Büchner

Der Tonfall von ›Wozzek‹, die Melodie von ›Leonce und Lena‹ ist mir im Fleisch und Blut. Diese starke Wirkung beruht, glaube ich, nicht so sehr auf einer Technik, die zum Teil die Shakespearesche ist, wie auf einer Betrachtungsweise. Der Welt und des Theaters. Das Theater ist bei Büchner, der ein Dramatiker war von Geburt, ein buntes erleuchtetes Loch, vor dem die Zuschauer mit weit aufgerissenen Augen sitzen, die lieben Leute, denen man es doch ein bißchen deutlich machen muß, wie es so im Leben zugeht. Im Leben? Nun, jedenfalls in dem, das Büchner sich zurechtgelegt hatte. Der Rahmen war immer der gleiche: mochten das zarte Pastellprinzessinnen sein oder besoffene Hofmeister, arme Soldaten oder gelehrte Ärzte mit Knopfstock und lateinischen Floskeln – immer wurde das Typische gegeben. Und mehr als das: ein bißchen Ironie. Ein bißchen – eben ein bißchen Theater. Die Rede allein macht es nicht, wenn nicht die Gegenrede dazu kommt. Der erste weiß schon immer, was der andere sagen wird: sie reichen sich gegenseitig das Stichwort zu, werfen es hin und her und spielen mehr mit der Sprache, als daß sie sie sprechen. Von den Wortspielen wissen alle Beteiligten, daß sie eigentlich nur zum Spaß angebracht sind – so, damit sich die Spieler und das Publikum unterhalten.

Aber manchmal, da geht dann doch das Blut und das Tempo mit ihm durch. Im ›Wozzek‹ sind so ein paar Stellen, etwa: wie sie dem Kind mitteilen, daß sein Vater ermordet worden, und ›Leonce und Lena‹ besteht zur Hälfte aus diesen Passagen, die singen und tönen und nie mehr loslassen. Und so ist auch der Anfang der einzigen Novelle, die wir von ihm besitzen: ›Lenz‹. »Den zwanzigsten ging Lenz durchs Gebirg.« Maestoso. Wie Paukenschläge am Anfang einer großen Symphonie.

Ist dies das Forte, so gibt es zwei Pianostellen: die zwei Gedichte. Die – denn außer unerheblichen Jugendgedichten sind sie die einzigen. Eins im›Wozzek‹, eins in ›Leonce und Lena‹. Das zweite pianissimo, das erste von einer so zerrissenen, fürchterlichen Verzweiflung, daß es sich lohnt, nur dieses schrecklichen Wiegenliedes wegen das Stück zu lesen. Wie das aufhört:

Lauter kühle Wein muß es sein, juchhe!
Lauter kühle Wein muß es sein!

Mit dem Ton auf ›lauter‹ – und wem sich bei dem ›Juchhe‹ das Herz nicht zusammenkrampft, der ist kein Mensch.

Hundert Jahre – man sollte meinen, er würde nun auf den Schulen gelesen. Als Klassiker. Ach nein! Die Familie, der er angehört, hat nie großes Glück gehabt bis auf den heutigen Tag: der junge Schiller wird auf eben den Schulen nur wegen seiner körperlichen Identität mit dem alten geduldet, Panizza ist unbekannt im Irrenhaus gestorben – wir [121] werden ihm nächstens einen Kranz aufs Grab legen, nicht wahr? – und Wedekind . . . Nun, man weiß ja, warum der ›zieht‹.

Lieber S. J., sagen Sie doch den Theaterdirektoren, sie möchten Georg Büchner aufführen. Hundert Jahre sind eine lange Zeit, und wenn einer so lange gewartet hat, dann will er sich im Grab auch einmal auf die andre Seite drehen. Gewiß: »Ein guter Mensch, der sein gutes Gewissen hat, tut alles langsam«, sagt der Hauptmann zu Wozzek. Ein gutes Gewissen haben doch die Theaterleute, und nun ists Zeit.


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TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1913. Büchner. Büchner. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-6BA2-7