Jemand besucht etwas mit seinem Kind

»Der Bauer hat gesagt: Erst rechts und dann links bis zu dem halbhohen Haus und dann immer gradeaus . . . Warte mal . . . Hier ist die Bürgermeisterei . . . da ist . . . das war früher nicht . . . das hat hier nie gestanden . . . Ah, hier ist die Chaussee. Jetzt weiß ich weiter.

Also, paß auf, mein Junge, da drüben lagen wir: von dem kleinen Berg an bis ungefähr hierher. Nein, es hat sich mächtig verändert – das war hier alles nicht. Na, gar nichts war – gar nichts. Hier lagen wir, dann kam eine ganze Weile nichts, das war das Niemandsland – das gehörte keinem . . . und dann kamen die Deutschen. Da drüben lagen sie – der Horchposten lag hier, nein, warte mal, da – ja, grade da, wo jetzt der Teich ist. Ihr Graben fing da an. Jetzt erkenne ich alles wieder. Immer vier Tage hier vorn, dann drei Tage Ruhe hinten. Na, Ruhe . . . Und dann der Urlaub, da wurdest du geboren – und dann wieder her. Nein, die Bauern waren alle fort – es waren nur die Soldaten hier. Wir hatten aneinander vollkommen genug. Komm mal ein Stück weiter nach vorn, vielleicht kann ich dir da etwas zeigen. Bist du müde? Wir waren auch müde, manchmal. Ja, nachts auch, du Dummerchen. Grade nachts. Meinst du, da hats aufgehört? Na – man konnte schon sehen: sie haben Raketen angezündet. Ja – viele. Viele sind totgeschossen. Siehst du, da oben, die schwarzen Kreuze? Das ist der Soldatenfriedhof, da liegen sie, da liegen sie alle . . . Siehst du, über dieses Feld hier muß der Graben gelaufen sein, grade hier. Und da! da, wo der Baum steht, da lagen die andern. Dazwischen? Dazwischen war das leere Feld. Fünfmal sind wir da gelaufen, fünf Angriffe haben wir gemacht . . . und sie sind auch darüber hingelaufen, die Deutschen . . . immer ist alles so geblieben, wie es war. Da drüben, aber natürlich – genau an der Stelle – da war der Offiziersunterstand, von da kamen immer nachts die Krankenträger, [58] und hier waren die größten Einschläge. Und da, gerade da, wo ich jetzt den kleinen Stein hinwerfe, da war die Sache mit Blanchard.

Besinnst du dich auf sein Bild? Es steht bei Vater auf dem Schreibtisch. Ja, der Mann mit dem großen Bart und dem ulkigen Stock. Das war Blanchard. Junge, wenn du den gekannt hättest – so einen gab es nicht mehr. Klug und anständig und so ein Freund! So ein guter Freund wie dein Freund René. Der Blanchard – guten Tag, Madamchen, na, immer noch so rüstig auf den Beinen? Ja, sehr heiß! – der Blanchard, der lag da auf Horchposten. Das ist ein Posten, der muß horchen, wann die Feinde kommen. Und da kam ein Schrapnell geflogen, und ein Eisenstück maß ihn grade in den Bauch getroffen haben. Das war nachts um zwölf. Junge, halt doch meinen Finger nicht so fest, es tut dir ja hier keiner was! Und da hat er geschrien, drei Nächte und zwei Tage hat er noch gelebt. Nach mir hat er immer gerufen, nach mir und nach seiner Mutter. Die Stimme wurde immer leiser. Zuletzt hat er nur noch ganz leise mit seinem Verbandsfetzen gewinkt – ganz wenig Wir konnten ihn nicht holen. Niemand durfte heraus – es wäre der sichere Tod gewesen. Damals waren die Deutschen grade furchtbar erbittert, ich glaube, sie hatten eine Schlacht verloren. Und da mußten wir ihn liegen lassen, den Blanchard, die ganze Zeit über. Ich wollte auf ihn schießen – damit er nicht so zu leiden brauchte. Aber es ging nicht, er lag in einer Mulde, und ich konnte auch nicht. Er hat so geschrien, daß sie aus dem Nebengraben zu uns gekommen sind, weil sie wissen wollten, was es da gäbe. Hier war das. Da hinten ist unser Feldwebel gefallen, da war der große Einschlag, bei dem zwei Korporalschaften draufgegangen sind . . . da ungefähr muß ich gestanden haben. Nein, nein! Das ist nur in deinen Lesebüchern so. Du mußt nicht glauben, was in deinen Geschichtsbüchern steht – es ist alles nicht wahr. Dies hier – das ist wahr, Junge . . . «

»Was hast du, Papa? Warum sagst du nichts mehr? Nimm doch die Hand von den Augen –! Papa –!«


Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1925. Jemand besucht etwas mit seinem Kind. Jemand besucht etwas mit seinem Kind. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-6D15-8