[288] Dämmerung

Es konnte die Augen aufschlagen: wie ein richtiger Mensch. Es konnte lange Sätze sprechen und die Arme hin- und herschlenkern: wie ein richtiger Mensch. Es konnte sich an- und ausziehen, laufen, springen, tanzen und Kricket spielen, Whisky trinken und Zeitungen lesen: alles wie ein richtiger Mensch.


Diese Zeit hat etwas durchaus Gespensterhaftes. Die Leute gehen täglich ihren Geschäften nach, machen Verordnungen und durchbrechen sie, halten Feste ab und tanzen, heiraten und lesen Bücher –: aber es ist alles nicht wahr.

Was man so gemeinhin Kunst und Kultur nennt: sie sind nicht möglich ohne gemeinsame Voraussetzungen. Die sind nicht mehr da. Die Grundfesten wanken. Es ist durchaus nicht allen gemeinsam und selbstverständlich, daß das Vaterland das Höchste ist, woran sich anzuschließen Pflicht und Gewinn sei – sondern das ist sehr bestritten. Es ist durchaus nicht allen gemeinsam, daß die Familie der Endpunkt der Entwicklung und etwas Selbstverständliches sei – das ist sehr bestritten. Es ist durchaus nicht selbstverständlich, daß der Kapitalismus notwendig oder gar nutzbringend sei – das ist sehr bestritten. Sie reden verschiedene Sprachen, die babylonischen Menschen, und sie verstehen einander nicht. Sie sprechen aneinander vorbei, und sie haben weniger gemeinsam denn je.

Seltsam, dieses Bürgertum. (Und in Deutschland sind alle Bürger.) Seltsam dieses starre Festhalten an Formen, die leer sind, an Dingen, die es eigentlich nicht mehr gibt. Vorbei, vorbei – fühlt ihr das nicht?

Berühmtheiten, die kaum welche sind – denn es dämmert eine Zeit herauf, die das nicht mehr anerkennt; Feste, die keine sind – denn es rumort in der Tiefe, und der Boden schwankt leise; Geschäfte, die zwar immer noch nach einem alten ›Recht‹ abgeschlossen werden – aber die Vorstellungen von diesem Recht lösen sich auf, lösen sich langsam auf wie Kristalle im Wasser und zergehen zu nichts. Wohin führt das alles –?

Wir versuchen, dem gänzlich Neuen mit den alten Mitteln, den alten Witzchen beizukommen. Und werden seiner nicht Herr. Es verfängt alles nicht: Humor nicht, Satire nicht; offener Kampf, Gewalt, Propaganda – die Pfeile fallen matt zu Boden, Wohin führt das alles –?

Wir wissen es nicht. Töricht, sich dagegen zu sträuben. Töricht, die Zerfallssymptome zu leugnen. Eine Welt wankt, und ihr haltet an den alten Vorstellungen fest und wollt euch einreden, sie seien so nötig [288] und natürlich wie die Sonne. Empfinden nur wir in den großen Städten das stärker als andre? Haben wir zu wenig Distanz? Leuchtet hier, in den Brennpunkten des Hohlspiegels, alles stärker auf? Richtig mag sein, daß die Provinz das alles noch nicht fühlt – daß dort noch die Leute über uns und unsern scheinbaren Übereifer lächeln und vermeinen, das gute Alte sei noch nicht tot und werde eines Tages wiederkommen. Es kommt nie wieder, und der erste August 1914 hat nur beschleunigt, was sowieso schon im Rollen war. In leisem Rollen – und nun stürzt es.

Spaßmacher besingen die neue und die alte Zeit; in bürgerlichen Zeitschriften untersucht einer ganz ernsthaft, ob die Exposition in dem neuen Roman des Schriftstellers W. ganz geglückt sei; Theater spielen in viele Akte zerdehnte Aphorismen, die wir ohnehin gewußt haben; Schemen wanken auf der Erde einher – und es ist alles nicht wahr. Der Sinn des Lebens ist in Frage gestellt, und ich glaube fest daran, daß diese grauenvolle Krankheit auch kräftigere Länder als dieses arme Deutschland anfressen wird.

Was es ist, weiß ich nicht. Ich glaube auch nicht, daß die russischen Theoretiker es ganz genau wissen – sie sind sicherlich mehr Werkzeug als Inspiratoren, Werkzeug, wie Luther ein Werkzeug war. Ist es die geknebelte Menschenseele, die nicht mehr Maschine einer Maschine sein will – ist es das Aufbegehren, der Aufschrei der Mutter selbst? Ich weiß es nicht. Ich fühle nur dumpf, daß da etwas herankriecht, das uns alle zu vernichten droht. Uns: das ist unser altes Leben, das sind die grünen Inseln, die wir uns im Strom des lächerlich lauten Getriebes noch zu bauen verstanden haben – uns: das ist unsre alte Welt, an der wir – trotz allem – so gehangen haben. Wohin treiben wir?

Horcht hin, und ihr hört einen neuen Herzschlag der Zeit. Ich wundre mich jeden Tag, daß noch die Zeitungen erscheinen, daß die Leute ernsthaft über Bilder disputieren, über Musik sich ereifern. Ist das noch wahr? Gibts das noch?

Ein tiefes Erschrecken ist jäh durch alle gegangen, und sie hangen an viel mehr als nur am Geld, wenn sie in blinder Wut die Bolschewisten bekämpfen und bespeien. Es geht um viel mehr als um den Bolschewismus, der ein dummes Schlagwort geworden ist, dazu da, daß sich jeder nationalistische dumme Junge den Mund dran verbrenne. Fest steht und treu . . . Aber ihr wankt, leugnet nicht. Ihr wankt.

Kultur und Kunst sind ihre verschlungenen Pfade so oft gegangen, daß die Bahnen ausgeschliffen sind – wir legen sie mit einem Ruck zurück. Die Alten haben, nach dem schönen Satz: »Der Weg ist das Ziel«, freiwillig der Form geopfert, und sie haben weise daran getan. Wir tun es nicht mehr. Wir brauchen die fünf Akte eines Dramas nicht mehr, nicht mehr die feierlichen Formen des Rechts und der verschleierten [289] Egoismen. Wir wissen zu viel, haben zu tief in den Menschen hineingesehen und entblößen ihn fast ganz. Der Materialismus ist eine platte und öde Sache – in der Hand eines Geistigen ist er eine gefährliche Waffe. Lange Reden und dicke Bücher schaffen es nicht mehr; ungeduldig steht etwas an dem großen Tor und klopft und klopft. Und es wird ihm wohl eines Tages aufgetan werden müssen . . .

Manche verkriechen sich. Nicht nur die Feigen – auch die Feinen und die Stillen. Sie wollen nicht mehr mittun. Aber es wird mit ihnen etwas getan; es reißt sie immer wieder hinein; es hilft gar nichts, Scheuklappen anzutun. Armselig versagt selbst die aus dem Alten herübergenommene Sprache mit den alten Floskeln, mit den schwerfälligen Bildern, mit den Ornamenten einer alten Zeit. Nichts stimmt mehr, kraftlos fallen die alten Worte herunter, weil sie am Neuen keinen Halt mehr haben. Mit keinem Scherz, keinem Witzwort, keiner Weisheit triffst du in diese Höhen.

Das bürgerliche Zeitalter ist dahin. Was jetzt kommt, weiß niemand. Manche ahnen es dumpf und werden verlacht. Die Massen ahnen es dumpf, können sich nicht ausdrücken und werden – noch – unterjocht. Was sich da träge gegeneinanderschiebt, gereizt sich anknurrt und tobend aufeinander losschlägt –: im tiefsten ist es der unüberbrückbare Gegensatz zwischen Alt und Neu, zwischen dem, was war, und dem, was sein wird. Das sind Worte: Bolschewismus und Preußentum, Revolution und Konsistenz – gemeint ist die Angst vor dem Neuen, das keiner kennt.

Was wissen wir von der Zeit? Wir stehen davor wie der Wanderer vor der roten Felswand, viel zu nah, um ihre Struktur, geschweige denn ihre Schönheit zu sehen! Was wissen wir von unserer Zeit? Wir sind ihre Instrumente, und ich glaube, daßder noch ihr bestes ist, der sich ihr nicht entgegenstemmt.

Eine Welle flutet über die Erde. Sie ist nicht rein ökonomischer Natur, es geht nicht nur ums Fressen und Saufen und Verdienen. Es handelt sich nicht nur um die Frage, wie man die wirtschaftlichen Güter der Welt verteilen wird, wer arbeiten und wer ausnutzen soll. Es geht um mehr, um alles.

Es scheint wieder eine der Perioden gekommen zu sein, wo ganz von vorn angefangen werden wird, wo wieder der Mensch auf der Scholle steht und Gräser, Tiere und sich selbst mit grenzenlosem Erstaunen betrachtet. Und die Hände ausstreckt und nichts wissen will als von einem ausgestirnten Himmel und von seiner eignen Macht. Erwachen sie aus dem dumpfen Traum von Bräuchen und Kulturen?

Daß uns das die Kunst kosten wird, nebenbei. Daß wir die ›ewigen Werte‹ draufgeben müssen, sei erwähnt. Urtriebe bestehen – aber die [290] Modalitäten ihrer Auswirkung sind keinen immer gültigen Gesetzen unterworfen. Wohin treiben wir?

Die Form ist angefressen, an vielen Stellen gesprengt, hinfällig und unnütz. Der Inhalt fiktiv wie des Königs Kleider. Man muß an ihn glauben, wenn man ihn sehen will.

Wohin treiben wir? Wir lenken schon lange nicht mehr, führen nicht, bestimmen nicht. Ein Lügner, wers glaubt. Schemen und Gespenster wanken um uns herum – taste sie nicht an: sie geben nach, zerfallen, sinken um. Es dämmert, und wir wissen nicht, was das ist: eine Abenddämmerung oder eine Morgendämmerung.


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TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1920. Dämmerung. Dämmerung. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-6E5A-8