Im Tunnel
Im Tunnel küßten sich früher die Hochzeitspaare, das ist schon so lange her, und jene Geschichte (»Adolf! Es küßt – bist du das?«) ist kaum noch wahr. Die Romantik des ius primarum noctium ist glücklicherweise dahin. Aber etwas anderes gibts im Tunnel.
Vor Stockholm ist ein langer Eisenbahntunnel. Und den bin ich neulich durchbraust, und vorher hatte ich mir meine neue Dunhill-Pfeife angesteckt, die mir Musch in einem Anfall von Größenwahn geschenkt hat, oben auf dem schwarzen Lauf trägt sie jenen kleinen weißen Perlmuttfleck, der da sagt: Hier raucht ein feiner Mann. Gut. Der feine Mann raucht eine Mischung aus französischem Scaferlati Levant und deutschem nikotinfreiem Tabak, das Ganze schmeckt etwa wie getrockneter Schafdung. Raucht also und fährt in den Tunnel ein. Ist die Pfeife ausgegangen? Seit wann geht eine Dunhill aus, wenn ein feiner Mann sie raucht? Schließlich kann ich nicht mit dem Finger in den Tabak fahren . . . ich wills mal probieren . . . das ist heiß! Die Pfeife brennt. Ich schmecke nichts.
[103] Tunnel aus; heraus ans Licht; da liegt Stockholm und der Hafen und die bekannten Gebäude . . . die Pfeife brennt. Warum habe ich nichts geschmeckt?
Und dann fährt der Zug nachmittags wieder zurück, aufs Land, und schon bevor er abfährt, stecke ich die Pfeife an und qualme wie ein alter Seemannsmaat, und dann kommt der Tunnel . . . (ich kann noch nicht so schön auf schwedisch fluchen, es ist irgend etwas mit »Ta mig fan!«) – ich schmecke wieder nichts. Und als wir ans Tageslicht kommen, brennt die Pfeife. Dies hat mich zu wunderbaren Versuchen geführt. Resultat:
Man schmeckt im Dunkel weder die Qualität eines Tabaks noch spürt man überhaupt, ob man raucht oder nicht! Schrei nicht, wart ab: du spürst es nicht, wenn du keinen Lungenzug machst und wenn du den Rauch nicht durch die Nase gehen läßt. Probiers.
Daß du aber im Dunkel die Qualität des Tabaks nicht spürst, den du rauchst, das ist einmal ganz sicher. Da haben sie jüngst in Amerika – wo auch sonst! – solche Versuche angestellt, und es hat sich ergeben, daß die abgefeimtesten Raucher eine Zwei-Cent-Zigarre nicht von einer Importe unterscheiden konnten, keiner konnte es. Sie schnüffelten und pusteten und rauchten . . . aber sie rieten allemal daneben. Denn sie sahen die Zigarre nicht, sie tasteten sie nicht vorher zärtlich mit den Augen ab, sie konnten nicht an ihr riechen, nicht die Farbe des Deckblatts sehen – und da war es auf einmal aus. Das ist ein sehr tiefsinniger Versuch.
Man hat ja ähnliches mit den Weinen probiert, wobei denn einmal einem alten Küfer aus der Bourgogne Wasser vorgesetzt wurde; er erklärte tiefbeleidigt, das kenne er nicht; und es gibt auch Leute, die mit verbundenen Augen am Geräusch eines Motors die Fabrikmarke erkennen können – worauf wieder ein pariser Chansonnier erzählt hat, man habe, um den zu prüfenden Ingenieur zu täuschen, an einer Wasserspülung gezogen, und er habe sofort ausgerufen: »Ça – c'est un Citroën!« – »was«, wie der Chansonnier hinzufügte – »nicht fein war – für die Wasserspülung.« Aber die Geschichte mit dem Rauchen hat mich doch tief beunruhigt.
Ist es also nur der alte schöne Satz: »Keine Qualität – nur Ausstattung«? Liegts nur an der Verpackung?
In Deutschland arten ja solche Fragen gleich in wilde Kämpfe mit den betreffenden Interessenten aus – aber die Sache liegt viel tiefer. Bedarf es vielleicht, um einen vollständigen Sinneneindruck zu haben, nicht nur der, sagen wir, eindimensionalen Funktion eines Sinnes – benötigen wir vielmehr eine Raumwirkung der Sinne? Müssen sich also zwei oder drei Sinneswahrnehmungen in die Höhe und Breite erstrecken, damit ein vollendetes Gebilde zustandekommt? Das ist eine Frage an die Experimental-Psychologen – Gott segne ihre Versuchsreihen.
[104] Um aber auf die Hochzeitsreisenden zurückzukommen:
Kann man auch im Dunkel küssen? Spürt man dann, ob man überhaupt küßt? Und was die Qualität angeht – – es ist gar nicht so einfach im menschlichen Leben.