do«, sagt eine ganz, ganz alte Stimme, verrostet und brüchig, – so alt ist sie. »Legts derweil aufn Tisch!« – »Oha!« sagt der Briefträger, »persönlich soll es sein, persönlich!« – »Nu, ich bin so gut wie persönlich«, sagt die alte Stimme wieder. »Ich bin der Vater von den edeln Juden!« – »Nein, nein!« Der Pflichttreue weigert sich. Persönlich muß es sein, sonst gibt er ihn nicht her. »Dann sagt mir wenigstens«, bittet der unsichtbare Greis, »von wemmenen er kümmt!« Der Beamte sagts. Von Petersen aus Hamburg. »Zahlt der auch einmal wieder, sieh! sieh!«brummelt die Stimme am Ofen befriedigt. »Kommt am Abend noch einmal, da werd der edle Pollack junior schon do sein!« Der andere stapft schwer hinaus, und wieder pickt die Küchenuhr die Stille auf, und der Alte druselt langsam wieder ein . . .

Um sechs Uhr nahen die Männer. Sie haben mitgebracht: Herrn Oberlehrer Kurlbaum aus Bielefeld, Herrn J. J. Steenstrop aus Stockholm, einen himmellangen blonden Schweden, und Miss Lapsley aus London W. Die Gefangenen sind gefesselt. Miss Lapsley weint. Das Dorf tobt. Die Kinder bilden Spalier und machen einen Heidenspektakel. Da dreht sich Oberlehrer Kurlbaum um und spricht vernehmlich: »Was gibt es hier zu lachen?« – Crescendo. Die Frauen nehmen den rauhen Männern Rüstzeug und Waffen ab, laben sie und heißen sie sich waschen.

Hauptmann Kernbeißer führt die Gefangenen ins ›Verließ‹. Das ist ein dicker runder Turm im Salatgarten, der an der Dienstwohnung Nickels liegt. Unten am Eingang ein kleines Porzellanschild:

[204] VERLIESS

Dieser Ort darf nicht verunreinigt werden.


Und ein messingener Klingelgriff. An dem zieht Nickel. Pantoffeln schlurfen im Innern, ein Wärter nimmt den Zug in Empfang. Oben, auf dem Turm, krächzen die Raben, wie sichs gehört. Man klettert eine knarrende Wendeltreppe empor. Eine schwere Bohlentür öffnet sich. Die drei taumeln in einen hellen, freundlichen Raum mit weißen Gardinen und Blumen am Fenster. »Wenn wer was will, mag er rufen«, sagt Nickel. Der Schwede bleibt stumm. Miss Lapsley hebt beschwörend die Hände: »Hier allein mit zwei Männern!« Und nur der Herr Oberlehrer Kurlbaum sagt: »Zuvörderst, guter Mann, scheint es mir doch nötig zu sein, daß Ihr unsere Personalien . . . « – »Halts Maul!« sagt der Räuber und zieht die Tür zu. Dann geht er Kaffee trinken.

In zweiundvierzig Hütten erzählen vierundachtzig bärtige Lippen aufhorchenden Weibern und Kindern dasselbe Abenteuer: wie sie der Post aufgelauert haben, wie die dröhnende Stimme des Hauptmanns »Halt!« rief, wie sich dann die Pferde gebäumt haben, die der Postillon erschreckt zurückriß, wie die zitternden Reisenden dem Wagen entstiegen . . . Und sie berichten und knastern, und der Pfeifenrauch des guten Räubertabaks 002 von J. A. Rebenstock (Erfurt, Räuberbedarfsartikel en détail, Lieferung im verschlossenen Kuvert ohne Firmenaufdruck) hängt wolkig in den niedrigen Zimmern, daß die Hausfrauen scheltend die Fenster öffnen müssen . . . Und dann ist es Abend, und die Räuber versammeln sich in der Alten Räuberhöhle (Besitzer Hannes Heckmann) zur Singprobe. Und aus vierzig Kehlen schallt:

»Ein freies Leben führen wir,
ein Leben voller Wonne!«

Da öffnet sich die Tür: es ist Fetzer, der sich verspätet hat. Der Dirigent klopft ab: »Herr Fetzer, wenn Sie noch einmal zu spät kommen, zahlen Sie fünfzig Pfennig in die Kasse!« – Und wieder erdröhnt der Chorus der kräftigen Bässe und Räubertenöre.

Einer fehlt: Nickel Kernbeißer. Er hat sich entschuldigen lassen. In seiner Wohnung, auf dem Gang, lärmen die Kinder. »Pscht!« tadelt Mama Kernbeißer, »wollt ihr wohl stille sein! Vater erpreßt Lösegeld!« Der Hauptmann schreitet im Büro auf und ab und diktiert seiner Sekretärin die nötigen Briefe an die Angehörigen der Gefangenen. Man hat Adressen bei ihnen gefunden; Oberlehrer Kurlbaum hat freiwillig sein Nationale hergesagt . . . »und werden wir gegebenenfalls nicht davor zurückscheuen, Hand an Ihren Herrn Sohn zu legen – haben Sie ›legen‹?« Und die Maschine schnattert, und der Räuber Kernbeißer droht der alten Frau Kurlbaum, ihr Sprößling werde gerädert, wofern sie nicht . . . »Wofern Sie nicht, sehr verehrte gnädige [205] Frau, bis zum 14. ds. Mk 450, – (in Worten vierhundertundfünfzig Mark) benebst 3% Provision in der hohlen Linde unweit der Chaussee am Kaiserquell niederlegen lassen!« Und nachdem er unter die Briefe den Stempel mit dem Totenkopf abgedrückt hat, begibt er sich zu den Gefangenen.

Auf dem Gang zieht er die Schuhe aus. Schleicht an die Tür und lauscht. »Es tut mir leid, verehrtes Fräulein«, hört er den Oberlehrer sagen, »daß unser junger Kollege Matthießen nicht hier ist. Er beherrscht die englische Sprache in weit vollendeterem Maße als ich. Schade! schade!« – Dann hört er die Miss seufzen, und dann sagt der Oberlehrer wieder: »Riechen Sie nur, mein Fräulein, und auch Sie, Herr Steenstrop, die herrlich würzige Waldluft. Ich denke, der Aufenthalt hier wird uns guttun.« Und jemand holt tief Atem. Da tritt Kernbeißer ein. »Wie ist das mit dem Lösegeld?« Betretenes Schweigen. »Wers nicht zahlt«, sagt der Hauptmann, »wird gehängt, gerädert, was weiß ich!« Die Miss fällt auf einen Stuhl und in Ohnmacht; der Schwede tut zum zweiten Mal im Gang der Ereignisse den Mund auf. Er sagt ein kurzes, knarrendes Wort, das niemand versteht; er hats schon einmal gesagt, vorhin, als man ihn aus der Kutsche holte. Hingegen Kurlbaum: »Ich kann nicht umhin, sagen zu müssen, daß meine vorgesetzte Behörde wohl die nötigen Schritte zu meiner Befreiung ergreifen wird. Es dürfte sich empfehlen, sich vielleicht diesbezüglich an dieselbe zu wenden.« Der Räuberhauptmann lacht höhnisch. Er weiß, wenns nach denen ginge, säßen noch alle Oberlehrer hier, die er je gefangen. Nein, da werden die alten Mütterchen benachrichtigt, das hat noch immer gezogen. Oh, er kennt sein Metier, der Hauptmann Kernbeißer! Nicht umsonst grüßt von der Wand das Räuberdiplom von der großen Ausstellung zu Bern 1829. »Für Räuberei und verwandte Tätigkeiten dem hochverdienten N. Kernbeißer.« Er warf noch einen finstern Blick auf die Opfer und ging. Und kaum war er heraus, so stellte sich Kurlbaum hinter einen Stuhl und begann: »Aufgemerkt, nun eben also . . . Die Räuber zerfallen in drei Klassen. Erstens in die . . . « Im Salatgarten steht groß und gelblich der Mond; aus dem blauen Dunkel ertönen Stimmen; »Eichel sticht«, sagt einer; Karten klatschen, und die Grillen zirpen, als seien sie allein auf der Welt. Gitarren erwachen, weit im Dorf singt eine kleine Frauenstimme ein Lied, und der Herr Oberlehrer zitiert die ›Räuber‹ und den gesamten Schiller. Miss Lapsley spricht in der Ecke ihr Abendchorälchen. Der Schwede sitzt auf einem Stuhl, läßt die langen Arme hängen und schläft.

Abends um halb elf saßen die Räuber um den Stammtisch. Die Briefe waren auf der Post; man schien keinen üblen Fang gemacht zu haben. Sie sangen und lachten. Da aber nahte das Unheil.

Durch die Tür dröhnte der Herr Gendarm herein. Ein kleiner dicker [206] Mann in grüner Uniform, mit einem mächtigen weißen Lederband. Mit barscher Stimme verlangte er am Schanktisch einen Korn. Dann lehnte er sich behaglich an den Schanktisch und sagte: »Meine Herren: die Scheine!« – Herrgott: die Räubererlaubnisscheine! Alle kramten gehorsam in ihren Brieftaschen. Sie wiesen die gestempelten Papiere vor, kraft deren sie im ganzen Herzogtum (bis auf Widerruf) räubern durften. Der Herr Gendarm sah gar nicht hin. Er kippte einen zweiten Korn, stöhnte befriedigt und wischte sich den Schnauzbart. Und merkte erst auf, als der Zundelfrieder, feuerrot im Gesicht, aufstand und stotterte: »Ich . . . ich habe keinen Schein!« – »Ih, sieh mal an!« sagte der Herr Gendarm, »keinen Schein! Und das räubert hier so unbefugt herum! Drei Mark Strafe, mein Lieber! Ohne Schein, es ist ja kaum zu glauben ist es ja kaum –!« Und wandte sich zum Gehen. An der Tür drehte er sich noch einmal zurück. »Die drei Gefangenen von heute nachmittag gelten natürlich nicht. Das war wieder am Buchenplatz. Könnt ihr denn nicht lesen? Da steht groß und breit auf der Tafel: ›An dieser Stelle ist das Räubern verboten.‹ Die Leute sind freizulassen.« Klapp – die Tür war zu.

Die ganze Freude war zum Teufel. Sie wußten es ja alle, daß der Buchenplatz eine richtige Räuberfalle war. Immer stand da so ein verdammter Kerl und paßte einem auf, wenn man mal über die erlaubten Grenzen räuberte. Und die beiden Korns hatte er auch nicht bezahlt.

Gut: man ließ die Gefangenen los. Nickel ging herauf und sagte es ihnen. Und weil schließlich nun doch wieder alle vergnügt wurden – denn der Schwede gab Freipunsch, und die Miss stiftete zwanzig Pfund in die Räuberpensionskasse –, beschloß man, sich fotografieren zu lassen. Kurlbaum war begeistert: er wollte die hoffentlich wohlgelingende Daguerreotypie über sein Bett hängen. Man bildete eine Gruppe. In der Mitte Kernbeißer: die Rechte zierlich und doch kraftvoll auf einen Tisch gestützt, die Linke in der Hüfte, stand er da. Rechts und links um ihn die Räuber. Die vordere Reihe gelagert; einer hielt eine Tafel: »Zur Erinnerung an die mißglückte Räuberei im Juli 1835.« Einer ritt auf einer Tonne. »§ 11« stand darauf. Der Fotograf richtete noch die Köpfe und die Flinten, die etwa über den Rand des Bildes guckten; die Gefangenen wurden im Vordergrund placiert und das bengalische Licht entzündet. Der Oberlehrer räusperte sich und zog die Röllchen fester; der Schwede sagte sein kurzes, knarrendes Wort; als das Blitzlicht aufflammte, sank Miss Lapsley dem Schweden schämig an die Brust, indes sie neckisch zu Nickel herüberfächelte; die Nachtigallen schluchzten, der Mond stand jetzt weiß und klar zwischen den Bäumen, und die grünen und roten Flammen der Streichhölzer färbten die schöne Gruppe zu einem rührenden, deutschen Finale.


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TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1914. In des Waldes tiefsten Gründen. In des Waldes tiefsten Gründen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-67DC-5