Ein schwedischer Sachse

Einmal habe ich in Schweden, in einer südlichen Provinz, ein Ding kennengelernt, das war mir neu.

Es war ein kleiner Mann mit viereckig geschnittenen Borsthaaren, einer Brille und kurzen Hosen, der mir da im Hotel entgegentrat und sehr freundlich sagte: »Ich habe gehört, daß Sie Deutscher sind; ich spreche deutsch.« Ich horchte auf – nein, er sprach nicht deutsch. Dieser Schwede sprach sächsisch. Es war ganz seltsam.

Er sprach nicht nur sächsisch: er sang es, er schleifte die Worte, wie uns Hans Reimann das vergeblich gelehrt hat; er zog und lutschte an der Sprache und hatte auch alle diese kleinen Verlegenheitswörter, die das Sächsische so unendlich kommun machen. Er sagte: »Es blääst che nu hier e galdr Wind«, wobei er das W von ›Wind‹ aussprach wie die Engländer; er tauchte bis auf den tiefsten Flußgrund dieses breiigen Dialektes herunter, und mittendrin konnte es geschehen, daß er plötzlich versagte, dann fehlte ihm ein Wort. Das war nicht gespielt, der Mann war durch und durch echt.

Er war so echt, wie Menschen sonst gar nicht sind – denn niemand ist ja ganz und gar sich selbst ähnlich, aber dieser war es. Er war so:

Er trug immer kurze Hosen, und wenn er auf die Berge stieg, die in dieser Gegend etwa die Höhe eines mittleren Küchenstuhls erreichen, dann legte er einen blauen tiroler Leinen-Kittel an, auch hatte er einen Alpenstock. Der Mann war nicht mehr jung und marschierte ausgezeichnet, er hatte auch weite Reisen gemacht. »Im Chahre 1914, da wolldch eene weide Reise machen, durch kanz Euroba – 's war schon alles vorbereid . . . « Die Vorbereitung paßte so schön zu ihm, wie alles zu ihm paßte:

Er sprach natürlich Esprando, wie er sich auch für ›religiöse Sachen‹ und Naturheilkunde sähr indressierde, und er hatte nun an alle Esperantisten der verschiedensten Länder geschrieben; die sollten ihn auf den Bahnhöfen erwarten, abholen und ihm ein billiges Quartier zuweisen. 's war alles vorbereid, aber Ende Chuli 1914 blieb er an der französischen Grenze stecken . . . da muß etwas dazwischen gekommen sein.

Er bekleidete nicht nur die Stellung eines Buchhalters – er war wirklich einer, er war es durch und durch. Wenn man mit ihm ging, so las er in der Natur wie in einem Hauptbuch, er unterwarf sie sich dadurch, daß er in ihr genau Bescheid wußte, sie konnte ihm nicht entrinnen. El rationalisierte sie, und das bezaubernd Sächsische daran war, daß er Schweinezucht, Wegentfernung und schöne Aussicht gleichermaßen rationalisierte; war im Führer vermerkt, daß dies eine altberühmte historische Stätte sei, so war dies eine altberühmte historische Stätte, und war eine schöne Aussicht vermerkt, dies Ideal aller Kleinbürger, dann blieb er stehn und nahm sie zu sich. Und ging ungerührt weiter.

[226] Ich ließ ihn keinen Tag aus den Augen; wir sprachen viel und unterhielten uns über mancherlei im Leben. Nie habe ich ihn zögern sehen, niemals war er unsicher; mit buchhalterischer Sicherheit hatte er für alles eine Formel, einen Satz, etwas Eingelerntes, das ihm niemals jemand entreißen würde. Kleine Irrtümer berichtigte er sofort, blätterte gewissermaßen zurück und stornierte; er war sehr sparsam, dabei in guten Verhältnissen, er hatte in einer schwedischen Provinzstadt ein eignes kleines Haus, dessen Maße er auswendig wußte.

Er hatte einen Hund, der ihm aufs Wort – verstehn Sie? aufs Word! – gehorchte, und auf der andern Seite hatte er einen Chef. Er lebte außerordentlich rationell, turnte jeden Morgen, badete Luft, und alles, was er machte, war vernünftig, aber es war nur vernünftig, und das hatte etwas Schreckerregendes. Ich wartete darauf, daß er einmal, doch nur ein einziges Mal, etwas Irrationales, etwas ganz und gar Unsinniges tun oder sagen möchte – er tat es nicht.

Bei Tisch saßen wir uns oft gegenüber; er aß, was er sich auf den Teller getan hatte, sorgfältig auf, er hob den Teller schräg an und löffelte noch den letzten Rest Milch in sich hinein, und noch einen Rest, und nun den allerletzten, und ich begriff, daß eine Frau mit Nerven ihn im sechsunddreißigsten Ehejahr deswegen ermorden könnte. Er stand auf und wischte sich den Mund und hatte diese Mahlzeit bestellt, bezahlt, absolviert, und alles war in Ordnung.

Er nahm gern Kleinigkeiten an, liebte es, wenn man für ihn bezahlte – aber er bedankte sich freundlich dafür. Er war gefällig, übersetzte, dolmetschte, erklärte: er war gar kein schlechter Kerl.

Erregt habe ich ihn nur einmal gesehen, da kamen wir auf die Automobile in Schweden zu sprechen, und er sagte: »Ich bin che nu ein Gächner von diese Luxussachn, dieses Rumfahrn – was solln das?« Ich machte eine kleine Einwendung . . . . da brachen aus dem kleinen Mann die Polizei heraus, der geduckte Kleinbürger, der Paragraph und das Reglement, dem sich auch die Reichen beugen sollten . . . . »'s iß näämlich wäjn dr Handelsbilanz, was da de fier Keld ausn Lande rausgähd . . . !« Nie noch bin ich dem Sächsischen so nahe gewesen wie bei ihm.

Er war der Sachse der ganzen Welt, ausgedrückt in einem seltsamen Mischtypus. Er war der Kitt, mit dem das Erdenbauwerk zusammengehalten wird, der Zement der Pflicht. Er war einer von denen, die man einsetzen kann, wo man will; einer von denen, die immer ihren Dienst machen, ohne zu fragen, ob es denn auch ihre Pflicht sei; treue Diener ihrer Herren, ohne die sie traurig verdorrten, Anhänger der bösesten Gesetze, der Kriege, der Todesstrafe; Gegner des Überflüssigen, und wieviel ist nicht überflüssig auf der Welt! von tiefstem Mißtrauen erfüllt gegen den Geist, der Selbstzweck ist; amusisch, aber musikalisch, naturentfremdet, aber tierlieb, begeistert für alles Zivilisatorische, abgeneigt dem Kulturellen, Gabelsbergianer, Mitglieder des [227] freisinnigen Vereins Waldeck, der Bezirksgruppe Süd und eines Vaterlandes. Ewige, ewige Sachsen.

Über die wir nicht spotten sollen, weil auch wir, wenn man uns als Typus schildert, komisch sind, alle miteinander.


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TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1928. Ein schwedischer Sachse. Ein schwedischer Sachse. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-6806-0