Was wäre, wenn . . . ?
Schiller: ›Kassandra‹
. . . Und wenn alles vorbei sein wird: die rauschenden Durchzüge der Truppen mit Militärmusik, die Schüsse, das Geschrei, die wild hochgehenden Preise, die Gerede-Republiken an den Ecken, die so bald und so blutig zerstreut wurden, wenn sogar die Börse wieder funktioniert und die ersten Zeitungen scheu und zensurverängstigt aus der Ecke kriechen – dann werden sich die Leute ansehen und überlegen: Was ist denn vorgegangen?
Angefangen hatte es . . . Ja, angefangen hatte es eigentlich gar nicht. Man las in den Zeitungen täglich von großen Demonstrationen der Monarchisten – aber weil das Polizeipräsidium und ›alle in Frage kommenden Dienststellen‹ übereinstimmend erklärt hatten, damit habe es nichts auf sich, beruhigte man sich bald wieder und fuhr friedlich in die Sommerfrische. (Wie damals vor der großen Zeit, als Klio die Reisenden auf dem Stettiner Bahnhof überfiel . . . ) In den heißen Strandburgen lasen Herr Müller und Herr Meier von den Versammlungen am Johannistag – Ludendorff hatte in Kaub die Republik verhöhnt, in Berlin hetzte Wulle, die Polizei stand Gewehr bei Fuß, und niemand in der Republik wagte einzuschreiten. Hatte sie gar keine Beamte, auf die sie sich verlassen konnte? Der Seewind ließ knisternd Sand in die sonnenbeschienenen Zeitungspapiere rinnen – da lagen sie, und niemand bekümmerte sich darum. In Borkum besprengten die Hunde die schwarz-rot-goldene Flagge – die Republik schwieg. Und dann kamen [201] die meisten nach Hause zurück, weil es Mitte August war und die Kinder wieder in die Schule mußten – und dann . . .
Ja, sie waren einfach eines Nachts da. Woher sie kamen und wie und warum, und wer das vor allem war, der da die Straßen füllte und eine Menge Leute aus den Betten holte – »Sofort öffnen! Oder wir schlagen die Tür ein!« –: das wußte man alles gar nicht. Man wußte nur eines: Sie waren da.
Der graue Regenmorgen war so verhängt wie alle berliner Fenster. Die Straßen brütend still. Keine Bahn, kein Wagen, nichts. Nur die Schritte vieler Fußgänger trappten auf den Trottoirs. Im Zentrum der Stadt alles abgesperrt – die freien Straßen schwarz von Menschen. Es brauste von Gerüchten. Vieles war übertrieben. Aber so viel hatte man doch bald heraus:
Die neue Regierung hatte sich in aller Stille in Bayern konstituiert. München war sofort ab- und umgefallen. Ostpreußen hatte mit der Abtrennung gedroht und so alle Beamten auf seine Seite gebracht. Vom flachen Land lauteten die Nachrichten verschieden. Die Truppensammlungen hatten zu ›Manöverzwecken‹ stattgefunden, die höhern Offiziere der Schutzpolizei hatten sich ›zur Verfügung‹ gestellt – und die Regierung? Der Regierung war es nicht gut gegangen.
Die Automobilstraßen hatte man dieses Mal sorgfältig abgesperrt: so konnte sie nicht wieder – wie damals beim Kapp-Putsch – nach Dresden verreisen. Ein Minister war erschossen worden; wie es hieß, bedauerte das die Regierung – schon aus dem Grunde, weil sie ihnen allen den Prozeß machen wollte. Sie saßen sämtlich hinter Schloß und Riegel.
Die Menge summte. Und sah sich in Berlin um.
Ganze Viertel hatten Schwarz-Weiß-Rot geflaggt.
Kleine Kolonnen gingen umher und verlangten stürmisch die Entfernung der Accents aigus von dem Wort ›Café‹ – seufzend stiegen die Cafétiers auf die Leitern, die sie schon im Jahre 1914 zu gleichem Zweck angesetzt hatten . . . Konsumenten-Stimme: Gottes Stimme.
Es wimmelte von Uniformen. Bunte Friedensuniformen und feldgraue Kriegsuniformen und ganz veraltete Zoll- und Gendarmerie-Uniformen – und alle Herren mit schleppendem Säbel und blitzendem Monokel und einem weithin strahlenden Blick: »Jetzt sind wir dran!« Besonders in den westlichen Vororten tauchten viele Männer im Stahlhelm auf – sie trugen eine Binde am Arm und gehörten den verschiedensten ›Wehren‹ an. Sie forderten Ausweise ab, schnauzten, kommandierten und waren ständig von einem Rudel bewundernder Straßenjungen umschwärmt, denen ihr martialisches Aussehen mächtig imponierte. Und alle, alle hatten eine Waffe. Es war ganz merkwürdig, woher auf einmal nur alle diese Gewehre und Revolver und Pistolen gekommen waren.
[202] Ohne Blutvergießen war es nicht abgegangen. Man hatte in Berlin insgesamt 124, nach andern Nachrichten 154, radikale Führer erschossen, ohne Verhör, ohne Verfahren, ›standrechtlich‹, wie es hieß – offenbar nach vorher angefertigten schwarzen Listen. Die Leichen der Erschossenen wurden gefleddert, die Wohnungen der Opfer waren verwüstet, ausgeraubt, dann versiegelt worden – die Angehörigen befanden sich sämtlich in Haft. Straßenkämpfe hatte es an zwei Stellen gegeben – einen im Norden und einen im Osten (der mit Barrikaden). Beide Male waren die tapfern, aber überraschten Arbeiter von den Maschinengewehren hingemäht worden. Darunter auch Frauen.
Vom Bürgertum wurde keine gewaltsame Gegenwehr versucht.
Das Leben hatte sich schon nach fünf Tagen merkwürdig verwandelt. Der alte preußische Kasernenhofton griff verheerend um sich. In den Amtszimmern, in den Betrieben, in den Büros der Kaufleute – überall behandelte der Vorgesetzte seinen Untergebenen wieder wie weiland der Reserve-Offizier seinen Putzer. Tausend und aber Tausend wilhelminischer Kriegsabzeichen glänzten auf fadenscheinigen Röcken, die Schnurrbärte waren streng nach oben gebürstet. Und alle, alle sagten es: »Gottseidank! Das hört jetzt auf! Jetzt kommt hier ein andrer Zug in die Bude!« Und er kam. Mit der Aufhebung des Achtstundentages und des Betriebsräte-Gesetzes begann es – und in einer völligen Veränderung des allgemeinen Verkehrstones sickerte die Wandlung nach unten in die Regionen des täglichen Lebens. Das Land war ein einziger Kasernenhof. Bakunin hatte den Ausdruck für das geprägt, was jetzt begann: L'empire Knouto-Germanique.
Nur auf den Gerichten ging der alte Betrieb weiter – das waren die einzigen, die sich nicht erst umzustellen brauchten. Sie waren richtig.
Das Telefon war völlig gesperrt und nur Dienstgesprächen zugänglich, Viele Leute waren unauffindbar. Demokratische Führer öffneten nicht, wenn man an ihre Türe pochte. Nun waren sie vor denen weggelaufen, die sie so oft in Presse und Parlament verteidigt hatten.
Die Zeitungen erschienen wieder. Langsam, ganz langsam ebbte die ungeheure Aufregung ab. Und man erfuhr:
Der Rektor der Universität Berlin hatte in einer zündenden Ansprache die neue Regierung willkommen geheißen, und die alldeutschen Verbände der Studentenschaft, die schon unter der Republik an den Tafeln der Vorhalle ›Für Kaiser und Reich!‹ annonciert hatten, schienen jauchzend zugestimmt zu haben. Hier zeigte sich, wie gut und sorgfältig man vorgearbeitet hatte: fast alle Studenten waren bewaffnet bis an den Stehkragen.
Selbstverständlich war Ludendorff mit von der Partie. Zwei Tage hatte er sich vorsichtig im Hintergrund gehalten – als er die Stabilität des neuen Unternehmens sah, trat er offiziell, in voller Kriegsbemalung, hervor.
[203] Die Presse drückte sich äußerst zaghaft aus. Die Zeitungsunternehmer hatten in einer gemeinsamen Konferenz ihrem Wunsch Ausdruck gegeben, nach dem ersten Schock der Unterbrechung vor allem wieder zu erscheinen – ›die Presse sei gerade in dieser harten Zeit notwendig wie das liebe Brot‹. Sie wurden alle unter Vorzensur gestellt. Und erschienen. Und spiegelten ihre Zeit. Und so sahen sie auch aus.
Die Rechtspresse jubelte ungehemmt. Sie, die vorher von nichts gewußt hatte, die alle Warner und Propheten verhöhnt hatte, ›sie hätten vielleicht den Hitzschlag‹ – sie floß über die Ränder vor Freude. Las man ihre Artikel, so mußte man glauben, Deutschland sei vier Jahre hindurch von blindwütigen Bolschewiken regiert worden und käme nun endlich wieder an die einzige rechtmäßige Gewalt. Spaltenlang berichteten die nationalen Blätter im alten Hofstil von Ordensverleihungen, Empfängen und würdevollen Ausfahrten, Die Bevölkerung sei, mit Ausnahme der Häftlinge, vollständig auf Seiten der neuen Regierung. ›Auch unter den Arbeitern dämmerte es.‹ Es ging zu wie im Krieg.
Die Presse war notwendig wie das liebe Brot. Das liebe Brot kostete in den ersten Tagen der Aufregung 48 Mark – aber das hatte sich bald gelegt, als die Wulle-Garden vier jüdische Bäcker aufgehängt hatten. Von da ankaufte man – mit einer Handgranate – bei den Juden umsonst; bei den andern kostete das Brot mit Genehmigung der Behörden 50 Mark.
Der Boden der gegebenen Tatsachen war überfüllt. Sie standen alle darauf. Sie paßten sich an. Sie arbeiteten am Wiederaufbau des Vaterlandes. Holzbock beschrieb die Schnurrbärte der neuen Regierungsmänner und verwechselte in der Aufregung noch mehr Fremdwörter als sonst. Andre alte Frauen trugen die Regiments-Abzeichen ihrer Söhne als Broschen, was ihnen ein wikingisches Aussehen verlieh. Die Kinos gaben den hundertfünfundsiebzigsten Teil von ›Fridericus Rex‹ und machten damit – wie so oft im menschlichen Leben – ein gewaltiges Geschäft. Bejahrte apoplektische Männer sah man durch die Straßen stapfen – sie sangen Lieder von Theodor Körner, dem bekannten christlichen Lissauer, und fühlten sich trotzdem ganz gesund.
Die Haltung der Entente war zweifelhaft. England schien das Unternehmen aus einer gewissen Rivalität gegen Frankreich sanft unterstützt, zum mindesten stillschweigend geduldet zu haben – nachweisbar war das natürlich nicht. Aber da waren so gewisse Anzeichen . . .
Und bevor wir nun sehen werden, wie sich diese neue Gesellschaft von Revanche-Schreiern aus der Affäre ziehen wird – denn nun heißt es doch: cash down! –; während wir jetzt alle warten, was die Entente antworten, und ob sie mit den Neuen genau so zusammengehen wird wie mit Horthy-Ungarn; während wir hier sitzen, wollen wir noch einmal überlegen:
[204] Wie war das möglich?
Das war möglich, weil die Republik vier Jahre hindurch geschlafen hatte. Das war möglich, weil man sich darauf verlassen hatte, daß ein großer Teil des Bürgertums und fast die gesamte Arbeiterschaft gut republikanisch sei – was ja auch stimmte. Aber man hatte nichts, nicht das Geringste getan, um diese Leute zu unterstützen. Warnten sie, so hatte man abgewiegelt. Zeigten sie mit dem Finger auf ein Malheur, etwa auf den Reichswehrminister, oder auf die Polizei, auf das platte Land, auf die noch immer fortbestehenden Verbände – so hatte man überlegen gelächelt. Vor lauter feiner Taktik kam die Wilhelmstraße zu gar nichts. Gewiß gab es Republikaner. Aber sie waren dazu da, um in Landtagsreden erwähnt zu werden, wo man ihnen – ›unsre treffliche Arbeiterschaft!‹ – die Rolle zuwies, die Karre aus dem Dreck zu ziehn, wenns schief gegangen wäre. Gewiß gab es Republikaner. Wurde einer von ihnen ermordet, so entging der Mörder der Verfolgung, und wurde er gefaßt, so sprachen ihn die Richter frei. Der Reichswehrminister duldete nicht nur die monarchistischen Treibereien unter seinen Leuten, sondern er förderte sie, indem er unaufhaltsam mahnte, nur ja die ›Traditionen‹ des kaiserlichen Heeres nicht zu vergessen. Er hatte nie verstanden, was die neue Zeit eigentlich von ihm wollte. Einem Hochverräter und alten Soldatenschinder gab er das Kommando eines Kreuzers. ›Parteigezänk ausschalten‹ – das hieß für ihn: stramm militaristisch, monarchistisch und altpreußisch denken. Papa war Wachtmeister gewesen – es lag im Blut. So war er, so waren seine Offiziere. Und die Republik schlief.
Im November 1918 hatte sie geschlafen, nach dem Kapp-Putsch hatte sie geschlafen – sie hatte immer geschlafen. Und immer den Apparat über die Sache gestellt. Und nichts dazu gelernt.
In der Polizei hatte es von staatsfeindlichen Offizieren nur so gewimmelt – aber das ging in keinen dieser Köpfe, daß ein Monarchist auch einmal die Rolle des Staatsfeindes spielen könnte. Angestammt und rechtmäßig war ihnen nur der Nationalist. Man hatte sogar zugegeben, daß ein großer Teil der Polizeioffiziere monarchistisch sei – man male sich das Umgekehrte für die Kaiserzeit aus! Es war so weit gekommen, daß der Regierung eingestandenermaßen keine zuverlässigen Polizeioffiziere für politische Aufgaben diffiziler Natur zur Verfügung standen – es wurde alles verraten, bevor es zur Ausführung gelangen konnte. Die Waffenträger hatten sich, wie so oft, selbständig gemacht. Und bis zu allerletzt hatte die Regierung beschwichtigt: »Auf keinen Fall aber könne man behaupten, daß die Dinge schon so weit gediehen seien.« Schon so weit . . . Und so hatten sie die Republik verwaltet.
Die Republikaner selbst waren untereinander uneinig. Bei der großen Demonstration ›Nie wieder Krieg!‹ hatten die Sozialdemokraten ihre [205] Mitwirkung versagt, weil irgendwelche Parteibonzen Kompetenzschwierigkeiten entdeckt hatten. Und die waren schließlich wichtiger als die Sache. Die Sache der Republik.
Dahinter stand wie eine graue Mauer der farblose Teil des Bürgertums, Kaufleute, die keine andre Sorge kannten als eine Unterbrechung ihrer Geschäftstätigkeit. »Die 54 geht nicht? Unglaublich!« Das war ihre Anschauung der politischen Lage, Zu feige, etwas zu unternehmen, zu feige, sich jemals herauszustellen und immer nur in der Angst vor Pogromen oder Zwangsbeschlagnahmungen auf dem Kurfürstendamm, umgeben von frech scharwenzelnden Arbeitnehmern, die das Äußerste aus ihren Herren herausschlugen, ohne jemals etwas Prinzipielles zu verlangen – so lebten sie dahin und kümmerten sich den Teufel um Republik oder Monarchie. Ob ihre Kinder die Wehrpflicht wiederbekämen oder nicht (»Bei meinen Beziehungen!«); ob die Schulen den schlimmsten Preußen ausgeliefert wurden; ob auf den Polizeiwachen geprügelt wurde: sie lebten in einer andern, glatt geschmierten, schnellern Welt. Und stierten nach der Burgstraße.
So war es gekommen. Und so war es abgelaufen. Als sich die Blutwelle gelegt hatte, machte man Bilanz: Es fehlten so ziemlich alle, die etwas Radikales gewirkt hatten – im ganzen 2060. Ihre Gräber waren fast alle unbekannt. Man hatte sie irgendwo verscharrt.
Das Reich atmete schwer. Und wartete auf sein Urteil von draußen. Auf das Urteil der Welt, das nicht zweifelhaft sein konnte. Vorläufig waren jene an der Gewalt, jene, die vier Jahre hindurch im geheimen gerüstet und die ein Mal zu früh losgeschlagen hatten. Das Unternehmertum nahm langsam Fühlung mit den neuen Herren, soweit es sie nicht schon vorher durch ihre Finanzierung genommen hatte. Die Besetzung des Ruhr-Reviers . . . ? Sie war manchem nicht so unangenehm, wie es den Anschein haben mochte. Und die Kapitalisten schalteten schon bei der ersten Annäherung die Extremisten aus und die Wotan-Teutschen und arbeiteten in Gemeinschaft mit einem Nationalliberalismus, der deshalb so gefährlich war, weil er so biegsam sein konnte. Die neue Regierung mit dem Reichsverweser wartete. Ein Kaiser stand im Hintergrund. Im Zentrum grollte es: es war ein protestantischer. Die Bevölkerung lag, in schweren Ketten gefesselt, am Boden.
Und dankte einer Republik, die nichts für sie getan hatte.