Die Rue Mouffetard
Paris, im Juni.
Nun, man soll Paris nicht mehr ›entdecken‹ – ich weiß schon. Aber erstens haben wir zehn Jahre blockiert gelebt (wenn sich seit 1914 die Völker besuchten, so taten sie das meistens mit der Flinte in der [405] Hand . . . ) und zweitens habe ich etwas Merkwürdiges gefunden. Wenn Sie wieder einmal nach Paris kommen – was ich Ihnen von Herzen wünsche –, so versäumen Sie nicht, es sich auch einmal anzusehen.
Da ist also das Panthéon. Eine kalte Sache, vorn mit einem Gitter und vielen zähnefletschenden Amerikanerinnen, die alle nachsehen, ob auch Murray recht hat, ob alles an seinem Platz steht und ob Zola noch da liegt. Und wenn sie das festgestellt haben, dann gehen sie befriedigt wieder ins Hotel. Wie sagt die alte berliner Posse: »Aber sonst hats keenen Zweck –!«
Das Panthéon also lassen Sie liegen, und hinter dem Panthéon, an der Polytechnischen Hochschule, da fängt eine Straße an, die heißt die rue Mouffetard. Und in der können Sie einen kleinen Begriff bekommen, wie Paris einmal gewesen ist.
Es ist eine ziemlich lange, sehr enge und krummgewundene Straße. Kaum, daß einmal ein Wagen durchfährt – alle Menschen gehen auf dem Damm. Und wieviel Menschen! Es wimmelt von Frauen und Männern und Kindern und Katzen. Da wohnen ganz kleine Leute – Handwerker, Kleideraufkäufer, Althändler, Gott weiß, wo sie da alle wohnen. Da gibt es ein Restaurant, in dem bezahlt man zwei Sous, und dann darf man mit einer mitgebrachten Holzgabel auf gut Glück in einem Kessel umherfischen, in dem die noch einmal aufgekochten Abfälle aus den großen Restaurants schmoren . . . Eine Art Eßlotterie. Und obgleich es sehr arme Leute sind, die da wohnen, so wirkt doch nichts eigentlich verkommen – es hat alles seinen Schick und seine Ordnung – da sind Schlächterläden und Obstläden und Milch- und Gewürzhandlungen und Krämereien . . . Und die Hausfrauen kaufen richtig ein.
Welche Häuser! Es sind ein paar alte darunter, auf der Wand von Nr. 9 steht noch eine Inschrift aus dem 17. Jahrhundert – tief in einem Hausflur liegen ein paar alte Grabsteine . . . und Höfe können Sie da sehen! Bringt sie der Film, so sagt man: »Herr Maler, Sie müssen nicht übertreiben, so etwas hat es wohl einmal gegeben, aber das existiert nicht mehr!« – Doch, das gibt es noch.
Höfe, die nur eine Art Lichtschacht sind, mit Wäschestücken, an Stricken aufgehängt, mit Gebälk und Latten und verrostetem Eisen und nassen, schlüpfrigen Wänden, mit Kindern und Katzen, Katzen und Kindern. Die Menschen schlafen da in den unwahrscheinlichsten Verschlägen – was sehr romantisch aussieht, wenn man nur vorbeigeht und nicht selbst da schlafen muß – und, übrigens, von Apachen gibt es nichts zu sehen. (Das ist auch so eine Unsitte der Durchreisenden, daß sie gleich auf dem Bahnhof diese vier Dinge haben wollen: Apachen, Mongmarta, Muhläng Rusch und eine Mätresse. Auf dem Bahnhof.)
Viele Häuser sind sehr alt – und was vor allem diese Straße so anziehend [406] macht, das ist ihr fast südliches, bewegtes und ganz und gar ungezwungenes Straßenleben, wie man es sonst hier eigentlich nicht überall sieht. Das Ganze wirkt schon ein kleines bißchen ›interessant‹ – nicht etwa, daß sich die Leute so vorkämen, die bewegen sich wie immer, bummeln da entlang, handeln, feilschen, arbeiten und schwatzen . . . Nein, aber wenn man aus der Straße herauskommt – oben bei der Kirche St. Medard, wo sich einstmals die jansenistischen Verzückten in hysterischen Gebeten wälzten – wenn man da oben herauskommt, dann sieht man die Avenue des Gobelins herunter, und da ist wieder das normale Ansichtskarten-Paris, mit den breiten Straßen, bäumebepflanzt, den elektrischen Bahnen . . . Und man guckt sich erstaunt um, wo man denn eben gewesen ist. Da ist noch der enge Eingang zur rue Mouffetard, und hier ist alles freigelegt, hier sind moderne Häuser mit Radio-Antennen drauf . . . Was war das –?
Was das war –? Ein Stück altes Paris.